Glossen 27

Jan Faktor
Meine ganz privaten Ansichten zu Prag 1968

Für mich persönlich ist das Jahr 1968 – wie für viele andere auch – eine emotional stark besetzte Angelegenheit. Und deswegen macht es bis heute oft keinen großen Sinn, mit anderen, genauso übermotivierten Zeitgenossen theoretisch oder irgendwie abgehoben über die Ereignisse dieses Jahres diskutieren zu wollen. Viele Beteiligte von damals leben immer noch in ihrer ruhm­reich(er)en Vergangenheit und verteidigen im Grunde nur ihre damaligen Hochgefühle, statt sich mit der Fragwürdigkeit ihrer Argumente zu beschäftigen. Man kann sich also, wenn man das braucht, leicht in einer Nostalgie-Runde zusammenfinden und visionäres Schwärmen von Frühlingen, die noch kommen werden, zu hören bekommen. Konkret bei den Tschechen sieht es aber ein bißchen anders aus: Da die meisten von dieser politischen „Verirrung“ nichts mehr wissen wollen bzw. „sowieso damals schon Bescheid wußten“, hört man von ihnen normalerweise eher wütende Angriffe und durch gewisse Standards geprägte Reden vom „Prager kommunistischen Putsch“.

Noch etwas vorab: Wie die meisten Tschechen denke ich bei der Jahreszahl 68 im Grunde nur an die Ereignisse in der ?SSR und am Rande höchstens vielleicht noch an die Barrikadenkämpfe in Paris. Das, was in Deutschland geschah, war uns dagegen ideologisch viel zu fremd und unverständlich. Aber trotz alledem – ich kann mich heutzutage hier in Deutschland mit denen, die sich mit der damaligen Geschichte mit einer gewissen Distanz beschäftigen und über einige Dinge auch etwas lachen können, ganz gut unterhalten. Und mein Vorteil ist dabei, daß die Deutschen (besonders die Ostdeutschen) alles andere als ignorant waren und die Prager Ereignisse genau verfolgt haben.

Historisch ist das tschechische Jahr 1968 ein abgeschlossenes Kapitel und von heute aus relativ leicht – trotzdem für mich, wie gesagt, nicht ganz emotionslos – zu beschreiben. Mein etwas flottes Fazit: Der ganze politische Aufbruch beruhte zwar auf einer großen Illusion, es war aber eine ausgesprochen schöne Zeit, also eine sehr schöne Illusion. Und daher war dieses Aufbäumen nicht völlig sinnlos – auch wenn der darauffolgende geistige Kahlschlag brutal war und bis heute nachhaltig zu spüren ist.

In den letzten dreißig Jahren hatte man Zeit genug, diese acht Monate des Prager Frühlings in sich gründlich reifen zu lassen. Man merkt es den Involvierten oft aber wirklich nicht an. Das Kontroverse und teilweise auch Irrationale bei den verschiedenen Diskussionen zum großen Jubiläum hat aber auch etwas Gutes – es zeigt sich, daß die ganze Sache noch nicht zur reinen Geschichte zusammengeschrumpft ist; daß sie also noch emotional lebendig ist – oder zumindest mit den aktuellen politischen Haltungen einigermaßen stark verknüpft. Man muß den heutigen Diskutanten auf jeden Fall vorsichtig zuhören und an die aufkommenden Disharmonien auch psychologisch herangehen. Jeder müßte oder sollte auf jeden Fall erst einmal erzählen, was für ihn die Ereignisse dieses Jahres bedeuteten, wie er sonst noch politisch geprägt war, wie er auf den und nach dem Einmarsch reagierte, wo er heute politisch steht usw. Erst dann sollte man sich erzählen lassen, was derjenige zum Prager Jahr 1968 sagen möchte. Vieles wäre dann klarer und vielleicht auch akzeptabler.

Jemanden wie Jaroslav Šabata – der damals einer der Berater von Dubçek im Zentralkomitee war –, der dann bis 1989 insgesamt 9 Jahre im Gefängnis saß, sollte man bei Veranstaltungen ruhig ausreden lassen, obwohl er leider – was die Zeitökonomie angeht – absolut keine Rücksichten nimmt; man hat bei ihm das starke Gefühl, daß er zum Teil nur noch in der Geschichte, in seiner 68er Geschichte lebt ...

