Glossen 27

Siegmar Faust

1968 und kein Ende?

Um das Jahr 1968 ranken sich mannigfaltige Legenden. Als der westdeutsche Ayatollah vom Starnberger See, Jürgen Habermas, gefragt wurde, was von diesem glorreichen Jahr geblieben sei, antwortete er ironisch: Frau Süssmuth. Da nun auch diese Dame in dieser quirligen Zeit schon wieder vergessen ist, ließe sich aktuell ergänzen: Angela Merkel. Sie verkörpert wohl ebenso den moderaten Feminismus einer sich als christlich ausweisenden Volkspartei, auch wenn man in der DDR, wo sie als Pfarrerstochter und Funktionärin der „Kaderreserve der Partei“ sozialisiert wurde, fast alle Kinder und Jugendliche systematisch religiös entwurzelt hat. Dort konnte freilich auch keine ver­gleichbare Studentenrevolte stattfinden, und mit der Jahreszahl „1968“ erinnert man sich vor allem der Niederschlagung des „Prager Frühlings“.  

Der noch immer nicht ausgeträumte Traum vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ oder von einem „demokratischen Sozialismus“ wird unterdessen nicht nur in der neuen Einheits­partei „Die Linke“ oder in den Führungsetagen der SPD gesamtdeutsch weitergepflegt, sondern auch an vielen Universitäten Europas und in den meisten Redaktionen der Massenmedien.

Die Chiffre „1968“ bezeichnet durchaus eine Weltrevolution. Das Gespenst des Kommu­nismus schlüpfte zwar erst in Europa aus der Flasche, doch der Impuls der antibürgerlichen Hippie-Rebellion ging mit „Flower-Power“ von der Westküste der Vereinigten Staaten aus und wollte sich im Pariser Mai gar wieder zu einer neuen Französischen Revolution entladen, bevor sich das marxistische Phantom als „Wertewandel“ oder „Kulturrevolution“ in allen entwickelten Industrie-Gesellschaf­ten bis hin nach Japan einnistete. Hier lässt sich nahtlos eine Einschätzung des Philo­sophen Günter Rohrmoser anfügen, der im Bezug auf die Ausbreitung des Faschismus im 20. Jahrhundert erkannte: „Wer ist denn das wahrhaft revolutionäre Subjekt gewesen? Nicht Marxens Proletariat, sondern Nietzsches Jugend.“ Von ihr versprach sich Friedrich Nietzsche schließlich Rettung durch die Ablösung von der vorgegeben bürgerlichen Kultur, die als verlogen und kraftlos erkannt war. „Alle Jugendbewegungen“, so Rohrmoser, „auch die nationalsozialistischen, traten mit dem Ziel an, das bürgerliche Leben zu überwinden. Rückblickend muss man sagen, dass sie damit eigentlich mehr Unglück als Segen angerichtet haben.“ Was zu beweisen oder wenigs­tens zu beleuchten wäre.

Lange schon vor dem weltweiten Zusammenbruch der sozialistisch-kommunistischen Kernstaaten und dem Einblick in ihre Partei- und Geheimdienst-Archive konnte man mit einem der geistigen Väter der erfolgreichen sozialen Marktwirtschaft, dem ordoliberalen Ökonomen und konservativen Philosophen Wilhelm Röpke (1899-1966), bereits 1950 erkennen: „In der Tat hat der Sozialismus unserem Erdteil Dinge gebracht, die vielen Sozialisten selbst keine rechte Freude machen können: Formulare ohne Ende, Schlangestehen vor Läden und Ämtern, stetige Einengung der Sphäre, in der das geplagte Individuum sich noch ohne behördlichen Schein und Stempel bewegen kann, Übermacht und Übermut der Bürokratie, wachsende politische Intoleranz und rücksichtslose Ausnutzung der Herrschaft durch sozialistische Regierungen, endlose Gesetze und Verordnungen mit ihren Strafen, Verfall des demokratischen Rechtsstaates, Polizei aller Enden, Zwang und Propaganda, Willkür, Korruption.“ (Maß und Mitte, Zürich 1950) Ein Schelm, der hier und heute Gleiches wahrnehmen will.

