Glossen 27

„Schreiben verwandelt mich“: Anke Biendarra im Gespräch mit Antje Rávic Strubel

Antje Rávic Strubel ist eine der erfolgreichsten deutschen Schriftstellerinnen der jüngeren Generation. SieAntje Ravic Strubel wurde 1974 in Potsdam geboren und wuchs südlich von Berlin in Ludwigsfelde auf. Nach dem Abitur machte sie eine Ausbildung zur Buchhändlerin, bevor sie in Potsdam und New York Literaturwissenschaften, Amerikanistik und Psychologie studierte. In schneller Abfolge publizierte sie die Bücher Offene Blende (2001), Unter Schnee (2001), Fremd Gehen. Ein Nachtstück (2002) und Tupolew 134 (2004). Letzteres wurde von der Kritik als Roman gefeiert, den man lesen müsse, um das Leben in der DDR in den 70er Jahren zu verstehen (Christoph Bartmann, SZ). Für Tupolew 134 erhielt Strubel den Förderpreis des Bremer Literaturpreises und den Marbacher Literaturpreis. Im letzten Jahr veröffentlichte Strubel den Roman Kältere Schichten der Luft (2007), für den sie ebenfalls mehrere bedeutende Preise erhielt. Ebenfalls erschien Vom Dorf (2007), eine Sammlung schräger Weihnachtsgeschichten und Gebrauchsanweisung für Schweden (2008), ein unkonventioneller Reiseführer.
Neben ihren vielfältigen literarischen und journalistischen Arbeiten beschäftigt Antje Strubel sich mit Literaturübersetzungen. 2007 publizierte sie die deutsche Übersetzung von Didions gefeiertem Das Jahr des magischen Denkens; dieser Tage erscheint der Prosaband Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.

Antje Rávic Strubel lebt in Potsdam, wo am 14. September 2007 auch das folgende Gespräch stattfand. Meine Reise nach Berlin und verschiedene Autoren-Interviews vor Ort wurden durch ein Stipendium des International Center for Writing and Translation (ICWT) an der University of California, Irvine gefördert.

 Anke Biendarra: Ich wäre interessiert, von Dir selber zu hören, wie Du deine eigene intellektuelle Biografie einschätzt. Wie bist Du zum Schreiben gekommen?

Antje Strubel: Ich wusste, dass ich schreiben möchte, seit ich 14 oder 15 Jahre alt war. Ich habe sehr kurze Sachen geschrieben, Dinge ausprobiert, wie man das in dem Alter so macht. Als Schülerin wurde ich ins sogenannte „Spezialistenlager für Maler und Poeten“ delegiert, eine Art Ferienlager mit Schreib-und Zeichenworkshops. Die Schulen konnten talentierte Schüler auswählen und dort hinschicken. Dort habe ich die ersten ernsthaften Schreiberfahrungen gemacht, angeleitet von einem „richtigen“ Autor…

Und wer war das damals?

Keine Ahnung. Ich hab’s leider vergessen. Ich bin ihm auch nie wieder begegnet. Aber zumindest war es das erste Mal, dass ich erfahren habe: ein Text entsteht nicht aus heiterem Himmel. Man schreibt ihn nicht hin, und dann ist er fertig. Ein Text entsteht durch Überarbeiten, durch Kürzen. Wir sollten eine Impression über eine Wiese schreiben, diese Wiese mit allen Sinnen aufnehmen und die Erfahrung beschreiben. Ich fand meinen Wiesentext grandios, voller Sinneseindrücke, ganz wie gewünscht. Als der Workshop an diesem Tag vorbei war, existierte von meinem Text nur noch die Überschrift. Der Rest war gestrichen worden, ich sollte alles noch einmal schreiben. An dieser Stelle habe ich mich zum ersten Mal gefragt: willst du das wirklich machen, schreiben?
Und ich habe weitergeschrieben. Zuerst nur sehr kurze Geschichten. Mit 22 habe ich mich dann während meines Studiums bei der Stiftung Kulturfond für ein Stipendium beworben. Ich hatte in ziemlicher Selbstüberschätzung ein Expose verfasst für einen Roman, den ich nie im Leben hätte schreiben können, vor allem, weil ich noch nicht einmal wusste, wie man überhaupt einen Roman schreibt. Aber es klappte. Ich bekam für ein Jahr ein Stipendium, man nahm mich ernst. Und ich begann, über einen Roman nachzudenken, der machbar schien. So ist das erste Buch Offene Blende entstanden.

