Glossen 27

Stefan Krawczyk
Weida

Stellt man die Motoren ab, wird die Stadt still. Ab und zu treibt der Wind einige Silben aus den Abendgesängen vor sich her oder Hammerschläge. Man hört, wie der Nagel mit jedem Plock kleiner wird, und wartet auf das Plack, Plack, was das Holz ruft, wenn es ihn ganz in sich aufgenommen hat. Kinder sind aus den Fenstern zu hören, im Streit um den letzten Bissen, hustende Kinder und welche, die sich vor Lachen nicht mehr einkriegen. Mit den geschonten Ohren traut sich auch die Nase wieder zu riechen. Die Luft hat ihre Düfte zurückerlangt nach Flieder oder Linde, je nachdem.

So lag Weida an einem Augustabend des Jahres neunzehnhundertachtundsechzig in der Dämmerung. Langsam aber stetig entschälte sich der hereinbrechenden Nacht ein Geräusch, so daß die Leute, egal wo sie saßen oder standen, den Kopf in den Nacken legten, wie neunzehnhundertfünfundvierzig, als eine amerikanische Bomberstaffel die Stadt überflogen hatte. Einer der Bordschützen muß das Ganze für ein Spiel gehalten haben: Über Funk hat er zum Piloten auf englisch gerufen: "Guck mal!", wies auf das Wahrzeichen von Weida, die Osterburg, "wie trotzig der Bergfried zum Himmel tut ragen" und krümmte den Finger aus Spaß am Zielen. Oder er wollte den Weidaern einen Denkzettel verpassen - jedenfalls schoß er dem obersten Kranz einen großen Zacken weg. Dann hat er gelacht und gerufen: "Getroffen!" Der Todesengel war gnädig gestimmt.

Das Geräusch wurde zum Dröhnen und das Dröhnen zum Brüllen und Asphaltknirschen, welches die Häuser erzittern ließ, so daß man den Glauben daran verlor, noch irgendwohin fliehen zu können. Kein anderes Geräusch konnte weiterexistieren. Alle Gerüche fielen dem Gestank nach Öl und Diesel zum Opfer. Zweiundachtzig Panzer fuhren durch die Stadt, zermalmten die Rinnsteine, wenn sie ihren Weg mit ruckenden Ketten korrigierten. Woher sie kamen, war schwer zu sagen. Aus jeder Luke ragte ein Soldat, Kentaur mit Stahlleib, von dem man nichts erfahren konnte. Auch wenn er gerufen hätte: "Verzeiht den Krach, ihr seht ja, ich hab' einen Panzer am Arsch", es wäre nicht zu hören gewesen.
Wegen des furchbaren Getöses war auch nicht zu verstehen, was die gesamte Weidaer Bürgerschaft, sehr weit aus dem Fenster gelehnt, wie aus einem Mund gerufen hatte. Sie rief voller Zorn: "Es lebe Dubcek!" Wären die Panzer nicht so laut gewesen, hätte man das einzige Beispiel kollektiven Widerstands hören können. Doch die Panzer waren zu laut -- zweiundachtzig gewaltige Motoren erstickten den Ruf. Mit dem abziehenden Lärm wurde er vergessen -- in Weida zog das Schnarchen ein.

Aus: Stefan Krawczyk, Das irdische Kind (Berlin: Volk und Welt, 1993) S. 100/101. Mit freundlicher Genehmigung des Autors