Vom Prager Frühling zum Prager Fenstersturz

Alexander Dub?ek  wurde im Januar 1968 zum neuen Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei seines Landes gewählt. Er legte daraufhin in Moskau ein Reformprogramm vor, das laut Schluss-Kommuniqué die volle Zustimmung der UdSSR bekam. Als er es dann real umsetzte, stieß er bei den Partnern des Warschauer Paktes auf Ablehnung, allen voran bei Walter Ulbricht. Im April bildete sich eine neue Regierung unter Oldrich Cernik, und sofort wurden Reformprozesse eingeleitet, die das Parteiorgan „Rudé Pravo“ mit den Worten „tschechoslowakischer Weg zum Sozialismus“ zusammenfasste. Die Gesellschaft sollte liberalisiert werden und der Sozialismus ein „menschliches Antlitz“ bekommen. Die Zensur wurde abgeschafft und dem Volk wieder die bürgerliche Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit garantiert. Dub?ek wurde zur weltweit berühmten Symbolfigur des so genannten „Prager Frühlings“. Auf einem Gipfeltreffen im August versuchten die „sozialistischen Bruderländer“ zum letzten Mal, die tschechoslowakischen Genos­sen zur Umkehr zu bewegen. Dub?ek und seine Mitstreiter hielten aber an ih­ren politischen und gesellschaftlichen Reformen fest und genossen die Sympathien der Bevölke­rung. In der Nacht vom 20. zum 21. August okkupierten die Truppen des Warschauer Paktes das Land und beendeten gewaltsam den Prager Frühling. Dub?ek wurde verhaftet und anschließend nach Moskau verschleppt. Dort unterzeichnete er mit dem „Moskauer Protokoll“ die Kapitulationsurkunde des Reformprozesses sowie die erneute Einführung politischer Verhältnisse nach sowjetisch-diktatorischem Vorbild.

Noch war Polen nicht verloren

Auch in Polen brodelte es 1968. Die März-Unruhen bezeichneten eine politische Krise, die mit Studenten-Demonstrationen begann, besonders in Warschau, Danzig und Krakau. Die Aufsässigkeiten wurden durch Einheiten der Miliz und freiwillige Reservisten der Volksarmee niederge­schlagen. Am 30. Januar 1968 kam es zu einer Studentendemonstration vor dem Denkmal Adam Mickiewicz´ gegen die Absetzung des Stücks „Totenfeier“ im Warschauer Volkstheater. Die Vorführungen waren ständig ausverkauft, ständig gab es Szenenbeifall. Nach dem Vorstellungsende wurde skandiert: „Wir wollen Kultur ohne Zensur!" Die Miliz löste die Kundgebung mit Schlagstöcken auf und 35 Demonstranten wurden festgenommen. Zwei Studenten der Universität Warschau wurden zwangsexmatrikuliert, darunter der 1981 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik ausgezeichnete Adam Michnik, da sie nach der Vorstellung mit Reportern der französischen Presse gesprochen hatten.

In den folgenden Monaten organisierte die kommunistische Partei Polens eine beispiellose Hetzkampagne gegen die „Aufrührer und Verräter der Nation“. Die Sündenböcke der Krise in Staat und Partei waren schon Monate zuvor ausgespäht worden: die Überlebenden des Holocaust und deren Nachfahren. Sie wurden als „Zionisten“ verunglimpft, denn sie seien vom Ausland finanzierte Konterrevolutionäre, die bloß polnische Jugendliche den Imperialisten in die Arme treiben wollten. „Arbeiter“ demonstrierten für die „Entfernung aller zionistischen Elemente aus Staat und Partei“. Zehntausende Juden verloren ihre Stellung, einige begingen Selbstmord, knapp 20.000 verließen das Land. Mit der Ausreise verloren die „Zionisten“ automatisch die polnische Staatsbürgerschaft und wurden staatenlos.

Wiener Walzer der modernen Art

Ganz andere Probleme hatte man 1968 in Wien. Dort machte am 7. Juni eine Revolte der besonderen Art von sich reden. Im Hörsaal 1 der Universität Wien fand eine Aktion unter dem Titel „Kunst und Revolution“ vor rund 300 Zuschauern statt und wurde von den Aktionisten Brus, Export, Muehl und Wiener ausgeführt. Die nahezu vollständig versammelten Hauptdarsteller des Wiener Aktionismus brachen dort gleich mehrere Tabus: Nacktheit, das Verrichten der Notdurft, Masturbation, Auspeitschen, Selbstverstümmelung, das Verschmieren der eigenen Exkremente am nackten Körper und das Erbrechen durch Reizung der Speiseröhre – und das alles unter dem Absingen der Nationalhymne auf der ausgebreiteten österreichischen Nationalflagge. Die von anwesenden Journalisten aufgeschreckte Öffentlichkeit prägte lediglich den Begriff „Uni-Ferkelei“.