Und Du bekamst ein monatliches Stipendium, von dem man tatsächlich leben konnte?

Das war ein Jahresstipendium, das monatlich ausgezahlt wurde. Ich weiß nicht mehr, wie viel es damals war; ich glaube 1500 Mark pro Monat. Für mich war das irre viel Geld.

Das bringt mich dann gleich zu einer anderen Frage: Wenn man Deutschland mit den USA vergleicht, dann ist die Literaturförderung hier extrem positiv, geradezu spektakulär großzügig. Ich frage alle Autoren, die ich interviewe, nach ihrer Einschätzung dieser Literaturförderungen.

Deutschland ist tatsächlich eines der wenigen Länder  – gemeinsam mit vielleicht Irland und den skandinavischen Ländern, besonders Schweden – die  sich schon relativ früh um ihre Autoren kümmern. Die Stipendien, die es hier gibt, zum Glück immer noch und die vielen Literaturpreise... das ist wirklich eine Ausnahme. Man kommt auch ohne Bestseller ganz gut durch, jedenfalls solange man noch jünger ist. Das System hat zwei Nachteile: einmal ist die Unterstützung seltsamerweise ans Alter gekoppelt, man geht davon aus, dass Debütanten immer jung sein müssen. Dabei kann man auch mit fünfzig noch Schriftstellerin werden, das ist ja das Grandiose an diesem Beruf im Gegensatz zu dem des Olympioniken. Und zum anderen besteht die Gefahr, dass sich der Wert der jeweiligen Literaturpreise relativiert, wenn es zu viele gibt oder sie nicht klar genug in ihrer Bedeutung voneinander abgegrenzt sind. Etwas weniger Preise, dafür mehr orts- und altersungebundene Arbeitsstipendien, dann wäre die Situation ideal.

Ist der Literaturbetrieb in Deutschland aus Deiner Sicht sehr überschaubar? Von außen betrachtet wirkt es immer so, als wenn ihr euch alle untereinander kennt.

Na ja, es ist natürlich schon überschaubar. Ich habe aber den Eindruck, das ist in allen einigermaßen geschlossenen Kreisen, wie der Kreis der Schriftsteller - oder im weiteren Sinne der Künstler - ja einer ist, so. Auch in den USA ist das nicht anders. Wobei sich da die Kreise häufig über die Gegend, in der man aufgewachsen ist, die Schule, die Uni, die man besucht hat, definieren. Eine bestimmte elitäre Klasse kennt sich untereinander schon qua Herkunft. Der deutsche Literaturbetrieb ist natürlich kleiner als der amerikanische. Hier kennt man sich von Literaturfestivals, gemeinsamen Auftritten, manche mittlerweile, weil sie entweder im Literaturinstitut Leipzig studiert oder dort unterrichtet haben. Dann gibt es die Berliner Lesebühnen, deren Protagonisten so eine Art Zirkel bilden, oder andere locker gefasste Grüppchen. Ich kenne die Leute von kookbooks beispielsweise ganz gut, habe einige Kollegenbekanntschaften und ein, zwei Freundschaften mit Schriftstellerinnen. Aber gerade weil der Betrieb so klein und überschaubar ist, ist es ganz gut, sich öfter auch woanders rumzutreiben.

In Deutschland hat man der Literatur von jeher eine sehr große Bedeutung zugemessen. Es gibt eine vergleichweise große Öffentlichkeit in Form von Lesungen, Festivals, den Messen etc. Überdies scheint die Konjunktur von junger deutscher Literatur in den letzten 15 Jahren zugenommen zu haben - vielleicht seit dem Fall der Mauer. Wie siehst Du das?

In den Neunzigern gab es definitiv einen Boom des jungen deutschen Erzählens. Der hat sich bis in die ersten Jahre des neuen Jahrtausends gehalten. Im Moment scheinen die Verlage ihre Publikationen allerdings zurückzufahren. Außerdem überwiegt der Trend zum superkonventionellen, historisierenden Erzählen, das nicht gerade jung, nicht gerade wagemutig oder formal besonders einfallsreich wäre. Das ist die große Linie. Demgegenüber stehen viele junge Kleinverlage wie kookbooks oder Voland & Quist, die wirklich interessante junge Autorinnen und Dichter herausbringen, zum Teil jenseits des durchgesetzten Geschmacks. Sie haben lange nicht den Umsatz und die Vertriebsmöglichkeiten der großen Verlage, aber da bewegt sich was, da wird was ausprobiert, momentan besonders in der Lyrik.  Wenn ich unterwegs auf Lesungen bin, merke ich allerdings, dass das Interesse der Leute an einer Veranstaltung wie der klassischen Lesung immer mehr abnimmt.

