Glossen 27

Doris Liebermann
Frühling in Prag, Winter in Berlin
Der Prager Frühling und die DDR. Ein Gespräch mit František Cerný, Botschafter a. D. der Tschechischen Republik in Deutschland

DL: Ich möchte Sie nach Ihren Erinnerungen an das Jahr 1968 befragen. Vor allem interessiert mich das Verhältnis der Tschechoslowakei zur DDR im Jahre 1968.

FC: Das magische Jahr spielte sich ja nicht nur in der Tschechoslowakei, also in Form des Prager Frühlings ab, sondern auch in Paris und in Berlin, Stichwort Studentenrevolte. Und da möchte ich gleich vorweg sagen, daß es kaum Querverbindungen und Berührungspunkte gab zwischen dem Reformprozeß in der Tschechoslowakei und den oppositionellen Bewegungen in Frankreich und Deutschland. Wir Tschechen waren damals ein wenig sehr ich-bezogen. Ich habe einen Besuch von Rudi Dutschke in Prag arrangiert, im Frühjahr 1968, und er war sehr interessiert, wie die tschechischen Studenten und die jungen Leute denken. Da habe ich dann bei diesem Podiumsgespräch auch bei individuellen Gesprächen festgestellt, was ich im Grunde genommen schon vorher ahnte: daß die Auffassungen, Meinungen und die Stimmungslagen völlig auseinander gingen. Die jungen Tschechen haben nicht verstanden, warum ein junger westdeutscher Student (aus einem Land Staat kommend, in dem die freie Rede und eine demokratische Gesellschaftsordnung herrschen, in der man alles und alle kritisieren kann) sich so über dieses repressive System beklagt, das in einem Land herrscht. Und da hat man so im Unterton, und manche haben es auch ganz offen gesagt, dem Dutschke entgegen gehalten, daß er ja gar nicht weiß, wovon er redet, denn das wirklich repressive Regime war eben das kommunistische System seit 1948 bei uns Das war ein gegenseitiges großes Missverständnis.

DL: Wie war es mit der Reaktion, die der Prager Frühling bei Menschen in der DDR hervorrief?

FC: Das war, glaube ich, wirklich eine Signalwirkung, die aus diesem Bruderland n das andere hinüberschwappte. Ich war damals, um das gleich vorwegzunehmen, Journalist. Ich arbeitete beim Tschechoslowakischen Rundfunk, überwiegend für die deutschen Sendungen.  Da haben wir dann festgestellt, daß bei diesen deutschen Sendungen, in denen wir das Geschehen in unserem Land reflektierten (nicht erst im Frühjahr 1968, sondern auch schon vorher), das Echo aus der DDR ständig zunahm.  Der Prager Frühling war ja ein längerer Prozeß, das war nicht nur ein Ausbruch, der vom Himmel gefallen ist. Im Januar 1968 wurde Dubçek zum Ersten Sekretär der KPC gewählt, doch die ganze Geschichte begann schon Jahre vorher. Das waren Jahre der Liberalisierung, des Tauwetters, wie man das nannte, und da haben wir dann im Radio ein ständig steigendes Echo aus der DDR verzeichnet.  Wir bekamen massenhaft Briefe, wir bekamen Solidaritätsbekundungen.  Die Tschechoslowakei war das Reiseland der DDR.  Es kamen damals so viele Leute zu uns, die mit uns sprechen wollten, und fragten, wie das Ganze läuft. Ich habe dies Beispiel oft erwähnt: Es kann einem Rundfunkredakteur nichts Besseres passieren, wen er sich überzeugen will, ob seine Arbeit einen Sinn hat, wenn er hört, daß seine Sendungen im Zielland gestört werden. Das ist dann auch tatsächlich geschehen. So ab April 1968 war es den damaligen Herrschenden in der DDR so unangenehmen, daß aus diesem Bruderland. nicht etwa aus diesem westlichen, kapitalistischen Erzfeind, aus dem Rias oder sonst woher, Töne zu hören waren gegen die offizielle Ideologie. Sie kennen vielleicht diesen berühmten Ausspruch von Politbüromitglied Kurt Hager, der sagte: „Wir lassen uns aus Prag keine faulen Eier ins Nest legen.“ Daß die Sendungen von Radio Prag in der DDR gestört wurden, halte ich für einen der größten Erfolge in meiner journalistischen Laufbahn.

DL. Wie lange waren Sie Journalist?