Moral und Anstand gingen zum Teufel

Ebenso lustig ging es in westdeutschen Kommunen zu. Fritz Teufel (geb. 1943) wurde als West-Berliner Spaß-Revoluzzer während der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre der breiteren Öffentlichkeit bekannt. Mit Dieter Kunzelmann war er einer der Begründer der Kommune 1, die vor allem durch ihre provokanten, gegen die geltenden Gesellschaftsbedingungen gerichteten Aktionen Aufmerksamkeit erregte. Teufel und andere wurden Anfang 1967 festgenommen, als sie beim Tütenwerfen beobachtet wurden. Die Polizei witterte darin ein Attentat auf den damaligen US-Vizepräsidenten Humphrey. Die Blamage war groß, als sich die Wurfgeschosse als Pudding- und Mehlbomben entpuppten („Pudding-Attentat“). Im Juni 1967 wurde Teufel dennoch zum Teufel gejagt, weil er zu härteren Mitteln als Pudding gegriffen hatte, nämlich zu Steinen. Während der Gerichtsverhandlungen fiel er durch witzig-sein-wollendes Verhalten auf. So kam er der Aufforderung des Richters, sich zu erheben, mit der Bemerkung nach: „Wenn's der Wahrheitsfindung dient“. Später bewegte sich Teufel immer mehr in Richtung des bewaffneten Kampfs und der Stadtguerilla. Nur zwei Jahre Gefängnis brachte ihm das Herstellen von Brandsätzen ein, die in einem Münchner Gericht gefunden wurden. In der DDR wäre er nicht unter „lebenslänglich“ weggekommen. Später tauchte er zeitweise in die Illegalität ab. 1982 erregte er noch einmal in einer Fernsehsendung Aufsehen, in der er mit dem damaligen SPD-Bundesfinanzminister Matthöfer über gutes Benehmen diskutieren sollte. Im Gespräch zog er plötzlich eine Pistole und - spritzte zum Glück den Minister nur mit einer Zaubertinte nass.

Hinter solchem Spaß steckt natürlich etwas ernsthaft Gefährliches: Jugendliche Systemüberwinder, die also nicht nur die bürgerliche Gesellschaft samt Kultur, Religion und Lebensweise ablehnen, sind selber Produkte jener von ihnen als krank definierten Gesellschaft, die aber weder sich selber noch die Gesellschaft heilen, sondern ihre Ordnung stürzen oder grundsätzlich verändern wollen.

Thomas Schmid, einer der Protagonisten dieser Bewegung gab rückblickend zu: „Aus dem Übermut wurde schnell Hass, aus dem kritischen Geist Überheblichkeit, aus der republikanischkonstruktiven Gesinnung eine sozialistisch verkleidete destruktive. Wir jungen Leute, die von nichts wirklich eine Ahnung hatten, glaubten ernsthaft, dass diese erste gelungene deutsche Gesellschaft seit Menschengedenken zutiefst marode und dem Untergang geweiht sei. In einer Geste ebenso maßloser wie unbegründeter Selbstgewissheit meinten wir, der Ladenhüter Sozialismus – der längst schon seinen verbrecherischen Charakter unter Beweis gestellt hatte – sei das Heilmittel für die angeblich restaurative, von innen her nicht mehr reformierbare Gesellschaft. Die liberale Tradition, von etlichen aus dem Exil heimgekehrten Hochschullehrern und Intellektuellen verkörpert, wurde brüsk verworfen, und es obsiegte auf rätselhafte Weise eine Rhetorik und ein Denken der Verneinung. Es war darin, vermutlich, eben jene herrische deutsche Tradition der Zerstörung am Werk, in der große Teile der damaligen Elterngeneration standen. In diesem Sinne steht ‚1968’ nicht nur für Bruch, sondern auch für eine schlechte Kontinuität.“ (Die Welt, 30.12.2007: Die 68er – Es gab kein „rotes Jahrzehnt“)

Diese „schlechte Kontinuität“ kam zum Vorschein, sobald sie an die Macht gelangten, dann waren sie keinen Millimeter besser als diejenigen, die sie verdrängt oder beseitigt haben, im Gegenteil. Genau dasselbe sagte der in Simbabwe wirkende Bischof Dieter Scholz über den sozialistischen Autokraten, der dort das Land ruiniert: „Mugabe war damals ein afrikanischer Nationalist, ein Streiter für die Rechte der Schwarzen, heute ist er ein starrsinniger Diktator und keinen Deut besser als sein weißer Vorgänger Ian Smith.“ (Der Spiegel, 1/2008, S. 81)

Marxisten wie Sozialisten aller Farben wollten genau wie die Jugendlichen der 68er Generation die Welt nicht länger annehmen wie sie ist, sondern sie nach ihrer je eigenen Vorstellung errichten, mitunter im wahrsten Sinne des Wortes mit einer dazu grausamen Hinrichtungs- und Diffamierungsmaschinerie, heute auf gut amerikanisch „political correctness“ geheißen.

