Glossen 27

Doris Liebermann
„DUB?EK, DUB?EK, DUB?EK“ -- Einige biographische Anmerkungen zur Symbolfigur des Prager Frühlings

Den Älteren sind die Bilder in Erinnerung: sowjetische Panzer, die durch Prag rollen, junge Tschechen und Slowaken, die sich verzweifelt der geballten, militärstrotzenden Macht entgegenstellen.[1] In der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 walzten 7000 Panzer den Traum von einer sozialistischen Gesellschaft mit „menschlichem Antlitz“ nieder. Genau am 5. Januar 1968 hatte dieser Traum reale Gestalt angenommen: um neun Uhr abends hatte der tschechoslowakische Rundfunk eine Meldung verbreitet, die die gesamte Bevölkerung elektrisierte: Parteichef Antonín Novotný war entmachtet worden, und mit ihm die einflussreichen Parteifunktionäre der stalinistischen Ära.

Eine Liberalisierung der Gesellschaft hatten Schriftsteller und Intellektuelle schon in den Jahren davor gefordert, die berühmte Kafka-Konferenz in Liblice 1963 hatte eine erste Öffnung bedeutet, im gleichen Jahr hatte die Wochenzeitung des slowakischen Schriftstellerverbandes Kulturny zivot (Kulturelles Leben) zum ersten mal Tabuthemen wie die Schauprozesse der 50er Jahre zur Sprache gebracht.

Nach dem IV. Schriftstellerkongreß 1967 waren die Autoren Ludvík Vaculík, Antonin Liehm Pavel Kohout und Ivan Klima wegen ihrer aufrührerischen Reden aus der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei ausgeschlossen worden. Vaculíks Referat hatte den Höhepunkt des Schriftstellerkongresses gebildet. Mit einer scharfen Kritik des kommunistisch-totalitären Staates, seiner destruktiven Auswirkung auf die Kultur und die Moral hatte Vaculík ein demokratisches Alternativprogramm gefordert, das Regierung, Volk und auch politische Institutionen durch Rechte und Garantien vor Machtmissbrauch schützen könne. Der Parteiausschluß der Schriftsteller kündigte 1967 die Verhärtung des kulturpolitischen Kurses in der Tschechoslowakei an.

Doch die Absetzung von Novotný als Parteichef [2]im Januar 1968 bedeutete: Sieg der Reformkräfte in der Partei. Der Mann, der jetzt ans Ruder kam, war ein weitgehend unbekannter Kompromisskandidat, auf den sich das Politbüro geeinigt hatte. Von dem Slowaken schien keine Gefahr für die Nomenklatura auszugehen (so schien es jedenfalls westlichen Beobachtern). Aber der ehemalige Maschinenschlosser Alexander Dub?ek, damals 46 Jahre alt, versprach einen völlig neuen Parteikurs: Abschaffung der Zensur, Reisefreiheit, freier Zugang zu den geheim gehaltenen Informationen über den stalinistischen Terror, der Millionen Menschen in der Sowjetunion das Leben gekostet hatte. Anfang der 50er Jahre hatte es auch in der Tschechoslowakei Opfer des Stalinschen Verfolgungswahns gegeben, eine Tatsache, die sich nur noch schwer geheim halten ließ. Gebannt schaute die Welt nach Prag.

Er führte ein turbulentes Leben, reich an Höhen und Tiefen, dieser Mann mit der sportlichen Figur und der spitzen Nase, der so gar nichts von einem zündenden Charismatiker hatte und doch zur Symbolfigur des „Prager Frühlings“ wurde. Alexander Dub?ek war redlich und unaufdringlich, ein moralischer Mensch, ein Mann aus dem Volk, der an einen wahrhaftigen, demokratischen Sozialismus glaubte, Privilegien, Bonzensiedlungen und Parteighettos verabscheute und sich auch nicht scheute, in Badehose fotografiert zu werden, während andere KP-Generalsekretäre Uniformen und militärische Posen bevorzugten. Er war ein umtriebiger, arbeitsbesessener Politiker, gleichzeitig seinen drei Söhnen Pavol, Milan und Peter ein rührend besorgter Vater. Mit Peter hatte ich die Möglichkeit, ein Interview zu führen. Er war in den 90er Jahren Gesandter der Slowakei in Berlin. „Mein Vater war eine sehr starke und selbstsichere Persönlichkeit“, sagte er, „und verkörperte für mich Sicherheit, Stabilität, Gerechtigkeit, Liebenswürdigkeit und auch Toleranz.“ Die Mutter sei das „Gefühlszentrum der Familie gewesen“, sagte er, und habe den vier Männern in der Familie für Studium und Arbeit ein gutes Hinterland geschaffen. Beide Eltern hätten versucht, ihm und seinen Brüdern eine „ideale, fast romanartige Umgebung“ zu schaffen.

