Glossen 27

Vernetzt oder verletzt? Sprachspiele und Echoschrift in Yoko Tawadas Die Ohrenzeugin
Christine Ivanovic
Es werde Licht! Und es ward Geräusch.[1]

In ihrem zweiten deutschsprachigen Essayband Überseezungen[2] (2002) reflektiert Yoko Tawada unter anderem auf Erfahrungen, die sie im Verlauf ihrer vielfältigen Reisen und Aufenthalte in unterschiedlichen Ländern gemacht hat. Die interkontinentale Dimensionierung dieser Reisen erscheint über die Dreiteilung des Buches in Euroasiatische Zungen, Südafrikanische Zungen und Nordamerikanische Zungen als ein lingualer Zusammenhang, der die geographischen Zonen in unkonventioneller Weise zugleich auf die Sprache bezieht. Dabei wirkt die so explizit hervorgehobene horizontale wie vertikale Markierung ihrer Kartographie durchaus subversiv. Es verschwindet hier nämlich nicht nur die historisch wie politisch kodierte Ost-West-Spannung; es verliert sich in der kontinentalen Masse Eurasiens auch der Gegensatz zwischen ‚westlicher’ und nicht-westlicher Welt, während das Nord-Süd-Gefälle kontinental verschoben wird in die Gegenüberstellung Amerika-Afrika, auch dies eine politische Akzentuierung, in welcher nicht zuletzt der historische Konnex zwischen beiden Kontinenten mitangesprochen scheint. Tawadas sprachspielerischer Bezug auf die realen Räume verschiedener ihrer Reisen weist so, vermittelt über die persönliche Erfahrung, mit der sprachästhetischen Reflexion auch eine sprach-politische Dimension auf, ein kulturkritischer Impuls, der besonders in den seit der Jahrtausendwende erschienenen Texten der Autorin immer deutlicher zum Ausdruck kommt.

Scheinbar nebenbei, im Gestus des understatement, konturiert dies Tawadas Essay Die Ohrenzeugin, [3] der erste von drei Texten, welche im o.g. Band als Nordamerikanische Zungen zusammengefasst werden. Er zeichnet das Protokoll des akustischen Panoramas eines Nachmittags am Institut für Fremdsprachen und Literatur des MIT in Boston auf, wo sich Tawada 1999 als Max Kade Distinguished Visitor aufgehalten hatte. Die synchrone Mitschrift nimmt das im Institut wahrgenommene „Mischgewebe aus angeregten Stimmen“ (Überseezungen, 95) zum Anlass einer kultur- wie kommunikationskritischen Reflexion sui generis. Tawada greift damit einerseits ein Leitmotiv ihres bisherigen Schreibens auf, das nun in neuer Perspektivierung erscheint; zum anderen bezieht sie sich auf Positionen moderner wie zeitgenössischer Sprachreflexion resp. Sprachskepsis, von denen sich der Text gerade als Text abzusetzen scheint. Ich möchte daher im folgenden zunächst kurz einige Voraussetzungen von Tawadas in Die Ohrenzeugin skizzierten Überlegungen in ihrem eigenen bis dahin publizierten Werk umreißen, bevor ich eine etwas eingehendere Lektüre des Essays versuche, in der ich diesen auf hierin angesprochene sprachtheoretische Positionen zu beziehen versuche. 