Goethes „Faust“, der sich von der abendländischen Metaphysik lossagte und ihr die moderne These entgegenhielt: „Am Anfang war die Tat“, erfreute sich am Ende seiner Tage der Vision eines Grabens, der dem Sumpf, der sich am Gebirge hinzieht, abziehen soll, um „Im Innern hier ein paradiesisch Land“ zu schaffen: „Solch ein Gewimmel möchte ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!“ Doch dieses kühne Menschheitsbeglückungs-Projekt wurde von denen, die dafür schuften mussten, ganz anders gesehen: Mephisto drückte Volkes Stimme halblaut so aus: „Man spricht, wie man mir Nachricht gab, / Von keinem Graben, doch vom Grab.“ Das Greisenpaar Philemon und Baucis, alte Tradition verkörpernd, wurde gnadenlos samt Hütte aus dem Weg geräumt und ausgelöscht, während sich der blinde und verblendete Faust am Geklirr der Spaten ergötzte, das den „vielen Millionen“ neue Räume eröffnen sollte, während die Lemuren in Wirklichkeit nur sein Grab schaufelten. Hier dürfte wohl einleuchtend die Geschichte des Nationalsozialismus wie die aller Sozialismen schon vorweggenommen worden sein. Die 68er waren nichts mehr und nichts weniger als ihre willigen Vollstrecker.

Und was geschah 1968 in der einzigen und größten DDR der Welt?

Die angebliche Volksregierung -- das heißt: die SED-Führungsclique von Moskaus Gnaden -- beglückte ihre durch Volkspolizei, Volksarmee und die Volksgenossen von der unsichtbaren Front in Schach gehaltenen Untertanen mit einem neuen Verfassungsentwurf, nachdem die Volkskammer erst im Januar des Jahres einstimmig wie immer ein neues Strafgesetzbuch mit saftiger Strafverschärfung für politische Delikte beschlossen hatte. Das erste Mal durfte das Volk per Volksabstimmung darüber frei, also mit Ja oder Nein abstimmen, und zwar am 6. April 1968. Doch worüber durfte abgestimmt werden? Zunächst einmal wurde die DDR als „sozialistischer Staat deutscher Nation“ definiert, in dem die Führungsrolle der konkurrenzlosen Volkspartei SED auf alle Zeiten festgeschrieben wurde. Außerdem erlaubte der Artikel 27 nur demjenigen seine „Meinung frei und öffentlich zu äußern“, der mit den Grundlagen der volkseigenen Verfassung übereinstimmte. Jede Kritik an der Sowjetunion verbot sich von selber, denn im Artikel 6 stand wörtlich: „Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet.“ Das überbot sogar Hitlers Anmaßung vom „1000-jährigen Reich“. Im Gegensatz zur ersten DDR-Verfassung von 1949 sollte die neue Verfassung jetzt nicht mehr für das ganze Deutschland gelten. Stattdessen war nur noch die Rede von der „Herstellung und Pflege normaler Beziehungen“ und der „Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten“. Eine weitere Regelung der neuen Verfassung war übrigens, dass Volksabstimmungen quasi abgeschafft wurden. Deshalb blieb die Volksabstimmung über die Verfassung von 1968 die erste und einzige dieser Art in der DDR, was nachvollziehbar wird, wenn man weiß, welche Folgen solche Volksabstimmungen mit sich bringen.

Ein paar Studenten der damaligen Leipziger Karl-Marx-Universität um den lebensfrohen und furchtlosen Jürgen Rudolph sowie den christlichen Biologen Christof Tannert verteilten damals in Hausbriefkästen selbstgefertigte Flugblätter, auf denen dezent darauf aufmerksam ge­macht wurde, dass man dieses Mal wirklich abstimmen dürfe. Auf den Flugblättern stand lediglich „Nein oder Ja. Frage an Dein Gewissen!“ Die Stasi brauchte ziemlich lange, den Wahlhelfern aus dem Volke auf die Spur zu kommen, die mittlerweile schon übers Land verteilt im Berufsleben volkseigener Betriebe standen. Doch ab 1971 saßen sie wieder allesamt in Leipzig ein, freilich recht unbequem in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt. Dort wurde diese Art von Wahlhilfe als „psychologisch ausgeklügelte und deshalb besonders raffinierte Form der staatsfeindlichen Hetze“ bewertet.