Ein Hauch von Abenteuer war Alexander Dub?ek in die Wiege gelegt. Seine Kindheit war vom rastlosen, ruhelosen Reisen seiner Eltern geprägt. Im Jahre 1911 war sein Vater, Stefan Dub?ek, Tischler und überzeugter Sozialdemokrat, nach Amerika ausgewandert. Ihm war es im heimischen Uhrovec in der Westslowakei zu eng gewesen. Die Armut, die er seit der Kindheit erlebt hatte, --  der Vater war früh an Tuberkulose gestorben, die Mutter hatte allein die drei noch kleinen Kinder aufziehen müssen --, sollte ihm Ansporn im Leben sein und seine Weltanschauung prägen. Er lernte Zimmermann, arbeitete in Budapest in einer Möbelfabrik und schloß sich einer Zelle der Ungarischen Arbeiterpartei an. Nach ein paar Monaten wurde er entlassen. Er beschloß, nach Amerika auszuwandern. Stefan Dub?ek sah wenig Perspektiven in einem Land, das gar nicht als eigener Staat existierte. Die Slowakei war damals ein Teil der Habsburger Monarchie, dort herrschten die österreichischen Kaiser und unterdrückten jeden Versuch auf nationale Eigenständigkeit.

Wie Stefan Dub?ek zog es tausende Slowaken in die Neue Welt. In den großen amerikanischen Städten entstanden ganze slowakische Viertel, wie in Chikago, wo Stefan Dub?ek als Zimmermann arbeitete. Mitten im Ersten Weltkrieg wurde ihm die amerikanische Staatsangehörigkeit zuerkannt, kurz darauf wurde er zum amerikanischen Militär einberufen. Doch er hatte keine Lust, als Amerikaner an der europäischen Front zu kämpfen – womöglich gegen slowakische Landsleute im habsburgischen Heer! Er war ein entschiedener Kriegsgegner. Er wollte nach Mexiko flüchten, wurde aber verhaftet. Wegen Wehrdienstverweigerung wurde er ins Gefängnis gesteckt. Er konnte die Strafe wählen: 18 Monate Haft oder 1000 Dollar Bußgeld. Da er nicht zahlen konnte, mußte er die Strafe absitzen. Als er wieder auf freien Fuß kam, hatten sich die Staatsgrenzen in Europa verändert. Die Habsburger Monarchie war am Ersten Weltkrieg zusammengebrochen, 1918 war aus ihren Trümmern u. a. die Tschechoslowakische Republik entstanden. Stefan Dub?ek entschloß sich mit seiner Frau Pavlina, einer Slowakin, die er in Amerika geheiratet hatte und die als 13-jähriges Mädchen ihren älteren Geschwistern nach Amerika gefolgt war,  zur Rückkehr. Ihr erster Sohn Julius war damals vierzehn Monate alt. Pavlina war erneut schwanger: Alexander war unterwegs. Er wurde im November 1921, kurz nach der Ankunft der Eltern in der Slowakei, im heimischen Uhrovec geboren. In Dub?eks Geburtsjahr wurde auch die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei gegründet. Seine Eltern wechselten von den Sozialdemokraten zu den Kommunisten.

In Dub?eks Autobiographie „Leben für die Freiheit“ heißt es:

„… ich verpasste nur um wenige Monate die Chance, in Amerika geboren zu werden. Viele Angehörige meiner Eltern blieben jedoch in Amerika, und ich habe viele Verwandte dort, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe – Cousinen, Nichten und Neffen. Sicher sind unter ihnen einige, von denen ich nicht einmal gehört habe, da man während der Jahre des stalinistischen Regimes in der Tschechoslowakei keine Verwandte im Westen haben durfte und es gefährlich war, mit ihnen zu korrespondieren.“[3]