Das Hören auf Stimmen, die Aufnahme und Wiedergabe von Stimmen, die den sie umgebenden Raum erfüllen, ist eines der immer wiederkehrenden, poetologisch wie existentiell relevanten Paradigmen in Yoko Tawadas Texten besonders der neunziger Jahre. Zentrale Bedeutung hat es im Roman Ein Gast (1992),[4] wo – in einer programmatischen medialen Verschiebung vom lesbaren Text zum aktuellen Genre des ‚Hörbuchs’ – ihre ungewöhnliche Konzentration auf die  im Raum auftretende(n) Stimme(n) die Existenz der Protagonistin, insbesondere aber ihre schriftstellerische Tätigkeit, zunehmend usurpiert. Der zufällige Fund, den sie, auf dem Weg zum Ohrenarzt, auf einem Flohmarkt macht („Am Ende des Tunnels entdeckte ich ein Buch zwischen einem schwarzen Regenschirm und einer Tretnähmaschine.“ Ein Gast, 9), wird buchstäblich dem Kontext der Ästhetik des Surrealismus entnommen.[5] Das objet trouvé, das sie beim Trödler erwirbt, initiiert von nun an eine radikale Aufhebung oder Umkehr der gewohnten materiellen,  kausalen und temporalen Zusammenhänge. Die kurz darauf vom Arzt beim Blick in ihr Ohr indizierte Schwangerschaft hat sich im Spannungsbogen von Empfängnis und Geburt bereits vollendet, als die Protagonistin mit dem sie von nun an erfüllenden Buch nach Hause zurückgekehrt ist. Es bildet das dynamische Zentrum eines Romangeschehens voller surrealer Bilder und surrealistischer Anspielungen, in dessen Verlauf Raum und Körper zunehmend von Stimmen besetzt werden. Denn der Gegenstand, den die Protagonistin auf dem Flohmarkt entdeckt hatte, erweist sich bei näherer Betrachtung weder als ein Buch, wie sie zunächst angenommen, noch als ein Spiegel, wie es der Verkäufer behauptet hatte, sondern als „ein Kästchen, in dem vier Kassetten waren“ (Ein Gast, 19), womit Tawada zugleich eine klassische Figuration des Gedächtnisses aufgreift, ineinander schachtelt,[6] vierteilt (vielleicht erneut auch eine Allusion an die vier Himmelsrichtungen) und in ein zeitgenössisches Medium der Aufzeichnung verschiebt. Der Wechsel von „Kästchen“ zu „Kassetten“ zeigt dabei nicht nur eine mediale Transposition an, er verändert auch das grammatikalische Geschlecht wie den Numerus des zuvor neutralen Behälters. Die weibliche Stimme, die dann zu Hause aus dem Kassettenrecorder erklingt, bewirkt, dass sich die Protagonistin sofort „mitten in der Landschaft des Romans befand“ (ebd.). Von nun an sucht sie jedoch nicht, sich dem Romangeschehen anzunähern, von dem der Leser von Tawadas Roman nichts weiter erfährt, als dass er jene langweile. Ihr Interesse wird kaum durch den Inhalt des Gesagten affiziert; was jener bedeuten will, tritt hinter die Faszination durch die akustische Verlautbarung (die weibliche Stimme) zurück. Um sich deren Macht wieder zu entziehen, versucht die Protagonistin eine Rückkehr zum Buch als Repräsentanten des Gesagten. Dieses Bemühen führt sie jedoch keineswegs zu einer Aufklärung des rätselhaft bleibenden Sachverhalts, vielmehr eröffnet es ihr die Möglichkeit einer neuen Form der Aneignung und Transformation von Stimmen überhaupt. Ihre in der Okkupation durch die Stimme des Romans manifest werdende Fähigkeit, fremde Stimmen in sich aufzunehmen, wird später von ihrem Nachbarn Z in einer Art psychotherapeutischer Behandlung dazu eingesetzt, andere Frauen von der Besessenheit durch Stimmen zu befreien. Im Rahmen mehrerer Séancen, für die sie von Z bezahlt wird, nimmt die Protagonistin Aussehen und Gestalt eines „Steins“ an und wird so buchstäblich zu einem Resonanzkörper, eine Transformation, die zuletzt ihre Schreibfähigkeit (und damit die Grundlage ihrer materiellen Existenz) dauerhaft in Frage stellt. Am Endpunkt ihrer Geschichte hat Tawada damit (wohl nicht ohne satirische Bezugnahme auf esoterische psychotherapeutische Behandlungsmethoden) unter anderem eine bedenkenswerte Neuinterpretation der antiken Echo-Konzeption vorgelegt, woran sie einige Jahre später in einem weiteren Ansatz mit dem Echo-Kapitel in Opium für Ovid (2000) noch einmal anzuknüpfen scheint. In beiden Prosatexten spielt, dem Mythos entsprechend, das Verhältnis der Geschlechter zueinander eine zentrale Rolle; im früheren Text scheint sich Tawada zudem auf Roland Barthes’ Interpretation von Balzacs Erzählung Sarrasine zu beziehen.[7] In ihrem Roman treten nämlich zwei männliche Gestalten auf, die in der Auseinandersetzung der (weiblichen) Protagonistin mit der (weiblichen) Stimme eine wesentliche Rolle spielen: Simon, der Besitzer eines Exemplars jenes rot eingebundenen Buches, das die schriftliche Version des Romans vom Flohmarkt enthält; mit seiner Hilfe sucht sie sich von der Stimme zu befreien. Als gewissermaßen komplementäres Gegenstück fungiert wenig später der Nachbar Z, der ein ebenso rotes Hemd trägt; er wird sich nun umgekehrt die Fähigkeit der Protagonistin, Stimmen zu absorbieren, zunutze machen, um andere Frauen von den sie besetzenden Stimmen zu befreien. Im Anlaut ihrer Namen verweisen die beiden Männer auf das von Barthes extrapolierte Verhältnis von S/Z, das er im Zusammenhang mit der in Sarrasine rekurrenten Kastrationsthematik herausarbeitet.[8] Dabei fällt auf, dass Simon, der einen vollständigen Namen führt, im Verlauf des Romans verschwindet, während Z nur mit dem Initial bezeichnet wird. „Nun ist das Z aber der Buchstabe der Verletzung“,[9] so führt Barthes aus, ein Motiv, das in Tawadas Roman zweimal erscheint. Simon kann der Protagonistin sein Exemplar des Romans, auf dessen Rückseite sich die Abdrücke seiner Finger befinden, nicht überlassen: „Ich habe den Roman gelesen,“ erklärt er ihr, „bevor ich meinen Mittelfinger bei der Arbeit in einer Fabrik verlor. Und das ist das einzige Bildnis, das mein Mittelfinger hinterlassen hat. Ich habe nicht einmal ein Foto von ihm. Deshalb möchte ich das Buch nicht verkaufen.“ (Ein Gast, 48). Mit einem verlorenen Finger (zweifellos ein Kastrationssymbol) war die Protagonistin aber schon früher einmal konfrontiert worden, und zwar wiederum im Zusammenhang einer merkwürdigen Begegnung mit einer fremden (männlichen) Stimme. Kurz bevor sie das Buch-Kästchen auf dem Flohmarkt entdeckt, erinnert sie sich an diese Begebenheit, die auf seltsame Weise dem von Simon erlittenen Verlust entspricht:

Einmal kaufte ich mir ein Radio, an dem ich im Laden nichts Besonderes bemerkte, aber als ich es zu Hause nachts anschaltete, machte es ein seltsames Geräusch. Dieses Geräusch ähnelte dem heiseren Schrei einer männliche Stimme. Dann folgte kurz ein kratzendes Geräusch. Ich untersuchte den Apparat mit meiner Lupe und entdeckte im Schalterknopf den Splitter eines Fingernagels. Wie ein Fossil war er in den schwarzen Kunststoff eingelassen. Wahrscheinlich war ein Mensch bei der Fließbandarbeit von einer Maschine überfallen worden und hatte dabei einen Fingernagel oder sogar einen Finger verloren. Der Überfall wurde vermutlich als Unfall bezeichnet. Bei der Warenkontrolle wurde dann der Finger gefunden und entfernt, aber der Fingernagel blieb unentdeckt. Ich bohrt ihn mit meinem Taschenmesser heraus und begrub ihn im Hof. Seitdem höre ich kein fremdes Geräusch mehr aus meinem Radio. (Ein Gast 7f.)  

Die fremde Stimme, die sich am Ort der Verletzung Gehör verschafft, kann erst zur Ruhe gebracht werden, nachdem sie mit Hilfe des Taschenmessers (Inversion des Kastrationswerkzeugs) geborgen und dann begraben worden ist. [10] Während hier das Medium Radio der Stimme ermöglicht, sich zu artikulieren, erfüllt die Stimme, die von der Kassette erklingt, den Lebensraum und den Körper der Protagonistin; diese wird dadurch gleichsam selbst in ein Medium transformiert, dessen sich Z dann bedienen kann. Die von ihm genutzte Fähigkeit der Protagonistin, als „Stein“ die fremden Stimmen aufzunehmen, zerstört aber zugleich deren Fähigkeit, selbst sinnvolle Worte im Schreiben hervorzubringen. Z, „der Buchstabe der Verletzung“, das Initial des Nachbarn, markiert hinfort sichtbar dessen Intervention, indem es den Bedeutungszusammenhang der Wörter zertrennt, die die Protagonistin mit ihrer Schreibmaschine hervorzubringen versucht (Ein Gast, 77f.).