Als die Wahlkommission schließlich das Ergebnis verkündete, sorgte das für einige Überraschung: Mehr als fünf Prozent der DDR-Bürger hatten gegen die neue Verfassung gestimmt. Das war eine Sensation, wenigstens eine kleine, denn bei anderen Wahlen gab die Sozialisten ungern mehr als ein einziges Prozent Nein-Stimmen zu.

Nach dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der sowjetischen Paktstaaten ins tschechoslowakische „Bruderland“ im August 1968, als der Versuch, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu installieren, gewaltsam unter die Panzerketten kam und sich der Student Jan Pallach auf dem Wenzelplatz aus Protest öffentlich verbrannte, veränderten sich nicht wenige Biografien von bis dahin loyalen und sozialistisch denkenden DDR-Bewohnern. Während Wolf Biermann, der damalige Kritiker des realen und Lobsänger des humanen Sozialismus, in dieser Situation um sein Leben fürchten und sich verstecken musste, hissten seine jüngeren Bewunderer (darunter Funktionärssöhne wie der spätere Schriftsteller Thomas Brasch oder die Söhne des Dissidenten Professor Robert Havemann und Sanda Weigl oder die Liedermacherin Bettina Wegner) in Berlin die tschechoslowakische Flagge und verteilten Flugblätter. Andere schrieben lediglich wie der spätere Kabarettist und Schriftsteller Bernd-Lutz Lange „Dub?ek“ an Häuserwände und wurden ins Gefängnis gesteckt oder zu Spitzeldiensten erpresst. Die Intervention des Warschauer Paktes in der CSSR ist auch für den aus dem Vogtland stammenden Bernd Eisenfeld und seine zahlreichen Geschwister ein Schock gewesen. Er schreibt der tschechoslowakischen Botschaft: „Halten Sie Stand – Behalten Sie Hoffnung. Bernd Eisenfeld“. Auf einer Schreibmaschine stellt er Flugblätter mit provozierenden Lenin-Zitaten her, die er in Halle verteilt. Er wird verhaftet und zu zweieinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Was sonst noch in Sachsen passierte

Im Mai 1968 wurde auf Anordnung von DDR-Staatschef Ulbricht die im Jahre 1240 geweihte Paulinerkirche gesprengt, weil das Gotteshaus, das mehr als 400 Jahre lang als Aula, Begräbnisstätte und Ort akademischer Feierlichkeiten das geistige Zentrum der Universität war, den kommunistischen Banausen ein Dorn im Auge war. Dietrich Koch wurde bei einer Protestansammlung vor der Kirche kurzerhand festgenommen und deshalb von der Deutschen Akademie der Wissenschaften, in der er als Physiker arbeitete, fristlos entlassen. Bald danach entrollten Leipziger Physiker beim Internationalen Bachwettbewerb in der Leipziger Kongresshalle in Anwesenheit hoher DDR-Funktionäre automatisch ein Plakat mit einer Umrisszeichnung der Kirche und der Aufschrift „Wir fordern Wiederaufbau“. Koch hatte dazu, zusammen mit seinem Bruder Eckhard, den Weckerauslösemechanismus gebaut. Nachdem die beiden Initiatoren Welzk und Fritsche spektakulär in den Westen geflohen waren, verhaftete der Staatssicherheitsdienst fast zwei Jahre später mehrere Leipziger, darunter auch Koch. Sie wurden durch einen westdeutschen Linken bei der Stasi d­nunziert. Koch ist der einzige wegen dieses Plakatprotestes Verurteilte und hat in dem dreibändigen Werk „Das Verhör. Zerstörung und Widerstand“ berichtet, mit welchen Methoden die Stasi in einem fast zweijährigen Ermittlungsverfahren diese „Provokation“ aufzuklären versuchte. Die Stasi hatte 1968 im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun. Denn in diesem Jahr weigerten sich zudem Leipziger Medizinstudenten, Blut für Vietnam zu spenden,  was natürlich ihre Strafversetzung in die Produktion bewirkte. Schauspielstudenten erlaubten sich, ein pazifistisches Pamphlet zu verfassen, ausgerechnet in diesem Jahr des verschärften Klassenkampfes, wo die Funken des Klassenfeindes nicht nur aus dem Westen, sondern dieses Mal auch aus dem Osten ins Musterländle des Sozialismus stoben. Dass die männlichen Studierenden gleich zur Armee eingezogen wurden, versteht sich in dieser Lage von selber.