Wirklich? Das überrascht mich.

Ja. Leute gehen auf Festivals, das ist angesagt. Aber das sind eben Events – „Erlebnislesungen“ - man geht da hin, um ein Glas Wein zu trinken und „nebenbei“ ein bisschen Literatur zu hören. Aber die klassische Lesung in der Buchhandlung oder im Literaturhaus  ist generell schlechter besucht als früher. Buchhändler überlegen, ob sie überhaupt noch Lesungen machen können, weil der Aufwand zu groß ist im Vergleich zum Publikum. In den letzten fünf Jahren sind die Zuschauerzahlen zurück gegangen.

Hast Du eine Vermutung, woran das liegen könnte? Die Literaturkritik spricht vom Ende der Spaßgesellschaft - nach dem 11. September habe man sich abgewendet von der Popliteratur und dem unbeschwerten neuen Erzählen einer jüngeren Generation. Aber das ist als Erklärung wohl ein wenig zu einfach.

Es könnte auch mit dem Verschwinden einer bestimmten Art des Bildungsbürgertums im Westen Deutschlands zusammen hängen. Die Schicht, die früher normalerweise zu Lesungen gegangen ist, gibt es auf diese Weise  nicht mehr. Das zeigt sich daran, dass die Leute in mittelgroßen Städten beispielsweise, die noch auf eine Lesung gehen, immer älter werden. Die Jüngeren sind bei YouTube oder auf Konzerten, Festivals, in Clubs. Es hat vielleicht mit der wieder schwindenden Bedeutung eines Autors zu tun, man geht nicht wegen einer Autorin los, man geht vielleicht noch wegen eines Themas los. Aber das Format der reinen Lesung scheint überholt.

Das hatte ich nicht erwartet. Gibt es im Osten und Westen Unterschiede?

In Ostdeutschland ist die Situation noch mal eine andere, es gibt weniger Lesungen, weil einerseits weniger Geld da ist, andererseits die Menschen nach der Wende vollauf damit beschäftigt waren, sich in der neuen Gesellschaft zu orientieren. Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen mögen zwar ein guter Nährboden für die Kunst sein, ihr aber nicht unbedingt auch ein gutes Dach über dem Kopf geben. Soweit ich das überblicke, sind Lesungen im Osten dann beliebt, wenn es sich um sachbezogene Themen handelt, also um praktische Lebensanleitung oder um Zeitzeugenschaft und DDR- Vergangenheit. In Städten wie Leipzig oder Dresden beginnt sich allerdings mittlerweile auch eine junge, avantgardistische Kunstszene zu entwickeln.

Das „Leseland DDR“ hat offenbar keine Erbe im vereinten Deutschland gefunden. Heute scheinen andere Medien der Literatur tatsächlich den Rang abzulaufen.

Ich glaube nicht, dass die Leute weniger lesen. Oder ich hoffe es nicht… Aber insgesamt ist weniger Kaufkraft da. Viele Leute sagen mir, sie warten lieber auf das Taschenbuch, als das Hardcover zu kaufen. Und eine Buchhandlung, die sich gerade so über Wasser hält, überlegt es sich natürlich zweimal, ob sie eine Lesung macht, die nicht allzu gut besucht ist und auf der die Leute dann das vorgestellte Hardcover nicht kaufen.

Gibt es aus Deiner Sicht mittlerweile eine gesamtdeutsche Literatur? Ist die spezifisch ostdeutsche Perspektive weiterhin wichtig?