Anders als gehofft, war nach der Neugründung des Staates kein wirtschaftlicher Aufschwung in der Slowakei zu spüren. Die Rezession der Nachkriegszeit machte sich überall bemerkbar. Dub?eks Eltern zog nun die Sowjetunion an – wie Millionen Menschen in den 20er Jahren, die dort den Menschheitstraum von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verwirklicht sahen. Unter den Linken in aller Welt grassierte eine Begeisterung für alles, was russisch war. Glühende Kommunisten brachen in das Land ihrer Träume auf: 1924 gab es in Sowjetrussland 17 Arbeiterkommunen mit Einwanderern aus den USA, Kanada, Holland, Bulgarien, Finnland, Deutschland, der Türkei. Auch die Familie Dub?ek schloß sich einer Auswanderergruppe an, der „Interhelpo“, einer Kooperative einiger hundert tschechoslowakischer Arbeiter, die bis 1932 in fünf Gruppen in die Sowjetunion auswanderten. Der erste Sonderzug der Interhelpo verließ die Slowakei Ende März 1925. 7000 Kilometer legten die Reisenden zurück, bis sie in einem unfreundlichen Steppental nahe des Tien-schan-Gebirges an der chinesischen Grenze hielten. Nicht blühende Pfirsichhaine und Weinberge erwarteten sie, wie ihnen versprochen worden war, sondern verfallene Baracken, in denen einst Kriegsgefangene gewohnt hatten.

„Die Ankunft der Kooperative verursachte unter den Einwohnern von Pischpek geradezu einen Aufruhr. Die Kirgisen und Tadschiken, die noch nie ein Automobil oder einen Traktor gesehen hatten, waren außer sich. Kam eines dieser Gefährte eingehüllt in eine Staubwolke daher, rannten die Einheimischen panikartig davon und riefen ‚schaitan’ – ‚Satan, Satan’. Aber nach einer Weile hatten sie sich an die Maschinen gewöhnt, und das Verhältnis zwischen Einheimischen und Interhelpisten war großenteils sehr freundlich.“[4]

Alexander Dub?eks Autobiographie hält eher die freundlichen Eindrücke an diese Zeit fest, schließlich war er noch ein kleines Kind, als er in der Kooperative lebte. Doch er bagatellisiert auch die Schwierigkeiten nicht. Der Alltag der slowakischen Auswanderer war von einem verzweifelten Überlebenskampf bestimmt. Seuchen rafften viele kleine Kinder hinweg, und die unsinnige sowjetische Parteibürokratie legte den Genossenschaftlern immer wieder neue Steine in den Weg. Manche gaben auf und kehrten wieder in die Slowakei zurück. Andere ließ der Glaube an die Zukunft des Sozialismus alle Misserfolge meistern. Zu ihnen gehörten die Dub?eks. So kam es, daß Alexander – „Sascha“ genannt -- von 1928 an nur russische Schulen besuchte, Russisch wie seine zweite Muttersprache sprach, und sein Slowakisch später von Russizismen wimmelte. 1932 schickte Interhelpo den Vater nach Moskau zur Weiterbildung, ein Jahr später zog die Familie nach Gorki um, drei Zugstunden von Moskau entfernt.

Obwohl noch ein Kind, blieb ihm nicht verborgen, daß sich das innenpolitische Klima in den 30er Jahren in der Sowjetunion zuspitzte:

„Helden der Revolution, die wir bis dahin bewundern gelernt hatten, wurden plötzlich zu Verbrechern erklärt, vor Gericht gestellt und hingerichtet. In der Schule mussten wir ganze Seiten aus unseren Lehrbüchern herausschneiden, wenn sich die Wahrheit änderte, was oft über Nacht geschah. Ich erinnere mich noch lebhaft an einige Lehrbücher, die wir damals benutzten, besonders an eines mit einem Foto von Marschall Tuchatschewski in prächtiger Uniform. Nach seiner Hinrichtung im Frühjahr 1937 mußten wir die Seite mit der Schere herausschneiden. Unsere Lehrer sammelten die herausgeschnittenen Seiten ein und zählten genau nach.“[5]

Beamte des sowjetischen Geheimdienstes verhafteten auch slowakische Genossenschaftler – meist kamen sie nicht wieder. Die Dub?eks dachten über eine Rückkehr in die Slowakei nach. Ein Grund für die Abreise fand sich ganz ungewollt: Alexanders Bruder Julius hatte bei einer Prügelei einen sowjetischen Jugendlichen verletzt. Die Eltern fürchteten, daß Julius nach den strengen stalinistischen Gesetzen bestraft werden könne. Überstürzt reiste die Mutter mit Julius in die Slowakei ab. Der Vater folgte mit dem 17-jährigen Alexander drei Jahre später nach. Dreizehn Jahre hatten sie in der Sowjetunion verbracht.