Und dann gab es noch diese „Lyrik-Spinner“, wie die Stasi-Offiziere sie zu nennen pflegten. Da Ulbricht ängstlich erwog, das renommierte Literatur-Institut in Leipzig schließen zu lassen, das sozialistische Diplomschriftsteller unter privilegierten Bedingungen heranzog, wurde dort schon im Frühjahr 1968 eine Säuberungswelle eingeleitet, der fast ein Drittel der Studenten zum Opfer fiel. Aber diese Geschassten und nach freiem Ausdruck suchenden Jungpoeten ließen sich nicht entmutigen, sondern missbrauchten ein volkseigenes Ausflugsboot auf einem Staussee im Süden Leipzigs zu einer unangemeldeten Lyrik-Lesung, darunter Heide Härtl (1943-2002), die 1987 illegal den „bergen-verlag“ als ersten unabhängigen Verlag der DDR gegründet hatte, ihr damaliger Mann, der spätere Uwe-Johnson-Preisträger Gert Neumann, des Weiteren der Lyriker und Erzähler Kristian Pech, der deutsche Dichter und spätere Gebrüder-Grimm-Preisträger Andreas Reimann (der 1968 als erster aus dem Freundeskreis verhaftet und wegen staatsfeindlicher Hetze zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde), Bernd-Lutz Lange (Kabarettist und Autor, der vor allem durch den Aufruf der „Leipziger Sechs“ bekannt wurde, der dazu beitrug, dass die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 mit über 70.000 Teilnehmern friedlich verlief.) oder die Maler Dietrich Gnüchtel und Michael Flade (der ebenfalls übers Gefängnis in den Westen verkauft wurde und sich dort das Leben nahm), sowie der Verfasser dieser Zeilen, der damals als Motorbootfahrergehilfe die Aktion steuerte und mit Zitaten zur Kulturpolitik aus dem neuen Programm der tschechoslowakischen Reformkommunisten die „Riverboatparty“ anheizte.

Doch bald nahmen die Gedichte des Heizers und späteren Büchner-Preisträgers Wolfgang Hilbig (1941-2007) „den größten Raum der Diskussion“ auf dem Boot ein, wie der smarte Dichter, Student, Organist, Organisator und aus Magdeburg stammende Domprediger-Sohn Odwin Quast nachträglich seiner „Firma“ berichtete, für die er bis zum bitteren Ende als inoffizieller Mitarbeiter (IM) tätig war: „Die zahlreichen Gedichte Hilbigs haben fast durchgehend den gleichen Inhalt: das nicht Zurechtkommen in dieser Gesellschaft, das sich ausgestoßen fühlen. Daraus resultieren dann verallgemeinerte Angriffe gegen diesen Staat, seine Gesellschaftsordnung und seine Menschen (...) Ein Grundthema seiner Lyrik ist die Deutschlandproblematik ausgehend von einem imaginären Deutschland, wobei er die tatsächlichen Grenzverhältnisse mutwillig missachtet.“

Im Westen nichts Neues?

Der Führer der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, Dr. Martin Luther King, wird am 4. April 1968 während einer Kundgebung erschossen. Der Zwischenfall löst schwerste Unruhen aus mit 46 Todesopfern. Kurze Zeit darauf wird der Kandidat für die US-Präsidentschaft und Kritiker des Vietnamkrieges Robert Kennedy erschossen. Die US-Präsidentschafts-Wahl gewinnt der Republikaner Richard Nixon. Sein Antipode Leonid Breschnew beansprucht über seinen Außenminister Gromyko vor der UNO-Vollversammlung ein Interventionsrecht der UdSSR in den Ostblock-Staaten, was als „Breschnew-Doktrin“ in die Geschichtsbücher eingeht. Der noch amtierende US-Präsident Johnson ordnet am 1.November die Einstellung der Bombardierung Nordvietnams an. Der Bombenkrieg hat die Amerikaner 911 abgeschossene Flugzeuge gekostet, Nordvietnam über 3000, vom Blutzoll ganz zu schweigen.

Die in Paris wegen versuchter Schließung einer Fakultät ausgelöste „Studentenbewegung“ griff auf andere westeuropäische Länder über, insbesondere auf die deutsche Bundesrepublik. Diejenigen, die gegen den „Muff von 1000 Jahren unter den Talaren“ anrannten, hüpften nun infantil mit Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Geschrei durch die Straßen und streckten die Konterfeis kommunistischer Massenmörder in die Höhe. Für diejenigen, die dabei gewesen sind, ist es noch immer ein Anlass verklärender Rückblicke. Sie sind stolz auf den Umbruch, der für sie ein Aufbruch war, für eine Bewegung von unten, die dann „oben“ durch Willy Brandt aufgenommen wurde mit dem Satz: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Doch Wollen und Wagen kann kein Magen vertragen.

