Glossen 27

Richard Wagner

Der Traum von Woodstock -- 68 und die Rockmusik in Ostmitteleuropa

Eine Ballade der rumänischen Rockband „Phoenix“ von 1968 erzählt die Geschichte eines Kanarienvogels, der singend seinem Käfig zu entfliehen versucht. „Armer Kanarienvogel“, heißt es im Text, „dir schien, der Horizont habe sich dir geöffnet. /Es war aber nur ein Traum“.

Der Pate der internationalen Dimension des Phänomens 68 war nicht der politische Aufbruch, wie uns Deutschlands Alt-Revoluzzer bis heute weismachen wollen, sondern die Musik. Es ging ursprünglich ums „Feeling“, nicht um die Parole. Das Feeling hat zwar die Parole begünstigt, aber diese war hausgemacht. Französisch. Deutsch. Italienisch. Jeweils in den Fangnetzen des Nationalen und dessen Idiosynkrasien gefangen. Antiwestlich. Antikapitalistisch. Antiisraelisch.

Dagegen stand die Musik. Sie war Ausdruck eines Lebensgefühls, und dieses Lebensgefühl war grenzüberschreitend. Die deutschen Studenten fanden den Weg nach Prag nicht, weil sie irrigerweise vermuteten, dass die Route in die Goldene Stadt über Hanoi verlaufe. Sie hatten den falschen Reiseführer, den Anti-Globetrotter, Herausgeber Mao. Nach Prag fand dafür die Musik. Die Musik, die aus Amerika kam. Jimi Hendrix. Janis Joplin. Die Doors. 68 war ursprünglich amerikanisch. Die Musik machte es amerikanisch.

 

Freiheit und Musik

In Ostmitteleuropa war 68 amerikanisch. Und damit Ausdruck des Willens zur Freiheit, den der Stalinismus nicht brechen konnte. Hier war man ideologisch frei genug, um die Joplin zu hören. Summertime. Rauf und runter. Und plötzlich hatte man den Rhythmus im Ohr, der die staatlichen Reglementierungen aushebelte. Man brauchte dazu keine Ideologie. Mit dem Blues überwand man den dialektischen Materialismus mühelos.

Hinter dem Eisernen Vorhang hatte man das Ohr am Radio und sehnte sich nach den Konzerten. Nach dem Erlebnis der Freiheit, nicht nach dem Mao-Büchlein. Da die Wege zu den Konzerten versperrt waren und von Woodstock nur zu träumen war, suchte man sich in jenen Jahren durch Imitation selbst zu helfen. Zahllos sind die Bands, die um 68 herum in Ostmitteleuropa entstanden. Omega in Ungarn, Czeslaw Niemens Gruppe in Polen. Sie wurden gegen den Widerstand des Apparats gegründet, aber auch oft genug mit der Komplizenschaft von Jugendfunktionären, die über dieses Thema einen Kulturkampf mit der eigenen Partei-Gerontokratie führten.

68 fiel in Ostmitteleuropa mit einem Generations-und Paradigmenwechsel zusammen. Es galt, nach dem Terror des Stalinismus, über gesellschaftliche Lockerungen und Konsumangebote Identifikationsmöglichkeiten zu schaffen. An die Stelle der Gewalt sollte die Manipulation treten. Das war der Plan, der zur Verewigung des Kommunismus, aber auch, als angenehmer Nebeneffekt, zum Machterhalt der Nomenklatura beitragen sollte. Das Problem, das die verbeamteten Putschisten hatten, war, dass auch nach zwei Jahrzehnten, niemand den Kommunismus wirklich brauchte, außer der Nomenklatura selbst.

Das aber war schlecht. Konnte man sich doch vom Westen nicht mehr so abschotten wie in den fünfziger Jahren. Dieses erlaubte weder die Stimmung in der Bevölkerung, noch, und das war wohl ausschlaggebend, die eigene wirtschaftliche Misere. Zwei Jahrzehnte Planwirtschaft und Preisaushöhlung ließen nur eine Lösung zu: Die Kooperation mit dem Westen. Ideologisch wurde die Verrenkung „friedliche Koexistenz“ genannt.

Die Reformen, die man sich zur Machterhaltung ausgedacht hatte, schwächten das System. Man kann eine geschlossene Gesellschaft nicht partiell öffnen. Ein Polizeistaat lebt davon, dass die Bevölkerung die Polizei fürchtet. So war der in Prag ausgerufene „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ letzten Endes die Quadratur des Kreises. Er konnte gar nichts anderes sein. Wir aber, die damals im Ostblock jung waren, griffen jede Chance auf, die man uns bot. Wir wollten frei sein, und wenn die ganz große Freiheit, die amerikanische, nicht zu haben war, dann nahmen wir eben die kleine, die tschechische. So konnte der Reformkommunist Dubcek zum Symbol werden.

 

Zehntausend Schritte

Es ging nicht um das, was Dubcek eventuell wirklich wollte, sondern um das, was wir, die Jungen, daraus machen konnten. Um Musik, vorerst. Die 68er Jahre brachten in den ostmitteleuropäischen Ländern Kultbands hervor, deren Ausstrahlung über lange Jahre wirkte. Ob nun Niemen mit seinem Protestsong „Verrückt ist diese Welt“ oder Omega mit dem „Perlenhaarmädchen“. Sie waren die Botschafter des Willens zur Freiheit. Mit ihren Songs wurde im Sozialismus zum ersten Mal eine Gegenkultur etabliert. Künstlerische und emanzipatorische Werte eroberten sich über die Konzerthalle den Zugang zur reglementierten Öffentlichkeit.

Ähnliche Entwicklungen gab es zwar auch in der Literatur, im Theater und im Film, aber sie wurden im Zug der „Normalisierung“ der siebziger Jahre, mit der Verschärfung von Kontrolle und Repression, bald abgewürgt. Die Rockmusik lebte unter den widrigen Umständen viel länger. Selbst wenn ihre Auftrittsmöglichkeiten immer weiter eingeschränkt wurden, wenn es Verbote gab, und die Lieder der Zensur unterworfen waren, es blieb immer noch die charismatische Präsenz der jeweiligen Band. Die Zerschlagung der Prager Musikgruppe „Plastic People Of The Universe“ führte u.a. zur Gründung der Charta 77.

Das Regime der Kommunisten hatte das Potential der Rockmusik sehr wohl erkannt. Man war eher vorsichtig im Umgang mit dem Phänomen, versuchte es sogar zu manipulieren. Meist durch Gegengründungen von offiziellen Rockgruppen. Viele Musiker resignierten, hörten auf oder wanderten aus. Ihre Musik aber wurde privat aufbewahrt, sie war auf den Partys und in den Wohnküchen ein wichtiger Träger des Protests, ein Garant des Weiterlebens der Subversion. Mit den Platten von 68, dank ihrer Multiplikation auf Tonband, kämpfte man sich sozusagen zum großen Protest, zur siegreichen Verweigerung der Unfreiheit im Herbst 89 vor. „Zehntausend Schritte brauchten wir nur“, heißt es 1969 in einem Kultsong von Omega. Im Herbst 89 hat man die zehntausend Schritte hinter sich gebracht.