Tawadas in der Fiktion des Romangeschehens von Ein Gast thematisierter Zusammenhang der Aufnahme der fremden Stimmen als trennender, eine Verletzung der Schrift markierender Einschnitt sollte nicht übersehen werden. Er scheint auch in späteren ihrer Texte, selbst wo diese in ganz anderen Kontexten (ent)stehen und eine nichtfiktionale Darstellungsweise wählen, noch mit anzuklingen. Zunächst greift Tawada die Vorstellung auf, die Stimmen der Toten würden sich in anderen Medien akustisch bemerkbar machen. Im Essay Der Klang der Geister [11] wird der Bezug auf diese, und das heißt die Einstellung des Hörens auf die Wahrnehmung und Bewahrung des Vergangenen, programmatisch weiter entwickelt zur Poetik eines Klangnetzes, das dazu da sei, die „Schwingungen“ der Jenseitigen aufzufangen. Das Inkommensurable, das in der Mehrstimmigkeit fluktuierend hervortritt, nennt Tawada den „Klang der Geister“; es ist eine zunächst beunruhigende, von ihr dann aber mit zunehmender Faszination und Bewusstheit wahrgenommene Klangerfahrung, von der sie schreibt, dass sie ein anderes Hören initiiert und ihr Lebensgefühl wie ihre Schreibpraxis maßgeblich beeinflusst habe. Die „Geister“ würden, so Tawada, „sich in unseren Stimmen eine Weile aufhalten“, da sie „keinen eigenen Klangkörper“ hätten und deshalb darauf angewiesen seien, sich der Musikinstrumente oder aber der menschlichen Stimme zu bedienen, „um für uns hörbar zu werden“ (Talisman, 112). Dementsprechend erfährt sie den eigenen als eine Art polyphonen Körper:

In meiner eigenen Stimme höre ich mehrere Stimmen, die nicht zusammengehören und deshalb eigentlich auseinanderfallen wollen. Sie kommen nicht aus mir selber und bleiben mir fremd. (Talisman, 115)

Die Fragmentierung der aufgefassten Töne (sie „flimmerten in meinem Kopf wie zerfetzte Lichtfragmente“; Talisman, 110) wird im Essay dann in eine Poetik der „Abfälle“ überführt. Angesichts des aus der Mehrstimmigkeit hervortretenden „Klang[s] der Geister“ stellt Tawada in einer an Wittgensteins Sprachskepsis erinnernden Passage schließlich die Sinnhaftigkeit einfacher Sätze, wie „Ich fahre morgen nach Zürich“, in Frage. Vielleicht seien die den Satz bildenden Wörter nur eine zufällige Kombination der Abfälle von Tönen, die einfach durch Schwingungen zustande kamen. Vielleicht haben irgendwelche Geister eine besondere Schwingung in die Luft gesetzt. Mein Körper wird nur dafür benutzt, um die Abfälle zu materialisieren. Und ich bilde mir dabei sogar ein, einen Sinn in dem Satz finden zu können und handle danach. (Talisman, 115)

Nicht ohne Provokation entwickelt Tawada ihre Überlegung daher weiter zu einer Idee von Textualität, in der es darum gehen könne, „ein Netz“ zu flechten, das solcherart „Abfälle von Schwingungen“ auffange, ohne dabei „eine sinnvolle Botschaft vermitteln“ zu wollen (Talisman, 115). Die solcherart buchstäblich auf das Erfassen der Schwingungen bezogene Vorstellung markiert wohl die äußerste Konsequenz einer akustischen Erfahrung als Ausgangspunkt von Literatur, auf die Tawada bereits in einem anderen Essay (Erzähler ohne Seelen)hingewiesen hatte: „Das Erzählen trat nicht mehr an die Stelle des Zuhörens, vielmehr entstand eine Erzählung durch das Zuhören“. Ihre damals daraus abgeleitete Überlegung: „Vielleicht ist das Ohr das Organ der Erzählung und nicht der Mund“ (Talisman, 26) wird schließlich zum programmatischen Ausgangspunkt einiger weiterer Texte von Tawada; besonders explizit aber entfaltet sie der ‚Hörtext’ Die Ohrenzeugin. Er lässt sich nun in mehrfacher Hinsicht als Gegenstück zu Der Klang der Geister lesen. Während die dort am Ende erinnerte Aufhebung der Angst im Lachen eine Grundfigur der Komödie aufgreift, wie sie von Dante Alighieri über Rabelais’ Karnevalkonzept bis in die Moderne hinein nachweisbar ist, geht Tawada hier in Bezug auf die Reflexion über Sprache vom konstitutiven Spannungsverhältnis zwischen Stimme und Schrift aus, eine Diskussion, die in der abendländischen Tradition von nicht geringerer Bedeutung ist (sie war andererseits ja auch schon Kern der in Ein Gast entwickelten Problematik). Programmatisch konzentriert sich Die Ohrenzeugin zwar ebenfalls auf das Hören, greift aber zugleich mit dem den Essay durchziehenden Sprachspiel „verletzt“/ „vernetzt“ (Überseezungen, 101) zwei maßgebliche Figurationen der Thematisierung von Schrift (Einschreibung als Verletzung; Netz als Variante der Textmetapher) auf, die sie als strukturelles Schema ihrer akustischen Aufzeichnung nun leitmotivisch beibehält.

Schon am Beginn des Essays wird dieser Zusammenhang anhand einer komischen Sprachhandlung thematisiert. Die an einen amerikanischen Studenten gerichtete Frage der deutschen Kollegin Monika, „»Haben Sie sich verletzt?«“, kann dieser erst verstehen, nachdem sie „mit flüsternder Stimme“ noch einmal auf Englisch wiederholt wurde: „»Ach ja, verletzt! Ja, ich bin verletzt! Ein Fahrradunfall!« rief der Student erfreut.“(Überseezungen, 96). Die belauschte Szene wirkt zunächst komisch, weil das in der Frage anklingende Mitleid angesichts der am Anderen wahrgenommenen Verletzung im Moment des sprachlichen Erkennens umschlägt in Freude, die den Schmerz als Gegenstand des Gesprächs gleichsam auslöscht. In die kleine Pause, die diesen Umschlag bedingte, mischt sich nun aus der Perspektive der „Ohrenzeugin“ ein Subtext, der eine eigene Dynamik entwickelt. Denn im Übersetzen der Lehrerin, die das fremde Wort dem Verstehen zuzuführen sucht, erkennt Tawada eine magische Figur der eigenen Kindheit, die eine ähnlich hilfreiche Funktion hatte: „Als Kind glaubte ich an die Existenz einer unsichtbaren Fee, die in meinen Haaren saß und mir wichtige Wörter ins Ohr flüsterte.“ (ebd.) Wiederum ist es die Stimme eines geisterhaften Wesens, das hier nun die Umkehr des Bedrohlichen in ein rettendes Moment ermöglicht, wie sie in der Freude des Studenten über das wiedergefundene Wort aufscheint, welche den realen Schmerz verdrängt. Schon zuvor hatte Tawada eine eigene Wahrnehmung eingeschoben: „Das deutsche Wort »verletzt« kam mir plötzlich so vertraut vor, als wäre es auf meine Haut geschrieben. In Amerika bemerkte ich oft eine körperliche Nähe zur deutschen Sprache.“ (Diese Formulierung evoziert noch einmal die oben am Roman Ein Gast skizzierte Aufnahme der fremden Stimmen als trennendem, eine Verletzung markierenden Einschnitt). Während der amerikanische Student das Gesprochene noch nicht spontan verstehen kann, erfasst Tawada das Wort körperlich mit dem Wahrnehmungsorgan ihrer Haut. Gerade weil sie selbst nicht verletzt ist, evoziert des Gehörte die Vorstellung einer Art akustischer Inschrift: es trägt sich auf der Oberfläche ihres Körpers ein, eine eigentümliche Art der Verletzung, ja, der Verwandlung der gesprochenen Sprache in (Körper)Schrift. So knüpft sich auf zweifache Weise in das Netz der aufgefangenen Sprachfetzen die Erinnerungsspur an Früheres. Die durch die Löcher im Sprechvorgang hindurchgreifende Rede über den Schmerz wird zum Paradigma einer anderen Wahrnehmung, welche nicht zuletzt auch die Differenz zwischen der Art des Meinens und dem Gemeinten aufhebt im Aufscheinen eines Anderen – der Freude auf der Seite des Studenten, der Wahrnehmung jener ‚körperlichen’ Dimension der Sprachauffassung bei Tawada. Wie sich zeigt, hat diese Szene weniger episodischen als paradigmatischen Charakter. Monikas deutsch formulierte Frage nach der Verletzung wird nämlich später im Essay wörtlich wieder aufgenommen und nun auf Überlegungen zu Wittgensteins fragmentarischen Notizen über die Möglichkeiten, Schmerz sprachlich auszudrücken bzw. den Schmerz des anderen zu erfassen, bezogen; an dieser Stelle hebt Tawada auch die für sie wesentliche Tatsache, dass Wittgenstein deutsch geschrieben hat, besonders hervor. In Wittgensteins Text „wiederholte sich“, so Tawada,