Ich war im Jahre 1968 siebzehn und wurde durch meine Mutter, die als Journalistin in der Auslandsabteilung von Literární noviny beschäftigt war, politisch gründlich geschult. Der Vorgesetzte meiner Muttter war Antonín Liehm [1]. Bei uns zu Hause wurde dauernd über politische Dinge diskutiert, und ich habe von Kindheit an alle aktuellen Ereignisse intensiv verfolgt und einiges auch wirklich von ganz nah mitbekommen. Natürlich schon im Jahre 1967, weil meine Mutter nach dem berühmten „konterrevolutionären“ Schriftstellerkongreß und der darauf folgenden Auflösung der Zeitung des Schriftstellerverbandes – eben ihrer Zeitung – die Arbeit verlor. Der Januar 1968 bedeutete dann für sie und uns nicht nur einen politischen Neuanfang, sondern für sie eine völlig unerwartete – oder unerwartet schnelle – Wiederauferstehung der kompletten Redaktion von Literární noviny, die von nun an Literární listy hieß. Das Redaktionsgebäude am Moldauer Ufer in der Nähe von Café Slavia war ein wichtiger Treffpunkt von Intellektuellen, die für diese Wochenzeitung regelmäßig Beiträge schrieben; diese Zeitung war im Grunde die intellektuelle Brutstätte des politischen Erneuerungsprozesses in der ?SSR. Weil viele dieser Intellektuellen meine Mutter auch privat gut kannten, habe ich viele dieser Protagonisten des Prager Frühlings auch persönlich gut gekannt – Eduard Goldstücker [2], Ludvík Vaculík [3], Ivan Klíma[4], Ji?í Gr?ša[5], Antonín Liehm (wie gesagt) und andere.

Natürlich war ich ein Kind aus einer durch den Krieg geprägten Familie. Meine Eltern wurden – genauso wie auch viele andere tschechische Intellektuelle – nach 1945 zu überzeugten Kommunisten, und sie waren stolz darauf, seit 1946 in der Partei gewesen und nicht erst nach der Machtergreifung 1948 eingetreten zu sein. Ich habe das Jahr 1968 also aus dieser sozialistischen, reformfreudig eingestellten Perspektive mitbekommen, in der jetzt natürlich die zugeschütteten Hoffnungen endlich in Erfüllung gehen sollten. Die Fragwürdigkeit dieses „Neuanfangs“ hat damals aber zum Beispiel ein Kind aus einer katholischen Familie oder aus der Familie eines Handwerkers, dem sein noch so kleines Gewerbe in den 50er Jahren ersatzlos abgenommen wurde, viel schärfer und sofort sehen können. Etwas an Blindheit oder selektiver Wahrnehmung gehörte in den Kreisen, in die ich Einblick hatte, eben dazu. Zum Glück war ein gewisser, teilweise sogar ziemlich starker Verfall der Dogmen bei uns zu Hause schon seit langem im Gange.

Meine erste Erinnerung an politische Ereignisse datiere ich in das Jahr 1956. Ich war fünf Jahre alt und habe eine ganz intensive Erinnerung an meine völlig aufgelöste Mutter, die nur halb angezogen (es war wahrscheinlich morgens) und mit wirrem Haar und weit aufgerissenen Augen unseren langen Flur lang lief und schrie: „Die Russen sind in Budapest, die Russen!, Budapest!, Panzer ...!“. Dann weiß ich noch, daß man versuchte, mir den Grund des allgemeinen Entsetzens zu erklären – und daß ich es nicht ganz verstand; oder besser gesagt – nichts fühlen konnte. Als ich meine Mutter vor einigen Jahren fragte, ab wann sie Probleme mit ihrer Sozialismusgläubigkeit bekam, war es eben das Jahr 1956 – und nicht, wie ich dachte, die Zeit der liberaleren Jahre in der ?SSR ab 1963.