FC: Ich war Journalist seit Beginn dieses Tauwetters, sagen wir, wenn wir das Jahr 1956 als Ausgangspunkt nehmen, von 1966-1969. Dann hatte ich zwanzig Jahre lang Berufsverbot.

DL: Nun hat gerade der Rundfunk während des Prager Frühlings eine Schlüsselrolle gespielt. Die Öffnung der Medien, der Wegfall der Zensur, war den Genossen in Moskau, Berlin, Warschau, Budapest und Sofia ein besonderer Dorn im Auge. Ist es möglich, diese Sendungen von Radio Prag in einem Archiv zu finden? Sind sie vielleicht mit diesen Störungen aufgezeichnet oder archiviert worden?

FC: Ich habe mich schon einmal erkundigt und wollte wissen, ob von den Sachen noch etwas vorhanden ist.  Es wurde mir gesagt, daß das meiste verschwunden ist.  Ich habe damals ein langes Gespräch mit Günter Grass in Karlovy Vary geführt.  Das war eine der Sendungen, die damals beim Publikum in der DDR, aber auch in der Bundesrepublik und in Österreich, also da, wo man die deutschen Sendungen von Radio Prag hören konnte, großen Anklang fand. Vor allem in der DDR.  Dieses so  genannte Karlsbader Gespräch ist sogar in ein Literaturlexikon der DDR eingegangen, wo unter dem Stichwort Karlsbader Gespräch ist sogar in das offizielle Literaturlexikon der DDR eingegangen, wo unter dem Stichwort Karlsbader Gespräch über Günter Grass gesagt wird, daß er dort seinen revisionistischen Standpunkt geäußert hat.  Wir hatten ein langes Gespräch, das wurde dann in Fortsetzung gesendet zum Thema demokratischer Sozialismus.  Oder: was kann man eigentlich aus dem, was es in diesen sozialistischen Ländern gibt, machen.  Das war diese berühmte Suche nach diesem dritten, vierten, fünften Weg.

Etwas Besseres, als was es gab, in diesen Ländern, und als das, was damals in dem anderen Teil der Welt existierte. Wie Sie wissen, war ja das Jahr 68 und die Unruhen, die stattgefunden haben, eine Reaktion auf jene Zustände und Verhältnisse, wie z. B. auf den Vietnam-Krieg und viele solcher negativen Sachen, die sich damals in diesem so genannten freien Westen abspielten. Also daß man nach etwas suchte, was besser wäre als die Verhältnisse, in denen man lebte, dem realen Sozialismus, aber was auch besser wäre als das, was der so genannte freie Westen anzubieten hatte. Das war meiner Ansicht nach durchaus ein legitimes Ziel.  Günter Grass hat damals sehr gut in diesem Gespräch formuliert, und dieses Gespräch mußten wir auf Wunsch der Hörer mehrmals wiederholen.

DL: Der DDR-Hörer?

FC: Der DDR-Hörer. Und die haben dann auch gefragt, ob es nicht auch eine Abschrift davon gibt, die haben wir dann anfertigen lassen.  Aber das alles ist vernichtet worden oder in irgendwelchen Tresoren verschwunden oder in Archiven, die keine gute Registrierung haben.  Ich habe mich, wie gesagt, selbst schon vergewissert. Ich hätte gern einen Mitschnitt oder eine Aufzeichnung als Andenken an meine damalige Zeit. Ich habe nichts davon bekommen können.

Andererseits gab es den Sender Moldau, den die SED an der Ostsee hat abbauen lassen und an der Grenze neu aufgebaut hat, um die Tschechoslowakei ideologisch zu beschallen – in gleicher Manier, wie es die Nazis während der Sudetenkrise 1938 taten.
Das war eigentlich das letzte, was man sich in der Publizistik hat einfallen lassen. Das war der Hetzsender Vitava.  Unmittelbar nach dem Einmarsch wurde in Dresden eine Station etabliert, und die sollte hinüberwirken in die Tschechoslowakei. Dort waren die übelsten konservativen Kräfte, die sich diesem Sender, der von der DDR bezahlt wurde, zur Verfügung stellten. Natürlich wurde das alles von der DDR organisiert.  Darüber gibt es einen schriftlichen Sammelband, das kann man heute nachlesen. Dort sind die meisten dieser Beiträge abgedruckt. Katastrophal, diese ganze Argumentation, die Art und Weise, wie man das dargebracht hat. Teilweise auch in schlechtem Tschechisch, was natürlich in den tschechischen Orten bemerkt wurde., dieser merkwürdige deutsche Akzent...