das Beispiel des Schmerzes [...] so penetrant, daß es seinen Status als Beispiel verlor. Die Schmerzen rückten in die Mitte des Textes und stellten dem Leser die Frage: Wie kann man über Sprache nachdenken, ohne über Schmerzen nachzudenken? »Haben Sie sich verletzt?« Ein Fragesatz, der nach Wunden, Verletzungen, Krankheiten und Schmerzen fragt. Ein Ursatz, mit dem Sprache beginnt. Während ich von den Schmerzen spreche, sind sie abwesend, nur deshalb kann ich überhaupt sprechen. (Überseezungen, 108)

Indem sie hier zitathaft das zuvor aufgezeichnete Spracherlebnis mit anklingen läßt, verleiht Tawada den Überlegungen Wittgensteins nun einen eigenen Akzent. Obwohl sie bekennt, dass sie diese „seit einem Monat [...] so interessant wie noch nie“ fand (ebd.), geht sie dennoch argumentativ nicht weiter darauf ein; statt dessen zeigt sie an dem Beispiel ihrer eigenen Hörerfahrung am MIT (»Haben Sie sich verletzt?«) auf, wie das Sprechen über den Schmerz diesen aus dem Blick verlieren und in einer die kommunikative Funktion der Sprache durchkreuzenden Verknüpfung in ein anderes umschlagen kann. Deshalb  stellt sie nun der Frage nach der Verletzung die Frage nach der Vernetzung der Welt im Kontext einer kritischen Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Kommunikationsmedien und Aufzeichnungssystemen gegenüber. Dies problematisiert sie dann explizit im Bezug auf das Verhältnis von (räumlicher) Nähe und Distanz [12]:

Man sagte mir, die Welt sei vernetzt, die Entfernung spiele keine Rolle mehr. Es schien mir aber so, als ob nicht die Entfernung, sondern die Nähe keine Rolle mehr spiele. Auch jemandem, der nebenan sitzt, kann man eine E-Mail schicken. Ist die Welt wirklich vernetzt oder ist sie vielleicht verletzt? (Überseezungen, 101)

Nähe und Distanz werden hier gleichwohl nicht allein in räumlichem Sinne, sondern vor allem auch (nun in Anknüpfung an die Sprachtheorie Benjamins) im Bezug auf Ähnlichkeit, Unterscheidbarkeit und Austauschbarkeit thematisiert. Darauf verweist das Sprachspiel „vernetzt“ / „verletzt“, das den Abschnitt abschließt; darauf verweist aber auch eine im Anschluss daran aufgezeichnete Episode von der festgestellten Ähnlichkeit der Kleidungsstücke (Text-ilien), die sie und ihre Kollegin tragen, welche dann die Erzählung von dem in der Reinigung vertauschten Kleid hervorruft. Tawada vergleicht diese Begebenheit explizit mit ihrer eigenen Spracherfahrung (101f.), schiebt hier aber auch noch ein anderes Sprachspiel ein, nämlich die kurz zuvor beiläufig erwähnte, vom Rechtschreibprogramm des Computers vorgeschlagene Ersetzung des Namens „Derrida“ durch „Dreirad“: „Zwei Dinge, die sehr ähnlich aussahen, konnten ganz anders gemeint sein“ (Überseezungen, 101; Hervorhebung C.I.). Hier geht es nicht allein um den komischen Effekt der paronomastischen Umstellung; hier wird die Art des Meinens zur Entscheidungsfrage.[13] Alle drei argumentativ aufeinander bezogenen Fälle von Ähnlichkeit fordern einen Akt des Unterscheidens. Im Computerbeispiel geht es um Annahme oder Ablehnung der von der Maschine vorgeschlagenen Variante „Dreirad“ statt „Derrida“; der von Tawada und ihrer Kollegin spontan vorgenommene Vergleich der Kleidungsstücke führt zur Feststellung der Nicht-Identität der verglichenen Objekte und verweist darüber auf die Vorgeschichte der „Adoption“ des Kleids, zu welcher sich die Kollegin aufgrund einer Verwechslung in der Reinigung nolens-volens gezwungen sah. Das hier thematisierte Unterscheiden des Ähnlichen mit der daraus resultierenden Entscheidung in Bezug auf die Bewertung der Ähnlichkeit beschränkt sich in allen drei Fällen aber nicht auf die bipolare Operation; es lässt, und das scheint mir hier das Wesentliche zu sein, im Zwischenraum zwischen dem Gemeinten und der jeweiligen ‚Art des Meinens’ noch ein Anderes (Drittes) hervortreten, das weder in dem einen („Derrida“) noch dem zweiten („Dreirad“) aufgeht. Die zuletzt genannte Bedeutungsverschiebung fügt sich innerhalb des Essays noch in ein weiteres, leitmotivisch eingesetztes, Paradigma ein, das der Erfahrung. Ausgehend vom „Fahrstuhl“ zu Beginn des Kapitels werden unterschiedliche Fortbewegungsarten entfaltet vom „Fahrradunfall“ über das „Dreirad“ bis hin zum „Rattern kleiner Räder“, das Tawada später „aus der Richtung des Fahrstuhls“ vernimmt: „Genau wie der Walkman waren diese Räder bei jungen Menschen angewachsene Körperteile“ (Überseezungen, 108).[14] Es sind Beispiele für zeitgenössische Formen der Verschmelzung von Fortbewegung, Raumerfahrung und akustischer Wahrnehmung mit dem Körper, die dessen Integrität nicht unangetastet lässt   –  „Ist die Welt wirklich vernetzt oder ist sie vielleicht verletzt?“ (Überseezungen, 101; auch dieser Satz ist schon eine akustische Erfahrung). Tawadas Essay scheint nun also – wie in Der Klang der Geister entworfen – in der akustischen Mitschrift eines paradigmatischen Nachmittags am MIT über Knotenpunkte moderner wie zeitgenössischer Sprachtheorie selbst ein Netz auszuspannen, in dessen Zwischenräumen sich das Echo eines Anderen vernehmen lässt.  
Im Gegensatz zum früheren Essay Der Klang der Geister fokussiert Die Ohrenzeugin im Titel geradezu programmatisch nun aber nicht mehr das, was sich Gehör verschafft, sondern konzentriert sich auf die Person, die über ihr Ohr Zeugnis vom Gehörten ablegt. Mehrfach hat Tawada in ihren Texten gerade das Ohr als Organ der Empfängnis und der daraus entspringenden Erzählung dargestellt, so etwa im oben angesprochenen Roman Ein Gast (1993), wo die Protagonistin über Ohrschmerzen klagt, die von dem konsultierten Arzt dann als Schwangerschaft diagnostiziert werden. Im Band Überseezungen orientiert sich Tawada allerdings vorrangig an dem seit ihrem Roman Das Bad (1989) leitmotivisch entwickelten Organ der Zunge (ich erinnere noch einmal an die drei lingualen Regionen Euroasiatische Zungen, Südafrikanische Zungen, Nordamerikanische Zungen), von dem Die Ohrenzeugin nun in signifikanter Weise absticht. Sie hat also gleichsam einen Zwitterstatus – oder ist wiederum: eine Membrane – zwischen den Wahrnehmungs- und den Sprechorganen (Zunge und Ohr) einerseits, zwischen der akustischen und der visuellen Wahrnehmung (Augenzeugin / Ohrenzeugin) und deren transitorischem Moment des Umschlags von der authentisch beglaubigten Wahrnehmung (bezeugen) in die Produktivität (zeugen) andererseits.