Es war das Jahr 1938. Ein Jahr schlimmster stalinistischer Verfolgung in der Sowjetunion. Beamte des sowjetischen Geheimdienstes gaben sich die Tür in die Hand, nahmen Genossenschafter mit, meist kamen sie nicht wieder. Sie verschwanden im Gulag oder wurden zum Tode verurteilt und erschossen.
Daß Stefan Dub?ek nicht festgenommen wurde, grenzt an ein Wunder: er sprach schließlich fließend Englisch, dolmetschte mitunter für amerikanische Delegationen – wie einfach wäre es gewesen, ihm Spionage zu unterstellen.

Nach der Rückkehr trat auch Alexander Dub?ek 1939 in die Kommunistische Partei ein. Er blieb ihr Mitglied bis zu seinem Parteiausschluß 1970.

„Natürlich kannte ich den Ort, den meine Eltern ‚zu Hause’ nannten, nur aus zweiter Hand, aus den Erinnerungen und Erzählungen meiner Eltern. Dennoch war daraus ein sehr vertrautes, warmes und einladendes Bild entstanden, und ich wusste, daß ich dorthin gehörte. Schließlich sprach man dort auch die Sprache, die meine Mutter mir als Kind beigebracht hatte … Zugleich ließ ich das einzige Land, das ich bis dahin kannte, hinter mir zurück, an das sich fast all meine Erinnerungen knüpften, gute wie schlechte, und in dem so viele meiner Freunde lebten. Russland – das waren für mich Häuser, Bäume, Sonnenuntergänge, alle bisherigen Eindrücke meines Lebens. ‚Zu Hause’ war daneben lediglich eine vage Vorstellung.“[6]

Die Freude darüber, als Familie wieder in der Slowakei vereint zu sein, währte nicht lange. Im Herbst 1938 hatten sich die europäischen Demokratien, England, Frankreich, Italien, Hitlers aggressiven Forderungen gebeugt und quasi den Untergang der Tschechoslowakischen Republik besiegelt. Das Münchner Abkommen legte den Abtritt des überwiegend von deutsch sprechender Bevölkerung besiedelten Sudetenlandes an das Deutsche Reich fest. Im Zuge des Abkommens bekam die Slowakei die Autonomie.

Auf Druck Hitlers verkündete der Slowakische Landtag im März 1939 die Konstituierung eines selbständigen Staates unter der Ägide des Deutschen Reichs. Gegen diese klerikal-faschistische Diktatur in der Slowakei brach 1944 ein Volksaufstand aus. Julius und Alexander kämpften als Partisanen, Alexander wurde durch zwei Schüsse verletzt. Julius wurde von den Deutschen gefangen genommen und standrechtlich erschossen. Stefan Dub?ek, ihr Vater, wurde verhaftet und vom Gefängnis in das KZ Mauthausen deportiert.

Wen wundert es bei diesen Erfahrungen mit dem Faschismus, daß Alexander Dub?ek nicht mit dem Kommunismus brach, bei allen Zweifeln und Bedenken über den stalinistischen Terror, den er auch als junger Mann schon hatte, wie er in seiner Biographie andeutet? Der Sieg der Roten Armee schien die Schauprozesse der 30er Jahre nachträglich zu rechtfertigen. Trotz aller Fehler und Irrtümer, die die Sowjetunion offensichtlich beging, sah Dub?ek seine politische Heimat in der Kommunistischen Partei. Sie erfreute sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Tschechoslowakei regen Zulaufs, immerhin stimmten in den ersten freien Wahlen 1946 mehr als 40 Prozent der Wähler für die Kommunisten. Diese Ost-Orientierung hatte auch mit dem Münchner Abkommen zu tun: das Vertrauen in die westeuropäischen Demokratien war geschwunden.

Eine Parteikarriere hatte Dub?ek nicht im Sinn. Im September 1945 hatte er Anna Ondrisova geheiratet, mit der er schon seit seiner Kindheit in Kirgisien befreundet war. Auch ihre Familie hatte zu den Interhelpo-Genossenschaftlern gehört. Dub?ek hatte die Aussicht, Direktor einer Hefefabrik im slowakischen Tren?ín zu werden und ein ruhiges, gesichertes Familienleben zu führen.