DL: Sudetendeutscher Akzent?

FC: Nein, das waren keine Sudetendeutschen. Das waren wirkliche Bohemisten, die man angeheuert hat, und das wirkte alles ausgesprochen kontraproduktiv. Das hat nicht einmal bei den sehr konservativen Schichten der Bevölkerung, die auf dem Wege waren, sich mit den Besatzern zu arrangieren, Anklang gefunden. Und bald danach wurde dieser Sender ja auch eingestellt.

DL: Im Frühjahr 1969 auf Beschluß des SED-Politbüros.

FC: Jedenfalls gibt es diese Sendung heute schriftlich, weil die SED-Funktionäre meinten, daß sie das als Propaganda unter die Leute bringen müßten.  Das alles wurde dann irgendwo in der DDR gedruckt. Katastrophale Kommentare. Es wäre ganz interessant, das heute einmal nachzulesen.

DL: Es gab bei Radio Prag österreichische und deutsche Sendungen. Gab es einen Unterschied in der Thematik?

FC: Ich würde sagen, die Auslandssendungen des Tschechoslowakischen Rundfunks gehören neben den Auslandssendungen der BBC zu den ältesten überhaupt. Die begannen schon in den späten 20er Jahren.  Und gleich nach der BBC hat auch Radio Prag sich für Auslandssendungen interessiert und sie ins Programm genommen.  Die in deutscher Sprache gehörten zu den wichtigsten. Es gab auch Auslandssendungen in Englisch und Französisch. Es gab dann eine sehr lange Zeit – in der ersten Republik zwischen 1918 und 1938, also in den Jahren vor München – wo man überlegt hat: Wie soll man eigentlich im Rundfunk dieser multinationalen Tschechoslowakei die drei Millionen deutschen Bürger unseres Landes ansprechen? Und einer, der sich in dieser Hinsicht sehr engagiert hat und einen noch heute lesenswerten Vorschlag gemacht hat, wie eine solche ständige Sendung in deutscher Sprache gestaltet werden sollte, die dann auf unsere tschechoslowakischen Bürger deutscher Nationalität wirken sollte, war Johannes Urzidil. Die Leute hörten ja alle Radio. Damals war das Radio das Medium Nr. 1, Fernsehen gab es noch nicht und Zeitungen wurden wenig gelesen.  Der Volksempfänger befand sich in jedem Haus. Und damals gab es schon sehr viel Hetze aus Deutschland. Da hat sich der Schriftsteller und Publizist Johannes Urzidil Gedanken gemacht, wie so eine Rundfunkanstalt aufgebaut werden sollte. Seine Ideen sind leider nie realisiert worden.  Dann kamen die Jahre 1938/39, und dann war es aus.

Nach dem Krieg wurden die Auslandssendungen dann erneuert. Es wurde dann in vielen Sprachen gesendet, in englisch, in deutsch, in spanisch, in portugiesisch. Die deutschsprachigen Sendungen wurden dann auch ein wenig zweigleisig gesendet. Manches war gemeinsam im Programm. Manches war eher abgestimmt auf Österreich, manches auf die Bundesrepublik.  Das Zielpublikum der Sendungen war ja der Westen.  Im Grunde genommen waren das Sendungen, die aus der sozialistischen Tschechoslowakei Informationen in den Westen bringen sollten. Und ich muß sagen, daß man damals in der sozialistischen Tschechoslowakei nicht ganz frei hat arbeiten können.  Trotzdem: in diesen Auslandsredaktionen herrschte in ziemlich freier Geist, denn die Zensur war schon fast abgeschafft, weil man eben in einer anderen Sprache arbeitete und der Zensor das nicht immer verstand.  Wir haben das immer so gemacht: Wir gingen zum Zensor und haben gesagt: „Das ist etwas über Kultur und Musik,“ und da hat er den Stempel draufgedrückt. Er hat das nie gehört.  Wen es auf tschechisch gewesen wäre, hätte so etwas nicht gesendet werden können.  Und das Ganze war also ausgerichtet auf den Hörer in der westlichen Hälfte Europas, eben jener Zeit, als sich die Tschechoslowakei auf dem Weg der Liberalisierung befand, mit dem Höhepunkt im Jahre 1968.  In dieser Zeit wurden die Sendungen, die ursprünglich für das westdeutsche Publikum gedacht waren, immer stärker auch von den Bürgern der DDR gehört.  Für sie war das besonders interessant, was in einem Land passierte, das genau so wie ihr Land immer noch zum sozialistischen Lager gehörte, wo immer noch die kommunistische Partei die führende Kraft war und dieses übliche BlaBla galt, wo es aber bei uns in den Medien mehr Freiheit gab, sich offen auszusprechen. Und das haben wir dort auch gerne ein bißchen boshaft vermittelt.