Der aufgezeichnete Hörraum betrifft hier nun nicht mehr wie in Der Klang der Geister den polyphonen Klangraum Tokyo, sondern die vielsprachige Atmosphäre am MIT in Cambridge, Mass. War der dort erinnerte Raum der Kindheit, der sich zwischen der unheimlichen Erfahrung in der elterlichen Wohnung bis zum letzten, kurz vor der Abreise nach Europa mit der Freundin geteilten Wohnraum ausspannte, deutlich transitorisch konnotiert (er markierte die Schwelle zwischen alter und neuer Zeit, Wachen und Schlafen, Bekanntem und Unbekanntem, Bleiben und Gehen, Japan und der außerhalb Japans liegenden Welt), wird nun die Reisebewegung, die die Autorin an das Bostoner Institut geführt hat, gleichsam fixiert in dem kleinen Büroraum, den sie dort kurz nach 15 Uhr erreicht, und in dem sie drei Stunden später von einer deutschen Kollegin aufgesucht werden wird. Strukturell vergleichbar dem Konzept eines „Reisens aus der Muttersprache heraus“, wie es der 2003 in japanischer Sprache publizierte Essayband Exophonie entwirft,[15] setzt auch dieser Text Tawadas ein mit dem Austreten aus einem bewegend-bewegten Innenraum (hier ist es der Fahrstuhl) und klingt aus im Lauschen auf die sich nähernde Gestalt der Kollegin Monika, die bereits vor ihrem Eintreffen an ihrem Schritt erkannt wird. Ihr voraus läuft deren habitualisierte Sprachgeste „Hör’ mal“, welche die Erzählerin bereits antizipiert, noch bevor sie überhaupt sprachlich-akustisches Ereignis geworden ist:

[...] „Hör mal!“ war eindeutig eine stärkere Aufforderung als „Sag’ mal!“. Das Hören bindet einen Menschen an die Stimme der anderen, es hat etwas Verbindliches. „Hör’ mal!“ Es kam mir immer so vor, als wäre das Hören genau das, worum sie mich eigentlich bittet. „Hör’ mal!“ Ja, ich werde weiter hören, ich werde mich mit nichts anderem mehr beschäftigen als damit, alles Hörbare und Nicht-Hörbare zu belauschen. (Überseezungen, 114)

In dieser Anerkennung des Hörens auf „die Stimme der anderen“ als einer in die Zukunft reichenden verbindlichen Aufgabe – eine Intention auf das Hören analog zur Intention auf die Sprache bei Benjamin – lässt sich schließlich der ethische Grund des ästhetischen Konzepts von Tawada im Spannungsfeld von Exophonie und Echophonie erkennen, wie ich es an anderem Ort bereits exemplifiziert habe.[16]
In einem weiteren Gegensatz zu Der Klang der Geister befindet sich „die Ohrenzeugin“ seit dem Austreten aus dem Fahrstuhl nicht mehr selbst in einem transitorischen Zustand, vielmehr verschmilzt ihr Ohr, ihr Körper mit dem Raum, der nun als ein Knotenpunkt diverser von außen her eindringender aktueller Klangereignisse erscheint: „Jeder Raum belauschte heimlich die Geräusche der Außenwelt. Der Flur glich einer Reihe nummerierter Gehörorgane. Mein Gehörorgan trug die Nummer 320“ (Überseezungen, 97). Die Perspektive der Aufzeichnung ist nicht mehr die eines reflektierenden Rückblicks auf die eigenen Anfänge, sondern die synchrone Mitschrift des akustischen Panoramas eines Nachmittags am MIT. Dabei dominiert in auffälliger Weise der pragmatische Aspekt der Sprache – die Übermittlung von Informationen – den Austausch der Sprecher untereinander; Tawada verzeichnet hier das nahezu vollständige Spektrum zeitgenössischer Kommunikationsmedien und Aufzeichnungssysteme. Gerade in dieser radikalen Gegenwartsbezogenheit unterscheidet sich der spätere Essay nun eminent vom früheren Klang der Geister. Die Ohrenzeugin haftet an der Oberfläche des Hörbaren, das jetzt nicht mehr auf seine transzendente Kapazität hin befragt wird, sondern dem Diesseitigen akustische Gestalt verleiht. Während das Auffassen des Hörbaren in Tokyo gerade das in der Polyphonie des Raumes aufscheinende unsagbare Jenseitige mit umfasste, ja die Intention des Hörens sich gerade darauf richtete, jenen sprachlosen Stimmen im Netz des Textes Gehör zu verleihen, scheint es hier um den Versuch zu gehen, in der polyphonen Vielfalt, die der Raum bündelt, das Unterscheidbare zu erkennen und zu verzeichnen. Die im früheren Essay vorrangig akzentuierte dezentrierend wirkende Erfahrung der Mehrstimmigkeit erscheint nun verschoben in die zielgerichtete Erfassung jener spezifischen Vielsprachigkeit, die das Institut definiert; die Raumerfahrung wird zur paradigmatischen Spracherfahrung. Die Situierung der Sprecher verbindet sich mit der Parzellierung des Raums (vgl. den oben erwähnten Zusammenhang von Zelle/Seele im Essay Erzähler ohne Seelen), welche eine übergreifende Raumerfassung und entsprechend weitreichende Orientierung unterläuft. Ein Überblick über den Gesamtkomplex des MIT ist auf diesem Wege kaum zu gewinnen, die Grenzen nach außen sind unabsehbar, erfasst wird allein die nächste Umgebung, der Flur mit den nummerierten „Gehörorganen“. Andererseits sind auch die einzelnen räumlichen Segmente nicht streng voneinander abgegrenzt; sie sind klangdurchlässig, die Türen stehen offen, es herrscht eine beständige Fluktuation der Personen zwischen diesen Räumen, die auch nicht definitiv von Einzelnen in Besitz genommen, sondern abwechselnd genutzt werden (Tawada besetzt das Büro von Bernd; den Computer benutzt sie gemeinsam mit Ginhua). Diese Art zeitlich segmentierter Nutzung des Raums, dessen Grenzen durchlässig bleiben, kann als Modell einer zeitgenössischen Praxis von Vielsprachigkeit entziffert werden, die permanenter Austausch, Wechsel und Durchdringung sowie Unabgeschlossenheit kennzeichnen. Die Aktualität der akustischen Mehrfachbesetzung signalisieren die immer wieder einander überlagernden Gesprächsfetzen aus den anderen Büros und dem Flur. Im Hören auf das Gesprochene kommt es wiederholt zu Interferenzen von Sprach- und Sprecherentzifferung, Bedeutungsbildung und Bedeutungsauflösung im Klangteppich.