Da bekam er das Angebot, in der Parteiverwaltung der Stadt zu arbeiten. Die Stelle war schlechter bezahlt als die in der Hefefabrik, aber er sah es als seine Pflicht an, dem Parteiangebot zu folgen. Bald wurde er zum Ersten Sekretär der Bezirksparteiorganisation ernannt, und im Oktober 1951 nach Bratislava ins Zentralkomitee der Slowakischen KP versetzt. 1953 wurde er Parteisekretär von Banska Bystrica, und 1955 delegierte ihn die Partei zum Studium nach Moskau. Es war die Zeit des Tauwetters, die Zeit von Chrustschows berühmter Geheimrede über den Stalinschen Terror, die Zeit, als Tausende Gulag-Häftlinge entlassen wurden. An der Lenin-Parteihochschule studierte Dub?ek zusammen mit späteren Widersachern, wie zum Beispiel Miloš Jakeš, dem letzten, verhaßten KP-Chef der Tschechoslowakei. Dub?ek und Jakeš lasen zwar die gleichen Bücher, studierten den gleichen Marxismus-Leninismus, zogen aber ganz andere Schlüsse für die Praxis daraus.

Langsam und unaufhaltsam stieg Dub?ek im Parteiapparat auf: 1960 wurde er zum Sekretär für Industriefragen ins Zentralkomitee der KP? nach Prag berufen. Er erkannte bald, wie verhängnisvoll es war, daß Parteifunktionäre sich ungehindert in die Regierungsgeschäfte einmischen konnten. Politische und wirtschaftliche Reformen [7] waren dringend nötig. Dub?ek war ein kluger Taktiker, der sich Parteichef Novotný durch seine Haltung zu den polischen Schauprozessen der 50er Jahre (Milada Horáková, Rudolf Slánský) bald zum Intimfeind machte. Durch geschicktes Agieren verstand es Dub?ek aber, sich mit Gleichgesinnten im Apparat zu verbünden und so seinen Sturz durch Novotný zu verhindern. Als er 1963 Erster Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Slowakei wurde, sah dies zwar wie eine Beförderung aus, war in Wirklichkeit aber eine Degradierung durch Novotný, der Dub?ek auf diese Weise aus der Zentrale Prag entfernen konnte. Nach langen und verbitterten Kämpfen im Apparat wurde Dub?ek dann 1968 zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei gewählt.

Dub?ek wollte sich nicht mit einem rigiden Kommandosozialismus Stalinscher Prägung abfinden, er wollte einen lebendigen, demokratischen Sozialismus. Daß dies auch die meisten Tschechen und Slowaken wollten, davon zeugte seine ungeheure Beliebtheit im Jahre 1968. Viele Bewohner des Ostblocks setzen ihre Hoffnungen auf den tschechoslowakischen KP-Funktionär.

Im gleichen Maße aber, wie die Begeisterung und die Hoffnung auf einen demokratischen, freizügigen Sozialismus in der Tschechoslowakei wuchs, nahmen Angst und Spannung unter den Breshnew-treuen Kommunisten in Moskau, Berlin, Budapest, Sofia und Prag zu. Sie fürchteten um Prestigeverlust und Herrschaftsanspruch, forderten von der KP? vor allem die Wiederherstellung der Kontrolle über die Massenmedien und planten schon seit April 1968 den Militärüberfall.

20. August 1968. Gegen Mitternacht drangen Truppen des Warschauer Paktes – der Sowjetunion, Polens, Bulgariens und Ungarns in die Tschechoslowakei ein: 800 000 Soldaten, nicht, wie lange vermutet, 500 000. Anders auch, als lange angenommen, waren die zwei DDR-Divisionen nicht direkt an den Kampfeshandlungen beteiligt. Sie standen für den sofortigen Einsatz an der DDR-Grenze bereit. Doch im Hauptquartier der Interventionstruppen in Milovice, in der Nähe von Prag, hielten sich auch DDR-Offiziere auf. Die Streitkräfte der angeblich befreundeten Länder beendeten gewaltsam den Versuch, das kommunistische Herrschaftssystem in der Tschechoslowakei von innen, aus der Partei heraus, zu reformieren.