Wir hatten zu Hause nie einen Fernseher, dafür saß man bei uns dauernd an irgendeinem Radio und hörte nichtheimische Nachrichten, politische (aber auch kulturelle) Sendungen – und weil die zweite Verkehrssprache bei uns zu Hause Deutsch war, wurden neben Voice of America und Radio Freies Europa einige deutsche Sender empfangen: Österreich Eins aus Wien (damals der kultivierteste Sender von allen, wie meine Oma sagte) oder Deutschlandfunk aus Köln; hier mochte man besonders die witzig-sarkastischen Kommentare über die Presse der DDR. Aber warum erzähle ich das alles: Ich möchte damit deutlich machen, daß ich in einer politisch ausgesprochen aufgewühlten Atmosphäre aufwuchs und daß für mich das Jahr 1968 dann natürlich etwas ganz Besonderes sein mußte. Ich wurde also nicht aus einem ahnungslosen Dämmerzustand erweckt oder von etwas Ungeheuerem überrascht. Der Frühling 1968 war – Verliebtheiten und andere aufregende Dinge gab es gleichzeitig auch noch – wunderbar. Die Angstfreiheit bei den Diskussionen im Stadtzentrum, das Ende der Phrasen in den Medien, die Explosion der schöpferischen Kräfte in der Kultur war überall spürbar – in den Theatern, auf der Karlsbrücke oder bei irgendwelchen Rockkonzerten. Das alles werde ich nie vergessen. Diese Eindrücke waren so stark, daß ich mich heute nicht darüber wundern kann, warum für uns damals – wie schon angesprochen – die Ereignisse in Frankreich oder Deutschland eine so geringe Rolle gespielt haben. Alles war einmalig berauschend – gleichzeitig war man aber auch furchtbar kurzsichtig und naiv; zum Glück hatte ich – sage ich mir jetzt – mit siebzehn sogar mehr Recht dazu als die vielen auch berauschten Erwachsenen. Die Eindrücke aus diesen acht Monaten hielten mich dann noch sehr lange gefangen – so daß ich vielleicht erst zehn Jahre später rigoros und endgültig über das politische Experiment von damals urteilen konnte. Die Erinnerung an das Gefühl, was eine angstfreie, offene Gesellschaft sein kann, blieb in mir aber ganz wach.

Nach dem allmählichen Beschneiden aller möglichen Freiheiten in der Übergangszeit zwischen dem Einmarsch der Russen und der Dubçek-Ablösung im April 1969 (angewandt wurde die sogenannte Salami-Taktik) begann dann die schleimig-bedrückende „Normalisierung“. Und diese war für mich letzten Endes viel prägender (weil auch wesentlich länger) als alles andere davor – und vor allem viel wichtiger für das Erfassen der Wirklichkeit des im Ostblock herrschenden Systems. Es waren die Jahre des Zerfalls der einigermaßen zivilen Gesellschaft­, die Zeit der totalen Desillusionierung. Die Enttäuschung über das massenhafte Umknicken vieler Leute war riesig. Für mich waren diese Jahre auch eine Art lebendige politische Dauerschulung.

Im Sommer 1969 nutzte ich noch die wunderbar problemlose Reisefreiheit und verbrachte den Großteil der Ferien in England – und nahm am 21. August an der großen Protestdemonstration in der Bayswater Road teil, wo sich am Rande von Kensington Gardens die ?SSR-Botschaft befand. Wütend demonstriert wurde damals auch in Prag selbst – und natürlich auch massiv geknüppelt und zurückgeschlagen. Ein Jahr später – also 1970 – war ich im Sommer in Prag – und weil ich damals mit einem kleinen Bäckerlaster Brötchen ausfuhr und um drei Uhr früh aufstehen mußte, überlegte ich mir meine eigene kleine nächtliche Demonstration; in diesem Jahr wurde mit größeren Aktionen nämlich nicht mehr gerechnet. Die meisten hatten innerlich längst kapituliert; und es gab berechtigte Gründe, Angst vor sofortigen Verhaftungen zu haben. Ich stand an dem Tag also eine Stunde früher auf als sonst, und ausgerüstet mit weißer Ölfarbe und einem schmalen Pinsel schrieb ich in meinem Stadtviertel an mehreren Ecken großformatig und wegen des kleinen Pinsels relativ langsam die zwei Ziffern, die für mich alles ausdrückten: 21, 21, 21. Mit dem Bäckerauto unterwegs war ich einigermaßen unauffällig, meine Hände waren nach kurzer Zeit aber voll stinkender, nicht abwaschbarer Farbe – und zum Schluß sah ich schon jemanden die verlassene Dejvická-Straße in meine Richtung rennen; und zwar von dort, wo die ersten 21er zu sehen waren. Ich bin also – so schnell wie es mit dem alten Auto mit  nichtsynchronisientem Getriebe nur ging – geflüchtet; d.h. zur Arbeit gefahren, wo ich mit Benzin das Lenkrad und mir auch die verklebten Hände waschen konnte.

Auf dem Rückweg von der ersten der vier Touren, die ich am Tag zu fahren hatte, bin ich langsam an den von mir bemalten Ecken vorbeigefahren – und war bitter enttäuscht: Schon um diese Zeit (etwa zwischen fünf und sechs Uhr früh) war alles mit grauer Farbe überpinselt. Fast niemand hatte also etwas von meinem Protest mitbekommen; und höchstwahrscheinlich wurden meine 21er wirklich sofort nach meinem frühmorgendlichen Überraschungseinsatz entdeckt. Zu Hause erzählte ich meiner ängstlichen Familie über mein Risikounterfangen natürlich gar nichts und wartete abends ungeduldig auf die Nachrichten aus dem Ausland. Die Bilanz des Tages war aber beschämend: nirgendwo (und es war erst das Jahr 1970 !) gab es nennenswerte Proteste; und ich hatte nach den Nachrichten das Gefühl wie schon in der Nacht: allein oder – besser gesagt – ziemlich isoliert zu sein.