Ich habe mich in Tupolew 134 speziell mit einem DDR-Thema beschäftigt, mit einer Flugzeugentführung als Fluchtmöglichkeit aus dem Osten. Ansonsten beschäftigte mich die Nachwendezeit, die Veränderung in den Menschen, die ein Systemwechsel bewirkt. Die Spuren, die das Alte im Neuen hinterlässt. Mittlerweile interessiert mich weniger der Osten und der Westen oder die Reibungen zwischen beiden. Aber von diesem Interesse ist etwas übrig geblieben, was mich heute beschäftigt: die Brüche in einem Leben und die Grenzen, die ein Leben ausmachen und auf welche Weise man diese Grenzen verschieben und aufbrechen kann. Eine ostdeutsche Perspektive würde ich deshalb all der Literatur zuschreiben, die sich damit beschäftigt, wie Wirklichkeit gemacht ist, und sie nicht einfach nur abbildet, die fragt, wo die Brüche, die Nahtstellen sind. Das sehe ich bei Autorinnen wie Terézia Mora oder Julia Schoch. Die Herangehensweise ist eine andere, wenn in der eigenen Biographie eine Blickverschiebung stattgefunden hat, wenn man persönlich erlebt hat, dass Wirklichkeit konstruiert ist und demzufolge jederzeit dekonstruiert werden kann.

Ist das dann eine Literatur, die unter Umständen politischer ist?

Zumindest würde ich sagen: gesellschaftskritischer. Wacher, was die Vorgänge in einer Gesellschaft, ihre Strukturen angeht. Politisch würde ich es nicht nennen. Hinter dem Politischen lauert immer eine Ideologie oder doch zumindest eine Zweckmäßigkeit. Literatur wird funktionell, und das ist für mich keine Literatur mehr.

Was ist der Fluchtpunkt des Schreibens und des Schriftstellertums? Was ist Deine Motivation? Es gibt Autoren, die sagen, ich schreibe eigentlich immer über mich selber, dann gibt es welche, die daran interessiert sind, Gesellschaft zu beschreiben oder sich mit Geschichte befassen. In Deinem Werk gibt es sehr verschiedene Themen.

Ganz allgemein gesagt: Ich schreibe in erster Linie, weil ich in diesem Sprachraum sein will. Ich schreibe, um diesen Moment des In-der-Sprache-Seins zu erleben. Für mich ist das ein Rausch. Dann gibt es bestimmte  wiederkehrende Themen in meinen  Büchern. Da geht es unabhängig von der Handlung immer um die Frage, wer bin ich, was ist der Mensch als Subjekt? Also um die Frage nach Identität. Einmal, in Tupolew 134, ist es die Identität, die durch ein Gesellschaftssystem geschaffen wird und der versuchte Ausbruch aus diesem System. Ein andermal ist es die Geschlechteridentität und die Frage, welche Begrenzungen mit dieser Definition des Menschen über willkürlich gebündelte Körpermerkmale einhergehen. Das steht in Kältere Schichten der Luft im Vordergrund. Immer geht es auch um den Versuch von Grenzaufsprengungen, Grenzerweiterungen oder Ausbrüchen, die am Ende oft nicht funktionieren, aber zumindest versuchte Ausbrüche sind. Mein Schreiben hat insofern mit meinem Erleben zu tun, als es mit dem zu tun hat, was ich wahrnehme und warum ich es so und nicht anders wahrnehme. Ich befinde mich als Autorin in der Welt, ich beziehe mich auf sie, ich reagiere schreibend auf sie. Es gibt Autoren, die sich ins Zimmer setzen, alles verschließen und dann schreiben. Ich dagegen würde immer alles öffnen. Die ästhetische Idee ist zwar äußerst wichtig, aber was mich an einer Gesellschaft interessiert oder in ihr positioniert, spielt auch immer eine Rolle.

Manche Autoren sagen, Literatur entsteht immer aus anderer Literatur, arbeiten dementsprechend sehr intertextuell und setzen sich viel mit literarischen Vorbildern auseinander. Spielt das für dich auch eine Rolle?