Der tschechoslowakische Ministerpräsident ?ernik erhielt die Nachricht vom Einmarsch telefonisch während einer Sitzung des Politbüros. Sowjetische Spezialeinheiten hatten den Prager Flugplatz im Handumdrehen erobert. Sowjetische Mig-Düsenjäger waren gelandet, und die Straßen von den Ketten der Panzer erschüttert.

Angst, Entsetzen und Verzweiflung ergriff die Menschen des Landes: allein in der ersten Woche der Okkupation gab es 82 Tote und 300 Verletzte. In Dub?eks slowakischem Geburtsort Uhrovec ließen die Bewohner alle Ortstafeln und Wegweiser verschwinden. Sie ersetzten sie durch neue, improvisierte. Einige Tage lang gab es kein Uhrovec mehr, sondern nur noch „Dub?ekovo“. Wie an vielen anderen Stellen des Landes leiteten die Einheimischen die Besatzungstruppen in die Irre – eine kleine, dennoch wirkungsvolle Geste des Widerstandes.

TASS, die sowjetische Nachrichtenagentur, meldete:

„Partei- und Staatsfunktionäre der ?SSR haben sich an die Sowjetunion und an andere verbündete Staaten mit der Bitte gewandt, dem tschechoslowakischen Brudervolk dringende Hilfe zu erweisen, einschließlich der Hilfe durch Streitkräfte."[8] Diese Hilfe sei  „ausgehend von den Prinzipien der unverbrüchlichen Freundschaft und Zusammenarbeit und auf Grund der bestehenden vertraglichen Verpflichtungen“ gewährt worden.

Die tschechoslowakische Regierung aber verteilte Protestnoten an die Interventionsstaaten. Sie verurteilte den Einmarsch als „unvereinbar mit der UNO-Charta, dem Warschauer Vertrag und den Grundprinzipien des internationalen Rechts“. Es handele sich um einen „krassen Akt von Verletzung territorialer Integrität“.

Die tschechoslowakische Führungsspitze mit Dub?ek wurde vom KGB verhaftet und über Polen und die Ukraine nach Moskau verschleppt. Keiner wußte, ob die tschechoslowakischen Reformer jemals wiederkommen würden. Sie wurden in den Kreml, zu Breshnew gebracht. Am 27. August 1968 kehrte Alexander Dub?ek aus Moskau nach Prag zurück. Als er vor das Mikrophon trat, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten. Es war nicht das erste Mal in diesem Jahr 1968, daß er in Tränen ausbrach, aus Ohnmacht, aus Wut über die Bedrängnis und Zwangslage, in die ihn die angeblich verbündeten Parteigenossen in Moskau, Berlin, Warschau, Budapest und Sofia gebracht hatten. Aber dies war die wohl schwerste Stunde im Leben des Alexander Dub?ek. Er war völlig deprimiert und konnte sich, so schien es,  nur mit Medikamenten auf den Beinen halten. Er hatte in Moskau die Kapitulation unterschrieben. Das sogenannte „Moskauer Protokoll“ legitimierte den Einmarsch nachträglich.

In seiner Rede rief er das Volk auf, die „Realität“ anzuerkennen. Denn das Moskauer Protokoll hieß im Klartext: sich mit der Okkupation, mit der Niederlage,  abzufinden. Im Auftrag Moskaus sollte Dub?ek seine Landsleute dazu bringen, von Aktionen gegen die Besatzungsmächte Abstand zu nehmen.

… Wir haben beschlossen, keinen militärischen Widerstand zu leisten, um
 zehn – oder gar hunderttausende Menschenleben zu retten. Hätten wir uns nicht für den schrittweisen Rückzug entschieden, dann hätte die große Konfrontation gedroht. …Niemand auf der Welt hätte für uns einen Finger gerührt. Sie hätten uns im Blut ersticken können. …, sagte Dub?ek später in einem Interview.

In der Nacht, als sie uns im Namen des Revolutionstribunals einsperrten, haben wir es noch geschafft, unseren Widerstand zu erklären, einen moralischen Widerstand gegen die militärische Gewalt. Wir haben den Bruch des Völkerrechts verurteilt und die Verletzung unserer Souveränität, mehr konnten wir nicht tun.