Tawada zeichnet die akustische Begegnung mit den verschiedenen dort ‚vertretenen’ Sprachen auf, teils indem sie Gespräche mitanhört, teils indem sie selbst Gespräche mit einzelnen Kollegen führt. Vielfach kommt es zur Klangüberlagerung, welche die eine Sprache stärker hervor- oder eine andere zurücktreten lässt. Vor dem Hintergrund des hier – in den USA, in Cambridge, im Institut – multilingual geprägten, wenngleich anglophon dominierten Sprachraums beginnt Tawada die japanische Sprache, aber auch ihre deutsche Sprachkompetenz anders als bisher wahrzunehmen. Dies betrifft zum einen die Eigenwahrnehmung, die sie ihr Verhältnis zu den von ihr gesprochenen Sprachen über die beiden komplementären Topoi ihres Schreibens Haut (Membran) und Bauch (Einverleibung) different beschreiben läßt (beide konvergieren im oben erwähnten Motiv der Trommel, das, und dies scheint besonders für das hier zentrale Hören relevant, auch das Trommelfell mit einschließt): „Ich war ins Japanische hineingeboren worden, wie man in einen Sack hineingeworfen wird. Deshalb wurde diese Sprache für mich meine äußere Haut. Die deutsche Sprache jedoch wurde von mir hinuntergeschluckt, seitdem sitzt sie in meinem Bauch.“ (Überseezungen, 103). Zum zweiten betrifft es den Eindruck, den beide Sprachen in differenten Kulturräumen erwecken. In Bezug auf das Japanische empfindet sie in Amerika „Erleichterung darüber, daß diese Sprache hier zum Alltag gehörte.“ Dagegen müsse man in Deutschland „immer so tun, als wäre Japanisch eine exotische Sprache“ (Überseezungen, 97). Umgekehrt berichtet sie davon, dass sie in Deutschland „immer als eine Fremde betrachtet“ wurde, „die die Sprache der Einheimischen von außen antastet. Amerikanische Studenten dagegen zweifelten nie daran, daß Deutsch eine meiner Sprachen war, so wie Englisch ihre Sprache war.“ (Überseezungen, 109). An dieser Stelle überführt Tawada ihre Privaterfahrung explizit in die Kulturkritik, wenn sie einerseits die in Amerika gesetzte Prämisse, „daß Englisch für alle Kulturformen einen Raum bieten könnte“ (ebd.), bedenkt, andererseits die sowohl in Deutschland wie in Japan jeweils gängigen Vorurteile in Bezug auf den Gebrauch der eigenen Sprache durch fremde Sprecher berührt. Während „die meisten Japaner gerade durch die Unantastbarkeit der heiligen Muttersprache ihre nationale Identität sichern wollen“ (ebd.), seien in Deutschland viele der Meinung, „daß man eine Fremdsprache nie so gut beherrschen könne wie die Muttersprache“, wobei das Gewicht der Aussage auf der Frage der „Beherrschung“ liege (Überseezungen, 110). 

Am MIT richtet sich Tawadas Aufmerksamkeit, so hat es zumindest in diesem deutschsprachigen Text den Anschein, weniger auf die japanische Sprachgemeinschaft als sie sich intuitiv eher deutschen Sprechern zuwendet, deren Idiom andere gleichzeitig auftretende Ströme immer wieder in den Hintergrund treten lassen („die Stimme des Studenten, der Deutsch sprach [..] löschte die japanischen Stimmen in meinem Gehörfeld aus und nahm es für sich allein in Anspruch“; Überseezungen, 97). Während sie in Amerika „oft eine körperliche Nähe zur deutschen Sprache“ bemerkt (Überseezungen, 96), bewirkt umgekehrt die Selbstverständlichkeit ihres eigenen Verstehens des Japanischen eher Distanz. Das Unverständliche hingegen, das anderen hier auftretenden Sprachen eignet, wird von ihr dann weitaus schärfer wahrgenommen. Ein auf dem Gang vor ihrer Bürotür auf chinesisch geführtes Gespräch ruft in ihr starke sinnliche Reminiszenzen wach: „Es klang erdig duftend, kräftig, dennoch spielerisch, wie in einem alten Maskentheater“ (Überseezungen, 110f.); die Sprecher sind ihr bekannt und können über ihre Stimmen identifiziert werden, ohne dass sie das Gesagte verstanden hätte. Ganz anders verläuft ihre Wahrnehmung des Französischen. Während einer kurzen Begegnung mit der Kollegin Seto wird das auf englisch geführte Gespräch plötzlich überlagert von ‚Klangabfällen’ einer anderen Sprache, die Tawadas Hören ablenken und ihr Verstehen unterbrechen:

Französische Lautfragmente sprangen aus dem Raum heraus, die heiter, spontan und reizvoll klangen. Sie drangen durch das Netz aus Setos Stimme und erreichten mich, ohne daß ich sie verstand. Plötzlich konnte ich Setos Englisch nicht mehr verstehen. Englische und französische Wärter vermischten sich, wirbelten in der Luft umher und lösten sich vom Ablauf der Klanggesten, die Bedeutungen zu erzeugen schienen. Eine Wolke aus fremden Lauten entstand und wuchs in meine Ohren hinein, der Materialüberschuß der Sprachen quoll über und rutschte über den Gehörsinn hinweg. (Überseezungen, 105)