Ja, unbedingt, aber nicht direkt beim Schreiben. Das würde mir den Schreibprozess erschweren.  Wenn ich in diesem Sprachraum bin, bin ich in meinem eigenen sprachlichen Universum, dort zählt nichts außer der Wirkung, die Sprache direkt auf mich hat. Würde ich während des Schreibens an  Vorbilder denken, würde mich das hemmen. Ich könnte nicht arbeiten mit dem Gedanken an die Folie im Kopf, auf der das, was ich schreibe immer auch abläuft. Denn natürlich bin ich beeinflusst von Büchern, ich habe alles erstmal durch Abgucken gelernt, aber in dem Moment, in dem das Schreiben passiert, versuche ich, dieses Wissen draußen zu lassen.  Wenn ich nicht weiterkomme, blättere ich schon hier und da  in meinen Lieblingsbüchern, und dann kann es vorkommen, dass ich einen Satz lese, einen Klang auffange, der wiederum mein Spracherlebnis anstößt, und ich komme weiter…

Gerade hast Du gesagt, dass es in Deinen Texten häufig um Ich-Geschichten geht, um die Frage, wie das Individuum in der postmodernen Gesellschaft bestehen kann. Es geht aber wohl auch um das Überschreiten von Grenzen, das Verschwimmen von Realität und Fiktion;  manchmal geschehen märchenhafte, magische Dinge. Ist das vielleicht auch ein ästhetischer Kommentar über die Unzuverlässigkeit der Wahrnehmung, über die Konstruiertheit von Realität?

Unzuverlässigkeit würde ich es nicht nennen, eher Begrenztheit. Was mich stört und womit ich mich beschäftige, ist die Verengung der Realität durch verengte Wahrnehmung. Kategorisierungen, Labels, Bezeichnungen, immer stärkere Ausdifferenzierung, bis alle Räume, in denen zuvor noch Unmögliches sich zeigen oder besser gesagt: aufscheinen konnte, so erhellt sind, dass alles immer sichtbar ist. Wo soll dann die Phantasie noch hin? Die Vorstellungskraft? Im Bezug auf Geschlechter beispielsweise wird jede kleine Abweichung sofort  benannt, beschriftet und kann damit abgelegt werden in die Schublade, damit sie nicht mehr beunruhigt, damit es die immer perfektere Ordnung nicht durcheinanderbringt.
Ich würde die schwebenden, irrealen Geschehnisse in meinen Büchern auch nicht als märchenhaft bezeichnen. Sondern eher als Abweichung von dem, was wir als Realität zu sehen gewohnt sind. Besonders in Kältere Schichten der Luft – stellen sie für mich vor allem eine Bewusstseinserweiterung, eine vorgestellte, zweite Wirklichkeit dar.

In einem anderen Beitrag hast Du gesagt, in der DDR sei man aus diesem System und den Kategorisierungen nicht herausgekommen. Im wiedervereinigten Deutschland sei es aber eigentlich noch schlimmer, weil es subtiler sei, weil man die Beschränkungen nicht auf den ersten Blick sieht.

Ja, vorher war die Mauer da. Das Eingesperrtsein war sichtbar. Und die Mauer war auch so eine Art Versprechen, dass es möglich war zu entkommen: man musste sie eben nur überwinden. Heute ist niemand sichtbar eingesperrt, jedenfalls nicht in unserem gegenwärtigen System. Die kleinen Kerker sind viel subtiler. Die Festlegungen auf ein Dasein, ein Wesen, laufen über Werbung, Markt, Geld usw. Und man sitzt in diesem bislang besten aller Systeme und stellt fest, es verschraubt sich immer mehr, wird immer roher. Aber wo dann hin?

Du bist extrem produktiv. In den letzten Jahren sind mehrere Romane erschienen, Du arbeitest journalistisch, machst Übersetzungen...

Stimmt. In den letzten beiden Jahren war es ein bisschen viel.

Du musst sehr inspiriert sein.

Es ist eine Lebensart. Ich könnte nicht leben, ohne zu schreiben. Schreiben verwandelt mich. „Rávic“ in meinem Namen steht für diesen ekstatischen Zustand, den ich beim Schreiben habe, in dem ich mich anders fühle, anders denke, Sprache anders begreife. Es ist ein Zustand, in dem ich Sprache anders erlebe als im Alltag.

Deshalb hast Du diesen Namen angenommen?

Ja. Er bezeichnet dieses etwas andere Dasein, das ich im Schreiben habe. Ich versuche so oft wie möglich, dorthin zu gelangen. Deshalb entsteht wahrscheinlich am Ende so viel. Wenn ich an einem Roman arbeite, versuche ich, regelmäßig jeden Morgen am Schreibtisch zu sitzen bis zum frühen Nachmittag, selbst wenn ich nur überarbeite oder korrigiere. Es ist der Anlauf, um in die Sprache hineinzukommen. Wenn ich das länger als einen Monat nicht tue, geht’s mir nicht gut. Wenn ich keinen Sport mache, geht’s mir nicht gut, und wenn ich nicht schreibe, geht’s mir nicht gut.