Kritiker warfen Dub?ek später vor, er habe die Kapitulation zu schnell unterzeichnet. Andere sind der Meinung, nur sie habe das Blutbad verhindert, das die Sowjets zweifellos imstande waren, anzurichten. Vor ein paar Jahren sprach ich mit dem Militärhistoriker Dr. Václav Kural, dem stellvertretenden Vorsitzenden einer Regierungskommission, die Anfang der 90er Jahre, als die Partei- und Geheimdienstarchive frei zugänglich wurden, von Präsident Václav Havel den Auftrag bekommen hatte, die Geschichte des „Prager Frühlings“ richtig zu schreiben. Kural sagte, daß Dub?eks Rolle trotz Unterzeichnung der Kapitulation positiv gesehen werde. Es sei unklar, wie weit es möglich war, das „Moskauer Protokoll“ nicht zu unterzeichnen. Dub?ek schreibt dazu in seiner Autobiographie:

Für viele Menschen zu Hause und im Ausland stand mein Name für den Prager Frühling und unseren Kampf, ihn gegen den sowjetischen Druck zu verteidigen. Insofern trug ich eine klare, persönliche Verantwortung für das Leben von Tausenden von Menschen zu Hause, die meine Weigerung, die ‚Übereinkunft’ zu unterzeichnen, gewiß als Ermutigung zu aktivem Widerstand aufgefasst hätten. Ich glaubte nicht, daß ich das Recht hatte, dies zu tun – denn es hätte nur zu einem Blutbad geführt. Viele Jahre später sah ich meine Schlussfolgerung bestätigt: Von hochrangigen Vertretern der Sowjetunion, allen voran General Jerschow, der 1968 dem sowjetischen Oberkommando angehört hatte, erfuhr ich, daß die Sowjetarmee nur auf ein Zeichen des aktiven Widerstandes gewartet hatte, um sofort wahllos zuzuschlagen.[9]

Nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ mußte Dub?ek im April 1969 seinem Landsmann Gustav Husák weichen. Auch Husák war Slowake, er war 1951 verhaftet, 1954 wegen „Nationalismus“ zu lebenslanger Haft verurteilt, 1960 amnestiert, 1963 rehabilitiert worden. Unter Husáks Herrschaft begann in der Tschechoslowakei eine breit angelegte Säuberung, die hunderttausende ihre bürgerliche Existenz kostete. Vor allem kritische Intellektuelle, allen voran Redakteure, Journalisten, Schriftsteller und Historiker,  wurden mundtot gemacht, sie mussten sich künftig als Heizer, Putzfrauen, Fensterputzer, Hilfsarbeiter verdingen. Eine halbe Million Parteimitglieder wurden aus der KP? ausgeschlossen.

Nach einem kurzen Intermezzo als Botschafter in der Türkei wurde auch Dub?ek 1970 aus der Partei ausgeschlossen und zur Unperson erklärt. Der Botschaftsposten war lediglich als Falle gedacht, um Dub?ek ins Exil zu zwingen. Fast konspirativ, über den Umweg Ungarn, erschlich sich der Reformpolitiker den Heimweg nach Bratislava.

Isoliert, kaltgestellt, vom Geheimdienst überwacht, durfte Dub?ek schließlich in seinem alten Beruf als Maschinenschlosser in der slowakischen Forstverwaltung arbeiten. Ein „Schattenleben“ nannte Dub?ek zwanzig Jahre später diese Zeit, unter der er sehr litt. Als er 1981 in Rente ging, verbrachte er seine Tage meist in seinem Garten in Bratislava.

Dann kam der Herbst 1989. Es herrschten Euphorie und Begeisterung wie zur Zeit des „Prager Frühlings“. Daß er noch einmal im Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen würde, daran hatte Alexander Dub?ek wohl selbst nicht geglaubt. Die Bürgerbewegung holte ihn nach Prag. Er wurde von jubelnden Menschenmassen begrüßt, als er sich am 26. November 1989 zusammen mit Václav Havel auf dem Balkon des Melantrych-Verlagsgebäudes am Wenzelsplatz zeigte.

Václav Havel hatte seiner Wahl als Präsident nur unter der Bedingung zugestimmt, daß Dub?ek ihm als Parlamentspräsident zur Seite stand. Doch bald fing das neu erwachte Symbol Dub?ek an zu wanken. Die Rücktrittsforderungen häuften sich. Die neue Rechte, die sich aus der zerfallenden Bürgerrechtsbewegung entwickelte, distanzierte sich von dem Reformpolitiker des „Prager Frühlings“. Sie brauchte sein Gesicht und sein Image im Ausland nicht mehr. Der Kampf zwischen den Flügeln, in der die Rechten um Václáv Klaus als Sieger hervorgingen, fand 1993 seinen Ausdruck im sogenannten „Kommunistengesetz“. Dieses Gesetz verurteilte die gesamte Zeit des Kommunismus in der Tschechoslowakei zwischen 1948 und 1989 als verbrecherisch und schändlich. Damit wird der „Prager Frühling“ nachträglich abgewertet, und Stalinisten und Reformkommunisten in einen Topf geworfen.