DL: Wie lange wurden denn die deutschsprachigen Sendungen von der DDR gestört?

FC: Etwa bis zum Einmarsch. Es gab dann noch eine Phase des Widerstands gegen das neue Regime, das eingesetzt wurde nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes.  Dieser Widerstand dauerte so ungefähr ein Jahr bis Ende 1969. Unsere Sendungen waren zunächst noch relativ offen, wurden dann aber wie alle anderen normalisiert, also gleichgeschaltet, und dann gab es 20 Jahre lang Sendungen, die wahrscheinlich niemanden interessierten.  Es gab keinen Grund mehr, diese Sendungen zu stören.

DL: Als Journalist waren sie unmittelbar vor dem Einmarsch, d. h. genau am 13. August 1968, in Karlsbad, als Ulbricht mit Dubçek zusammentraf, um ihn ein weiteres Mal zur Abkehr vom Reformkurs zu zwingen.

FC: Stimmt. Ich war in Karlsbad als Journalist bei diesem Ulbricht-Besuch anwesend, der vielen Leuten heute noch in Erinnerung ist. Das war einer der vielen Versuche von Ulbricht, auf Dubçek einzuwirken, um zu verhindern, daß der DDR weitere faule Eier ins Nest gelegt würden. Man hat den Ort dieser Zusammenkunft nach Karlsbad verlegt, vielleicht ein bißchen mit einer demonstrativen Absicht, weil es in diesen Jahren dort immer sehr viele DDR-Bürger gab. Die waren da als Touristen, manche auch als Kurgäste. Manche kamen zu Familientreffen mit ihren westdeutschen Verwandten. Das war ja sehr beliebt damals.  Die Westdeutschen durften reisen, die DDR-Deutschen durften nicht nach Westdeutschland. Also traf man sich z. B. in Karlsbad.  Und da erinnere ich mich, es war ein schöner Tag, als der Ulbricht in Begleitung von Dubçek über die Kolonnaden schritt, zu dem Ort, wo die Verhandlungen stattfinden sollten.  a war ein dichtes Spalier von Menschen auf beiden Seiten. Es war schon der Kleidung und der Sprache nach zu spüren, daß das überwiegen Deutsche waren, die meisten wohl DDR-Bürger.  Und da schritten nun diese beiden, und alle riefen ständig Dubtzek, Dubtzek, Dubtzek. Es gab keinen einzigen Ulbricht-Ruf. Und das, meine ich, war für den Ulbricht kein angenehmes Erlebnis.

DL: Haben sie wirklich Dutzek und nicht Dubçek gerufen?

FC: Ja.

DL: Eine Frage zum Einmarsch: Viele DDR-Leute haben seinerzeit gedacht, die NVA sei tatsächlich mit einmarschiert. Die Legende war doch offensichtlich auch von der DDR aufrecht erhalten. Die Regierungskommission in Prag, die Vaclav Havel nach der Wende zur Aufarbeitung der Geschichte des Prager Frühlings eingesetzt hat, fand aber heraus, da zwei DDR-Divisionen an der Grenze zur Tschechoslowakei stationiert waren und bis Oktober 1968 dem sowjetischen Oberkommando unterstanden. Doch direkt einmarschiert sind sie nicht.