Diese faszinierende Erfahrung eines überbordenden Hörens veranlasst Tawada zu einem abwägenden Vergleich der nichtidentischen Besetzung von „overhear“ im Englischen und „überhören“ im Deutschen. Beide Worte aber, so zeigt sich, decken nicht ab, was ihr hier widerfuhr. Denn in ihrer Situation führte das überschüssige ‚Sprachmaterial’ dazu, dass sie gar nichts mehr verstehen konnte:

Ich schüttelte meinen Kopf, schüttelte dabei französische Scherben ab und konzentrierte mich auf Setos Stimme. In ihrem Sprachgewebe blieben Löcher, sie bestanden aus Atempausen, Füllwörtern und auch aus Wörtern, die ich nicht kannte. (Überseezungen, 106)

Auch hier knüpft Tawada noch einmal an das früher in Der Klang der Geister Gesagte an, freilich um es in einem neuen Sinn weiter zu entfalten. Die schockhaft wahrgenommenen „Löcher im Sprachgewebe“, die Lücken im Verstehen markieren (schon früher einmal hatte ihr, so erinnert sie sich jetzt, eine hörbehinderte Wissenschaftlerin in der Schweiz von den Löchern „im Netz ihrer Klangwelt“ berichtet; ebd.), fasst Tawada nun als unabdinglich für die Konstruktion von Bedeutungen auf: „Die Löcher dürfen nicht zugestopft werden, sonst kann man nichts mehr verstehen. Man braucht freie Plätze, auf denen die Bedeutungen zusammengebastelt werden können“ (Überseezungen, 106). Walter Benjamin hatte in einem vergleichbaren Abschnitt der Berliner Kindheit um 1900 auf „Worte oder Pausen“ im Klangfluss hingewiesen, „die uns auf jene unsichtbare Fremde schließen lassen“; ihm bedeuteten sie die Vorahnung der Zukunft.[17] Tawada nutzt die Seto-Episode, um ihre frühere Vorstellung vom Netz erneut aufzugreifen, das die literarischen Texte bilden, um in dessen Schwingungen die ‚abgefallenen Töne’ aufzufangen. Die zwischen zwei Telefongespräche eingeschobene Episode bietet ihr Gelegenheit, einen Zwischenraum aufzuweisen, und fungiert nun erneut wie eine Art ‚Lücke’, an deren Rändern sich ein Anderes abzuzeichnen beginnt. Andererseits veranlassen sie die Telefongespräche selbst zu einigen Reflexionen über die zeitgenössischen Kommunikationsmedien, über das Verhältnis von Körper und Stimme („Kann eine Stimme aber wirklich unabhängig von einem Körper existieren?“ Überseezungen, 100), wie über die Rückbindung des Telefonierens an die Elemente, führen also ebenfalls assoziativ über deren Informationsgehalt hinweg in einen anderen Raum; wiederum ist es das Vermögen Ähnlichkeit herzustellen, das hier im eigentlichen Sinne vermittelnd wirkt. Eine Reminiszenz an Joseph Beuys’ Erdtelephon und eine Kindheitserinnerung an ihr erstes „Überseegespräch“ mit Hilfe einer Muschel (Überseezungen, 99) leiten über zur Blüte der Magnolie, die sie, so erinnert sie sich, einmal gegen das Ohr drückte, „weil sie wie eine Muschelschale aussah“. Tawadas spontane Geste erklärt sich aber nicht allein durch die visuelle Ähnlichkeit; sie gilt erneut dem hier vermuteten „Klang der Geister“: „Im japanischen Altertum glaubte man, daß die Geister auf Magnolienbäumen landen.“ Diese traditionelle Vorstellung prägt dann auch ihr Erlebnis der Magnolienbäume im Bostoner Stadtteil Beacon Hill:

Die Blüten öffneten sich, als seien sie die Ohren der Bäume, sie fingen die lautlosen Wörter auf, die aus dem Himmel fielen. [...] In der Abendstille schwebten leuchtende Gehörorgane. Einige waren errötet, andere nahmen die Sterne vorweg, die erst später am Himmel erschienen. (Überseezungen, 99)

Im Außenraum entfalten die Bäume andere, „leuchtende Gehörorgane“; sie bilden damit einen klaren Gegensatz zu den nummerierten Büroräumen des MIT. Es ist ein poetisches, lautloses, in Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen ausgreifendes Innehalten im unaufhaltsamen Fortgang der akustischen Aufzeichnung dieses Nachmittags, das sich hier einschiebt, die synästhetische Rückverwandlung des Hörens – eine Botschaft ohne Mitteilung – in ein gleichzeitig bewegtes und still stellendes Bild, das ganz es selbst, das intentionslos geworden ist.[18]

Gegen Ende des Essays pointiert Tawada dann ihre im exophonen Raum gemachten Erfahrungen noch einmal in einem programmatischen Sinn, der ihre Existenz nicht weniger als ihre Schreibpraxis betrifft. Unüberhörbar ist dabei die dezidiert kulturkritische Akzentuierung ihres Resümees:

Manchmal denke ich, daß man vielleicht genauer horchen soll statt sich entscheiden zu wollen. Durch das Horchen kann ich eine Schwingung finden, die mich weiterträgt. Sie kennt nicht die Trennung zwischen innen und außen, müssen und wollen, abwarten und handeln. Horchen heißt nicht gehorchen, aber viele Menschen horchen nicht gerne, weil es eine passive Haltung ist. (Überseezungen, 112)

Tawada formuliert hier Vorbehalte sowohl gegenüber Prämissen des westlichen Bewusstseins (der im Alltag pervertierte Drang „sich entscheiden zu wollen“ als Garant für die konstitutive Bedeutung der Freiheit) wie gegenüber Stereotypen des westlichen Blicks auf Japan (Passivität, unbedingte Bereitschaft zum Gehorsam). Ihre Intention auf das Hören, wie sie sie ganz am Schluss als Antwort auf das erwartete „Hör’ mal!“ emphatisch zum Ausdruck bringt: „Ja, ich werde weiter hören, ich werde mich mit nichts anderem mehr beschäftigen als damit, alles Hörbare und Nicht-Hörbare zu belauschen.“ (Überseezungen, 114) artikuliert demgegenüber das Bekenntnis zu einer Offenheit für den Anruf des Anderen, die beispiellos scheint. Zum Vergleich sei abschließend erinnert an Elias Canettis sarkastisches, von den Umständen seiner Epoche gezeichnetes Gegenstück, das Porträt Der Ohrenzeuge. Dieser hat das Profil des mörderischen Denunzianten, er ist „der Henker persönlich“, „er weiß alle Orte, wo es etwas zu hören gibt, steckt es gut ein und vergißt nichts“, alles, „selbst was er nicht versteht, merkt er sich genau und liefert es aus, wenn es gewünscht wird“.[19] Tawadas Ohrenzeugin dagegen sucht nicht das Gehörte preiszugeben, im Nennen zu denunzieren, auszuliefern, sondern „alles Hörbare und Nicht-Hörbare“ zu bewahren, ihm im Raum der Sprache Aufnahme, Asyl zu gewähren. Die derart echophone Einstellung von Tawadas Ohrenzeugin ermöglicht so eine Form der Partizipation, die sie in ein Jenseits der Spannung von Eigenem und Fremden, der Aneignung und Beherrschung einzelner Sprachen und der von ihnen besetzten Räume trägt. Das Hören auf die Sprache bekommt eine unerhörte transformatorische Dynamik („eine Schwingung [...], die [...] weiterträgt“); vor allem aber löst es das bipolare Denken tendentiell auf. Solches Hören schafft ein anderes Verbindliches als die geläufige, durch Nation und Territorium bestimmte Auffassung von Sprache. Tawadas über das Hören gleichsam als Echoschrift erzeugtes Netz, das auffängt und weiterträgt, kann nicht nur – und dies nun im deutlichen Gegensatz zu den zeitgenössischen Kommunikationsmedien – darauf verzichten, „eine sinnvolle Botschaft zu vermitteln“;[20] es ist, zumindest seiner Intention nach, auch frei von der Notwendigkeit eine Sprache zu beherrschen oder mittels Sprache Herrschaft auszuüben.