Die gesellschaftliche Sprengkraft der Jugendprotestkultur der späten 60er bis frühen 70er Jahre, deren Insignien, Moden und Symbole allesamt aus den politisch verhassten Vereinigten Staaten von Amerika stammten, lag vor allem darin, glaubten deren Befürworter, dass die politische Diskussions-Imitation mit einer Umwälzung des Lebensstils Hand in Hand ging: Politisches Gewissen, überlagert durch eine Gier nach irrwitzigen Utopien, aber auch Ulk mit Kampfes- und Protestlust vereinten sich in den jungen Leuten zu einem angeblich in diesem Jahrhundert noch nicht da gewesenen Lebensgefühl. Die Wandervogelbewegung wüsste freilich Ähnliches zu erinnern. Sogar vielen Pimpfen der Hitler-Jugend (HJ) oder der so genannten Freien Deutschen Jugend (FDJ), der „Kampfreserve der SED“, müssten solche Aufbruchsstimmungen wohl zeitweise ebenso zugestanden werden. Doch in den Familien des kaum noch vorhandenen Bürgertums mit ihrem hohen Wert- und Moralanspruch an die Erziehung verkehrten sich die moralischen Normen der ersten Wohlstandskinder zu einer deftigen, starrsinnigen und selbstgerechten Kritik an der Elterngeneration und allem Nationalen bis hin zu den Strukturen der Demokratie insgesamt. Eine vaterlose Generation war durch die Folgen des Krieges herangewachsen und nutzte die Schuldgefühle oder Rechtfertigungsversuche der gedemütigten Generation, die „Hitler nicht nur nicht verhindert, sondern sogar gewählt hat“, brutal aus. Eine angeblich fehlende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die besonders von den Kommunisten geschürt wurde, belastete den Generationskonflikt schwer. Insbesondere der von den USA geführte, angeblich nur imperialistischen Zielen folgende Vietnamkrieg bot den Ansatzpunkt zur „Entlarvung“ des von vielen Jugendlichen als unerträglich empfundenen Widerspruchs zwischen märchenhaften Idealen und der zwangsläufig desillusionierenden Realität westlicher Demokratien. Ein Blick über den Tellerrand hinaus in Richtung Osten hätte sie indes schon eines Besseren belehren können. Der daraus entstehende Glaubwürdigkeitsverlust gesellschaftlicher Autoritätsinstanzen, gepaart mit dem kaum hinterfragten elitären Sendungsbewusstsein der Aktivisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), begründet die unbeugsame Starrheit und Intoleranz der nach ihrem eigenen Selbstverständnis angeblich anti­autoritären Studentenbewegung.

Der Rest ist bekannt

So kam es bald zur Aufkündigung des bisher geltenden antitotalitären Bekenntnisses zugunsten eines stalinistischen Antifaschismus und damit zu einer Radikalisierung des linken, aber zwangsläufig auch des rechten Spektrums der Gesellschaft in den sechziger Jahren. Trotz der baldigen Regierungsbeteiligung einer von dem Antikommunisten Kurt Schumacher weit abgerückten SPD, wurden die Grundprinzipien des westlichen Demokratieverständnisses verworfen zugunsten utopischer Sozialismus- und Kommunismusvorstellungen aller Varianten -- von Marx, Lenin und Trotzki bis hin zu Mao, Castro, Che Guevara, Pol Pot, Kim Il Sung oder Enver Hoxha. Es wurde keine massenmörderische Peinlichkeit ausgelassen. So konnte eine antidemokratische Außerparlamentarische Opposition (APO) den Boden für den kommenden Terrorismus der Bader-Meinhoff-Bande und späteren Roten Armee Fraktion (RAF) sowie Nachfolgern in mehreren Generationen bereiten. Parallel dazu lief der von Rudi Dutschke nach chinesischem Vorbild ausgerufene „lange Marsch durch die Institutionen“ an. 

Besonders nach der Wiedervereinigung, die diese Kräfte stets mit allen Mitteln zu verhindern trachteten, gelangten diese militanten Marschierer und über Leichen-Geher an ihr ersehntes Ziel. Mit „Joschka“ Fischer war 1998 ein Alt-Achtund­sechziger mit einem Schwarm kampferprobter Genossen als Außenminister und Stellvertreter des Bundeskanzlers an den obersten Schalthebeln der Macht angekommen. Ein vorbestrafter und ungebildeter Straßenkämpfer und Bücherdieb konnte Bundesminister und Stellvertreter eines Bundeskanzlers werden, der 1987 selber noch verräterisch wie sein Genosse Oskar Lafontaine für die Respektierung der DDR-Staatsbürgerschaft und für die Auflösung der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter eingetreten war. Eine untypische deutsche Karriere? Eher nicht, wenn man sich so einige Führungsgestalten der deutschen Ge­chichte ansieht.