Wer heute im Zusammenhang mit 1968 von einem „Kommunistischen Putsch“ spricht, verfälscht die Geschichte. Reformiert wurde damals alles – und überall und freiwillig; nicht nur von oben nach unten. Und gerade das Spontane, Nicht-Gesteuerte, ohne Gewaltanwendung Nicht-zu-Bremsende war die Bedrohung, die die Russen als unannehmbar empfinden mußten. Die Zensurbehörde löste sich zum Beispiel durch eine interne Abstimmung ohne Rücksicht auf die Arbeitsplätze der Mitarbeiter selbst auf; unter dem Namen „Der Klub der engagierten Nicht-Parteimitglieder“ formierte sich die erste, den Sozialismus nicht bejahende Partei; die Armee reformierte sich und wollte perspektivisch raus aus dem Warschauer Pakt; die Staatssicherheit wollte weniger die eigenen Landsleute bespitzeln und sich mehr der Außenspionage zuwenden ... und jeden Tag gab es etwas Neues, der Prozeß war im Grunde nicht zu stoppen. Über die Reformen bei der Staatssicherheit wußte ich etwas aus erster Hand von meinem Vater, der bei uns zwar seit meinem zweiten Lebensjahr nicht mehr lebte, zu dem ich aber regelmäßig Kontakt hatte. An ihm konnte ich außerdem beobachten, wie persönliche Schicksalsschläge die politischen Meinungen eines Menschen fast über Nacht ändern können. Mein Vater war als Stasi-Major offenbar eifrig dabei (Genaueres erzählen durfte er natürlich nicht), als seine Behörde 1968 reformiert wurde, war aber immer noch ein ziemlich strammer Genosse und soweit konservativ, daß wir uns im Laufe der ersten acht Monate von 1968 mehrmals stritten. Er wurde dann aber irgendwann 1969 als Reformer (aber vielleicht spielte als zusätzlicher Grund oder Vorwand das Trinken schon eine Rolle) aus der Behörde entfernt und fing dann an, nicht nur wirklich exzessiv zu trinken, sondern auch furchtbar zu schimpfen. Er ging dabei so weit, daß es selbst mir damals schon zu viel wurde – plötzlich waren „alle Kommunisten Verbrecher“ und so ähnlich ...  Er starb dann bald.

Unmittelbar nach dem Einmarsch waren die Tschechen relativ lange – jedenfalls noch einige lange Monate – die heimlichen Sieger. Und man merkte erst nach und nach, daß man doch verlor und daß die Fronten anders verliefen, als man dachte; bzw. sich ständig zu Ungunsten derer verschoben, die sich nicht arrangieren wollten. Die liberaleren Verhältnisse überlebten den Einmarsch in manchen Bereichen aber sogar noch bis zu ein, zwei Jahren; das hing z.B. damit zusammen, daß man nicht sofort alle auf einmal von ihren Arbeitsstellen entfernen konnte bzw. daß diejenigen, die blieben, erst nach und nach eingeschüchtert werden konnten. Ich wurde 1969 von eindeutig nicht ganz linientreuen Armeeärzten wegen einer Nichtigkeit von der Armee befreit und 1970 ohne jeglichen politischen Druck zum politisch neutralen Studium (Datenverarbeitung) angenommen. Der Druck steigerte sich dann aber sehr schnell, Säuberungen und politische Überprüfungen kamen ab 1970 voll in Gang. Die Atmosphäre an der Hochschule in Prag und auch in der gesamten Gesellschaft wurde für mich so unerträglich, daß ich nach drei Semestern das Studium freiwillig schmiß und aus der „goldenen Stadt“ wegging – und zwar so weit und so hoch wie nur möglich: in die Slowakische Hohe Tatra. Prag war damals furchtbar bedrückend, der kulturelle Zerfall demoralisierend. Seit dieser Zeit konnte ich nicht mehr hören, wenn mir Leute in der DDR von meiner „schönen“ Stadt vorschwärmten oder mich fragten, wieso ich denn nur aus Prag nach Ostberlin ziehen konnte. Es war für mich aber eine große Erleichterung und Befreiung, in der zweiten Hälfte der 70er zu meiner Frau nach Berlin gehen zu können. Ich mußte mir den gesellschaftlichen Verfall, das Absacken des kulturellen Niveaus nicht jeden Tag ansehen. Von der DDR erwartete ich nichts Besonderes. Und Ostberlin galt eben sowieso als häßlich, und das war gut so – die Stadt täuschte nichts anderes, besonderes vor. Aber was ich nicht wußte – in Ostberlin wartete auf mich etwas sehr Erfrischendes, wovon ich gar keine Ahnung hatte. Es hat bei meiner Entscheidung, die ?SSR zu verlassen, zwar keine Rolle gespielt, bedeutete für mich letzten Endes aber einen großen Zugewinn: Es gab dort eine nichtkonforme Künstlerszene, die sich Freiheiten herausnahm, die in Prag damals undenkbar waren. Und zum Glück waren diese Freiheiten nicht nur auf die Kreise um einige besonders aktive Spitzel beschränkt.