Ich finde es immer beeindruckend, wenn mir Autoren sagen: Schreiben ist mein Daseinszustand und so was wie “Writer’s block“ gibt es nicht.

Ich weiß nicht, ob es das nicht gibt, aber ich versuche, dem vorzubeugen, indem ich meistens mindestens zwei Texte habe, an denen ich gleichzeitig arbeiten kann. Neben den literarischen Texten schreibe ich hin und wieder für Zeitung und Rundfunk oder übersetze.

Ist es wichtig, wie die Literaturkritik Deine Arbeit rezipiert?

Es wäre nicht richtig zu sagen, es würde mich kalt lassen. Ich nehme mir zwar immer wieder vor, nur wenige oder am besten gar keine Rezensionen zu lesen. Aber das klappt natürlich nicht. Ich bin doch zu neugierig, und es gibt zum Glück einige Kritiker, die wirklich gute Dinge entdecken und Rezensionen schreiben, die Spaß machen. Schlechte Rezensionen kränken immer. Danach laufe ich zwei, drei Tage mit schlechter Laune herum. Die hellt sich erst wieder auf, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und arbeiten kann. Vom Arbeiten haben mich Rezensionen bisher glücklicherweise noch nie abgehalten. Und das bleibt hoffentlich so.

Hast Du auch eine Agentin oder einen Agenten?

Ja. Karin Graf.

Geht es eigentlich heute noch ohne Agentur?

Es gibt immer noch Leute, die einen festen Verlag und keinen Agenten haben. Das geht schon. Aber ich finde es sehr angenehm, dass mir die Verhandlungen mit dem Verlag abgenommen werden. Außerdem vermittelt mir die Agentur Kontakte zu Veranstaltern, andere Publikationsmöglichkeiten und hat das Ohr am Geschehen.

Lesen die Agenten die Texte auch?

Ja. Aber mit einem Lektorat ist das nicht vergleichbar. Es geht eher um eine allgemeine Einschätzung, vielleicht um die Absprache, wann das Manuskript angeboten werden sollte. Ich glaube, wie eng da der Kontakt ist, unterscheidet sich von Fall zu Fall. Ich ziehe es vor, das Manuskript erst dann aus den Händen zu geben, wenn ich mir sicher bin, dass es steht.

Letzthin erzählte mir ein Autor, das Arbeitsverhältnis zu seiner Agentin sei eigentlich die einzige Konstante, weil er mehrfach den Verlag gewechselt hat.  Wenn da ein so persönlicher Kontakt besteht, ersetzt das vielleicht die enge Beziehung zwischen Autor und Lektor, die es in den fünfziger und sechziger Jahren gegeben hat.

Mit den Lektoraten wird es immer schwieriger. Ich habe Glück. Ich habe eine sehr gute Lektorin; auch der Verlag legt Wert darauf, dass eine stabile Beziehung zu den Autoren besteht.

An dieser Stelle ist wohl auch mal ein Glückwunsch angebracht: Du bist so präsent im Literaturbetrieb und extrem erfolgreich...

Für Kältere Schichten der Luft habe ich zwei schöne Preise bekommen. Das hat mich sehr gefreut: Den Rheingau-Literaturpreis und den Hermann Hesse Preis.

Die von Dir besorgte Übersetzung von Joan Didions Das Jahr des magischen Denkens ist letztes Jahr erschienen. Was gibt es nun für neue Projekte?

Soeben habe ich die Übersetzung einer Essaysammlung von Didion abgeschlossen. Wie es aussieht, gibt es eine kleine Atempause, aber im Hinterkopf zeichnen sich, wenn auch noch undeutlich, die Umrisse für einen neuen Roman ab. Da die englische Übersetzung von Unter Schnee in Los Angeles bei Red Hen Press erschienen ist, übersetzt von Zaia Alexander, werde ich vielleicht die eine oder andere Lesung damit in den USA machen…

Das ist schön. Dann kann man Deine Texte jetzt auch in Undergraduate-Kursen lesen, die auf Englisch unterrichtet werden.

Ja. Ich bin gespannt, wie es ankommt.

Vielen Dank für das Gespräch.