 

Endnoten

1 Tawada, Yoko: Spiegelbild. In: dies., Aber die Mandarinen müssen heute abend noch geraubt werden. Tübingen: Konkursbuchverlag 1997, S. 21.
2 Tawada, Yoko: Überseezungen. Tübingen: Konkursbuchverlag 2002. 3 Ebd., S. 95-114.
4 Tawada, Yoko: Ein Gast. Tübingen: Konkursbuchverlag 1993.
5 Vgl. Lautréamont: Les Chants de Maldoror. In: ders., Œuvres complètes. Textes établis, présentés et annotés par Pierre-Olivier Walzer. Paris 1970, S. 41-252.
6 Zum Topos des ‚Kästchens der Erinnerung’ vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999.
7 Barthes, Roland: S/Z (1970). Übersetzt von Jürgen Hoch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1987.
8 Eine weitere Anspielung auf  den Zusammenhang von S/Z sehe ich im Essay Erzähler ohne Seelen (im Band Talisman. Tübingen: Konkursbuchverlag 1996; S. 16-27), wo Tawada das Klangverhältnis von „Zelle“ und „Seele“ dekonstruiert.
9 Barthes, S. 110.
10 Tawada spielt hier auch an eine in Japan besonders in Kriegszeiten bekannte, noch im Zweiten Weltkrieg geübte, Praxis an. Bevor sie in den Krieg ziehen, hinterlassen die Kämpfer zu Hause ihre abgeschnitten Fingernägel, die, falls sie an unbekanntem Ort fallen sollten, von den Verwandten begraben werden, um der Seele die Befreiung aus dem Körper zu ermöglichen.
11 In Talisman. Tübingen: Konkursbuchverlag  1996, S.109-120.
12 „Nähe“ wird aber auch schon an den oben bezeichneten Stellen thematisiert, wo es um Verletzung geht. Im Kontext der auf oben zitierten Frage an den amerikanischen Studenten hatte Tawada ja bereits ihre Empfindung „körperliche[r] Nähe zur deutschen Sprache“ (Überseezungen, 96) thematisiert, und im Zusammenhang der Bemerkungen über ihr Interesse an Wittgenstein notiert sie, dass an diesem Ort eine Beschäftigung mit Chomsky vielleicht näher liegender gewesen wäre (Überseezungen, 109).  
13 In der so pointierten Formulierung klingt zugleich eine zentrale Stelle in Benjamins Übersetzer-Essay an; er fordert hier „in der Intention vom Gemeinten die Art des Meinens zu unterscheiden“. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In. ders., Gesammelte Schriften. Band IV, 1. Hrsg. Tilman Rexroth. Frankfurt a.M. (Suhrkamp Verlag) 1972, S. 14.
14 An dieses Motivnetz ließe sich dann auch über die Verbindung Räder-Rollen ein weiteres anknüpfen, das von der Fort-bewegung zur Rolle im Maskentheater überleitet, wie es später im Kontext des Chinesischen erwähnt wird (Überseezungen, 110). 9; vgl. die auffällige Wiederholung des Begriffs in Verbindung mit der Thematisierung der zeitgenössischen Überbrückung von Entfernungen in der oben zitierten Passage: „Man sagte mir, die Welt sei vernetzt, die Entfernung spiele keine Rolle mehr. Es schien mir aber so, als ob nicht die Entfernung, sondern die Nähe keine Rolle mehr spiele“ (Überseezungen, 101; Hervorhebung Verf.).
15 Vgl. Yoko Tawada: Ekusophonii: bogo no soto e deru tabi. [Exophonie: Reisen aus der Muttersprache heraus]. Tokyo: Iwanami Shoten, 2003.
16 Vgl. Verf., Exophonie, Echphonie. Resonanzkörper und polyphone Räume bei Yoko Tawada. In: Jahrbuch für Gegenwartsliteratur. Band VI. Hrsg. P.M.Lützeler. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2008.
17 Vgl. hierzu den Abschnitt Eine Todesnachricht: „Man hat das déjà vu oft beschrieben. Ist die Bezeichnung eigentlich glücklich? Sollte man nicht von Begebenheiten reden, welche uns betreffen wie ein Echo, von dem der Hall, der es erweckte, irgendwann im Dunkel des verflossenen Lebens ergangen scheint. Im übrigen entspricht dem, daß der Chock, mit dem ein Augenblick als schon gelebt uns ins Bewusstsein tritt, meist in Gestalt von einem Laut uns zustößt. Es ist ein Wort, ein Rauschen oder Pochen, dem die Gewalt verliehen ist, unvorbereitet uns in die kühle Gruft des Einst zu rufen, vor deren Wölbung uns die Gegenwart nur als ein Echo scheint zurückzuhalten. Seltsam, daß man noch nicht dem Gegenbild dieser Entrückung nachgegangen ist – dem Chock, mit dem ein Wort uns stutzen macht wie ein vergessener Muff in unserm Zimmer. Wie uns dieser auf eine Fremde schließen läßt, die da war, so gibt es Worte oder Pausen, die uns auf jene unsichtbare Fremde schließen lassen; die Zukunft, welche sie bei uns vergaß.“ Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Band IV, 1. Hrsg. Tilman Rexroth. Frankfurt a.M. (Suhrkamp Verlag) 1972, S.251f.
18 Hier sollte nicht übersehen werden, dass eines der im Japanischen möglichen Worte für ‚Sprache’ von der Vorstellung von Blättern am Baum ausgeht.
19 Canetti, Elias: Der Ohrenzeuge. In: ders., Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere. Frankfurt a.M.: Fischer 1983, S. 42f. 
20 Vgl. Der Klang der Geister; Talisman 115.