Diese pauschale Aburteilung von stalinistisch orientierten und Reformkommunisten per Gesetzestext zeigt, wie schwierig es für die tschechische Öffentlichkeit ist, differenziert mit der jüngeren Vergangenheit umzugehen. Zwar waren nach 1989 an einflussreichen Stellen des Landes immer wieder auch ehemalige Reformkommunisten aus der Zeit des „Prager Frühlings“ zu finden, die ihre Stimme geltend machen konnten. Die meisten verstanden sich längst nicht mehr als Kommunisten, nachdem sie in der Zeit der „Normalisierung“ zwangsweise aus der Partei ausgeschlossen worden waren, einen Schlussstrich mit der kommunistischen Ideologie gezogen und zu Kritikern des kommunistischen Herrschaftssystems geworden waren. Sie machten ihre politischen und menschlichen Erfahrungen aus dem Jahre 1968 an anderen Stellen geltend, oft in der Sozialdemokratischen Partei.

Auch Alexander Dub?ek fand nach dem politischen Umbruch von 1989 seine politische Heimat bei den Sozialdemokraten, ab Frühjahr 1992 war er Vorsitzender der Slowakischen Sozialdemokratischen Partei, er traf Willy Brandt, den er sehr bewunderte.

Als Präsident des Bundesparlaments arbeitete er pragmatisch daran, einen Grundkonsens für den Erhalt der Tschechoslowakei zu finden. Vergeblich. Als er im November 1992 nach einem schweren Autounfall starb, war die Trennung der beiden Landesteile schon beschlossen.

Die Stimmen jener, die behaupten, der Unfall, an dessen Folgen Dub?ek starb, könne manipuliert und ein Attentat von Geheimdienstleuten gewesen sein, sind übrigens bis heute nicht verstummt (ernsthafte Historiker halten dies aber für ein Lady-Di-Syndrom). In der Nähe der mährischen Stadt Humpolec, am Kilometer 88 der Autobahn Brünn-Prag, war Dub?eks Dienstwagen am 1. September 1992 von der Fahrbahn geraten.

Der 71-jährige Politiker, der nicht angegurtet im Wagen saß, wurde 17 Meter weit aus dem Auto geschleudert und mit schweren Verletzungen an der Wirbelsäule, am Brustkorb und an den inneren Organen geborgen. Nur wenige Tage nach dem Unfall hätte er in Moskau als Zeuge aussagen sollen, hieß es: über die Rolle der sowjetischen Führung bei der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968.

Die formal noch existierende Tschechoslowakische Republik konnte sich zu keinem gemeinsamen Staatsbegräbnis für den großen Staatsmann entschließen. Kein Tscheche redete bei dem Begräbnis. Dub?ek wurde in der Nähe von Bratislava als Slowake beerdigt.

 

Endnoten

1 Das berühmteste Foto aber, das einen Mann zeigt, der mit aufgerissenem Hemd und nackter Brust vor einem Panzer steht, der seine Kanone auf ihn richtet, ist nicht in Prag, sondern in Bratislava aufgenommen: von dem Fotografen Ladislav Bielik.
2 Novotný war seit 1957 auch Staatspräsident. Er blieb es bis zum 22. März 1968, sein Nachfolger war Ludvík Svoboda.
3 Alexander Dubcek, Leben für die Freiheit, München 1993, S. 15/16
4 Ebd., S. 31
5 Ebd., S. 44
6 Ebd., S. 48
7 Der Wirtschaftskurs des „Prager Frühlings“ lautete: „Dezentralisierung und Förderung der unternehmerischen Initiative“, was der KP? den Vorwurf einbrachte, dies führe zur Wiederherstellung des Kapitalismus.
8 Der sog. „Einladungsbrief“ von fünf KP-Funktionären (Indra, Kolder, Bilak, Kapek, Švestka) wurde 1992 von Boris Jelzin an die Prager Regierungskommission übergeben.
9 Dub?ek, Ein Leben für die Freiheit, a. a. O., S. 302