Für Bettina Röhl, einer Tochter der Top-Terroristin Ulrike Meinhoff, die sich selber mit der Aufarbeitung der jüngsten Geschichte verdient gemacht hat, bestätigt sich, was die 1971 geborene und in einem linken Kinderladen aufgewachsene Autorin Sophie Dannenberg in ihrem 2004 erschienenen Buch Das bleiche Herz der Revolution so formulierte: „Die 68er waren groß im Zerstören von Institutionen und Werten: Die deutschen Universitäten haben sie auf dem Gewissen, die Familie, das Leistungsprinzip, Etikette und Anstand, Verlässlichkeit und Geborgenheit (...) Was die 68er damals ideologisch legitimierten, hat sich gesellschaftlich vollzogen, aber nicht als Utopie, sondern als Verwahrlosung.“

Auf einen Nenner gebracht: die antidemokratische und antizivilisatorische Bewegung der 68er, die viele der Protagonisten selber an die Futtertröge der Macht und eines spießigen, herrsch­süchtigen Wohllebens brachte, verkörpert den Abschaum auf dem Fluss der Geschichte. Es ist vonnöten, die untergründige Bewegung zu analysieren und zum Vorschein zu bringen. Oberflächlich betrachtet, mag es, wie Der Spiegel behauptet, eine „heterogene Masse mit unterschiedlichen Auffassungen“ gewesen sein: „gleichzeitig gewaltfrei, gewaltbereit; pazifistisch, bellizistisch; marktgläubig, plangläubig; autoritär, antiautoritär; chauvinistisch, feministisch; maoistisch, trotzkistisch, stalinistisch, spontaneistisch, sozialdemokratisch, liberal; gläubig, ungläu­big; antikommunistisch, kommunistisch; karrieregeil, hedonistisch; kinderfeindlich, kinder­freundlich; bürgerlich, klein­bürgerlich; konsumfixiert, konsumfeindlich; staatsgläubig, anarchistisch; sie waren alles und nichts, und das gleichzeitig“. Es wäre nun müßig, aus dem Aufgezählten das Untypische herauszufiltern oder Fehlendes entgegen zu setzen. Das, was sich heute alles der 68er Generation zugehörig fühlt und dadurch deren Wesen verschleiert, ist auf den Kern zu reduzieren, um diese Bewegung und ihre furchtbaren Auswirkungen benennen zu können.

Der Schriftsteller Arno Lustiger schrieb dazu Erhellendes über seinen Cousin Jean-Maria Lustiger (FAZ, 08.08.2007). Dieser musste sich einst als Jude vor den Nationalsozialisten verstecken, konvertierte 1940 zum Katholizismus und gelangte 1983 zu Kardinalwürden. Er erlebte 1968 als Chef aller Pariser Studentenpfarrer die Revolte, an deren Spitze der heutige EU-Parlamentarier der GRÜNEN Daniel Cohn-Bendit stand, vor Ort. Er erkannte sofort die Richtung, aus der diese Bewegung kam und urteilte entsprechend: „Hohle Phrasen, verbaler Radikalismus. Dieses Wiederaufleben des Irrationalen ist eine Spiegelung des Nazismus.“

Ein weites Feld? Sicher! Es muss jedoch gerodet und beackert, wenn nicht gar durch Mutterbodenaustausch gerettet werden. Wie? Durch genaues Erinnern, produktiven Streit und die Kunst der Darstellung. Wenn dieser nebulöse Spuk nicht endlich durchschaut wird, werden noch weitere Generationen sinnlos vergiftet und daran gehindert, dieser irrwitzigen Geschichte endlich zu entkommen, in der, wenn es nach solchen Metzger-Söhnen wie „Joschka“ Fischer geht, „Auschwitz“ auch noch „der Bundesrepublik Deutschland als ein nachträglich einverleibter Gründungsmythos dienen“ (Gerd Koenen) soll. „Verhalten wir uns zur Zukunft“, schrieb einst der deutsche Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911), „dann finden wir uns aktiv, frei. Hier entspringt neben der Kategorie der Wirklichkeit, die uns an der Gegenwart aufgeht, die der Möglichkeit.“ Wer seinen Nachfahren nicht die Möglichkeit gönnt, ihre eigene Geschichte zu leben und zu gestalten, was unterscheidet ihn eigentlich von einem Massenmörder?