Die Atmosphäre von 1968 wirkt in mir bis heute unter anderem aus dem Grund nach, weil der Kontrast zu der Grundstimmung der nächsten zwei Jahrzehnte für mich in Prag immer zu spüren war; und ich konnte über den Prager Frühling – wie gesagt – lange nicht ganz böse sein, nicht genug Kritisches über dieses sogenannte „Experiment der kommunistischen Eliten“ vorbringen, egal wie stark es der Zeitgeist forderte. Auch heute ist mir zum Beispiel bei wütenden Tiraden junger radikaler Katholiken, die keine Gnade gelten lassen wollen und ehemalige Oppositionelle verachten, nur weil sie irgendwann Genossen waren, nicht ganz wohl. Meiner Meinung nach war viel mehr als das, was damals in die Wege geleitet oder realisiert wurde, überhaupt nicht möglich; die Gratwanderung, diese „Kunst des Möglichen“ haben die führenden politischen Köpfe von damals schon beherrscht, einigermaßen professionell Politik gemacht und den Weg allen anderen, die etwas anderes wollten, zugleich auch freigemacht. Eine viel radikalere Politik wäre damals nicht realisierbar, wäre im Hinblick auf die Russen – die ausgerechnet Dub?ek leider immer noch allzu innig liebte – nicht durchzusetzen gewesen. Und zu irgendeiner Art Sozialismus gab es erst einmal ohnehin keine Alternativen, was der folgende Spruch von damals ganz gut ausdrückt: „Wem eigentlich könnte oder sollte man die ganzen Fabriken von heute auf morgen überhaupt übergeben?“ Alle anderen grundsätzlichen Veränderungen – wirtschaftliche und politische – hätte die Entwicklung nach und nach sowieso mit sich gebracht; auch das Ende der progressiven Teile der kommunistischen Elite.

Wenn man sich vor Augen führt, was diese kommunistische Partei – eine der skrupellosesten im Ostblock – in ihrer kurzen Geschichte schon alles verbrochen hatte, hat natürlich die damalige Einheit zwischen Partei und Volk, diese eigenartige kurze Verschmelzungsphase – jetzt mit Abstand gesehen – auch etwas Irres, Seltsames. Trotzdem sind die meisten der nachträglichen radikalen Angriffe gegen die 68er Reformer ziemlich ungerecht – und sie beruhen meist nur auf nachträglicher Besserwisserei. Und nicht zu vergessen: Die meisten der Protagonisten von 1968 haben nach dem Einmarsch ihr Engagement teuer bezahlt.

 

1. Liehm emigrierte 1969 nach Frankreich und gründete dort 1984 die renommierte Zeitschrift Lettre Inter­na­tio­nal.

2. Germanist, in den 50er Jahren inhaftiert. Initiator der berühmten Kafka-Konferenz im Jahre 1963; im Jahre 1968 Vorsitzender des Schriftstellerverbandes.

3. Schriftsteller und Journalist. Nach seinem mutigen Auftritt auf dem Schriftstellerkongreß 1967 avancierte er zu einer der bekanntesten Persönlichkeiten des Landes. Im Frühjahr 1968 publizierte er das politisch hochbrisante „Manifest der 2000 Worte“. Ab 1972 gab er die erste literarische Untergrundedition „Petlice“ („Schloß&Riegel“) heraus.

4. Engagierter Journalist und Schriftsteller; mehrere seiner Romane wurden inzwischen ins Deutsche übersetzt.

5. Dichter und Literatur-Redakteur, 1981 ausgebürgert. Nach 1989 der erste Botschafter der Tschechoslowakei in der Bundesrepublik.