FC: Das ist ein Thema, über das es viele Spekulationen gab, ob also an diesem Einmarsch auch Truppen der nationalen Volksarmee beteiligt waren.  Ich glaube, der Stand der heutigen Forschung (vgl. das Buch von Prieß, Wilke und Kural, Die SED und der Prager Frühling 1968) ist der, daß dies nicht der Fall war.  Es waren allerdings Offiziere und Nachrichtentechniker im Hauptquartier der Interventionstruppen in Milovice bei Prag anwesend, und die DDR war an den Vorbereitungen beteiligt. Es gab diese Stabsmanöver, die die ganze Zeit immer wie ein drohendes Schwert über unseren Köpfen hingen. Das waren Manöver des Warschauer Paktes, ständig an irgendwelchen Orten der Tschechoslowakei. Viele hielten das mit recht für eine Art Vorbereitung der Invasion.  Denn die ganze Zeit hat man damit rechnen müssen: Was macht die Sowjetunion, wenn sie merkt, daß ihr Einfluß oder ihre Kraft nicht mehr dazu ausreicht, diese Entwicklung zu bremsen oder zurückzuwerfen. Dann wird sie vielleicht zu diesem letzten Mittel greifen müssen, wenn auch ungern. Ich kann mir vorstellen, daß es niemanden gab, im damaligen sowjetischen Politbüro, der besonders erfreut war, eine halbe Millionen Soldaten mitten im Frieden in ein verbündetes Land zu schicken. Das war eine absurde Sache, und man mußte wissen, was für einen Prestigeverlust das für die Sowjetunion in der Welt bedeuten würde. Daß es dann so ein bißchen als ornamentaler Schmuck mit polnischen, ungarischen, bulgarischen Truppen passierte – die Rumänen und die Jugoslawen haben sich ja bekanntlich nicht daran beteiligt – war so eine Art Legitimation, daß das nicht nur die Russen sind. Ich weiß, daß ein paar ungarische Einheiten in der Slowakei waren, aber sehr bald wieder zurückgezogen wurden, daß es ein paar Einheiten aus Polen gab, da oben bei Ostrava, die auch wieder in ein paar Tagen abgezogen sind. Daß die DDR zwar bei den Vorbereitungen aktiv beteiligt war, aber nicht unmittelbar einmarschiert ist, ist heute Stand der Forschung. Ich glaube, selbst den Herren im Kreml war klar, daß es sehr kontraproduktiv wirken würde, wenn an dieser brüderlichen Hilfe ausgerechnet deutsche Truppen wären. Einheiten, die in Uniformen herumliefen, die alle Tschechen an die Zeit der Okkupation erinnerten, und die eine Sprache sprachen, die alle Tschechen sofort an die Zeit vor 1945 erinnerten. Ich glaube, auch wenn Ulbricht und die Seinen interessiert waren, an diesem Akt der brüderlichen Hilfe teilzunehmen, daß die Russen ihnen gesagt haben: Bleibt lieber als letzte Reserve, sozusagen für den Fall des Falles, aber bleibt hinter der Grenze.

DL: Aber in der DDR wurde ja immer der Eindruck verbreitet, als seien sie einmarschiert. Das war doch offenbar ein innenpolitischer Schachzug, um die Leute im Lande einzuschüchtern.

FC: Ja, vielleicht war das von Seiten der DDR-Führung propagandistisch gemeint. Ich möchte aber noch etwas erwähnen, was sehr wichtig ist. Ich habe später immer wieder erlebt, wieviel Solidarität der Tschechoslowakei aus der damaligen DDR entgegengebracht wurde, von den einfachen Menschen. Und wie viele von diesen Leuten das bitter bezahlen mußten. Das ist vielleicht nicht so bekannt. Sicher nicht bei den Westdeutschen. Die haben natürlich auch protestiert gegen das, was in Prag geschehen ist am 23. August, haben Massenveranstaltungen veranstaltet. Denen ist natürlich kein Haar gekrümmt worden. Ich weiß von Freunden und Bekannten, daß es in der DDR viele gab, die, weil sie sich solidarisch erklärt haben, in DDR-Gefängnissen gelandet sind. Ich glaube, diesen Menschen zollt die heutige Tschechische Republik noch immer keine Anerkennung. Diese Leute sollte man nicht vergessen. Denn das war damals wirkliche Solidarität, die auszudrücken nicht so leicht war, verbunden mit einem Risiko, das diese Leute eingegangen sind. Es wird zwar immer betont, daß es diese sieben protestierenden Männer und Frauen auf dem Roten Platz in Moskau gab. Alle Ehren für diese Leute, aber es wird eigentlich in unserem Lande zu wenig darauf hingewiesen, daß es nicht nur sieben, aber sieben Dutzend oder 700 oder vielleicht noch mehr DDR-Bürger waren, die damals ein großes Risiko eingegangen sind, für die Tschechoslowakei zu demonstrieren, und die dafür auch büßen mußten.

Mit freundlicher Genehmigung aus: Der Grenzgänger oder: eine Mission an vier Strömen. František Cerný zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Rolf Kasiske und Eva Profousova. Berlin: Europäische Akademie, Juni 2001.