Glossen 27

Doris Liebermann
Gespräch mit Bernd Eisenfeld

Herr Eisenfeld, Sie sind 1968 im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Prager Frühlings verhaftet worden. Könnten Sie zunächst etwas zu Ihrer Lebenssituation vor der Verhaftung erzählen?

Also ich hatte 68 bereits einen Punkt erreicht, wo ich Berufsverbot hatte. Ich hatte Finanzwirtschaft studiert in Gotha, das war Fachschule, über den 2. Bildungsweg, den es ja in der DDR gab, wenn man kein Arbeiterkind war, und hatte mich dann 67 für den Bausoldaten-Dienst entschieden. Nicht, weil ich mich als prinzipieller Pazifist verstand, sondern weil ich den Eid der Nationalen Volksarmee nicht sprechen wollte, war zwischendurch bei einer Bank beschäftigt nach meinem Studium, kam dann zu den Bausoldaten, war dort sehr aktiv, aufrührerisch, wie man gesagt hat. D h., damals hatte ich schon die Vorstellung für die DDR in Richtung des jugoslawischen Selbstverwaltungsmodells, die habe ich u. a. auch auf einer Wählervertreter-Konferenz eingefordert. Also nur mal symbolisch, daß ich schon zu dieser Zeit andere Vorstellungen hatte von Sozialismus. Also Sozialismus mehr in Richtung Freiheit. ja, und dann kam ich von den Bausoldaten zurück und erhielt Berufsverbot. Nut der Begründung: wer nicht bereit ist, den Ehrendienst zu leisten, also Waffendienst, der hat im Staatsapparat, und Banken gehörten ja zum Staatsapparat, nichts zu suchen. Das war also Ende 67. Damit war eigentlich meine berufliche Laufbahn in der DDR zu Ende. Auch Versuche, während meiner Bausoldaten-Zeit noch einmal ein Fernstudium in Philosophie und Kulturwissenschaft zu machen, scheiterte. Trotzdem hatte ich damals keinerlei Ambitionen, die DDR zu verlassen, sondern im Gegenteil, ich habe damals noch die These vertreten: die kritischen Leute müssen bleiben, was soll denn sonst aus der DDR werden?

Sie sind im Vogtland geboren und sind nach Gotha gegangen, um zu studieren?

Genau. Ich habe also Bankkaufmann gelernt in Falkenstein, und mit einer Sonderreifeprüfung bin ich dann nach Gotha gekommen, und habe dort Finanzwirtschaft studiert. Ich war dann sogar Nachwuchskader für die Staatsbank der DDR, aber ich gehörte keiner Partei an. Ich war auch in einem sehr interessanten Arbeitsgebiet tätig, d. h., im Rahmen des neuen ökonomischen Systems unter Ulbricht, wurde ja die Eigenverantwortung der Betriebe erhöht, auch der Banken. Ich war also in solchen Experimentierbanken tätig, die versucht haben, die direkte Finanzierung von Großunternehmen durchzuführen, und bekam dann sehr gute Einblicke in das Wirtschaftsgefüge. Für mich war damals schon klar, daß das System, das Wirtschaftssystem, auf Dauer zusammenbrechen wird. Ich wollte noch ein Hochschulstudium machen, Kulturwissenschaften, Philosophie. In Halle hatte ich schon die Eignungsprüfung hinter mich gebracht, mit besonders geeignet, und trotzdem wurde ich dann abgelehnt. Ich habe mich dagegen gewehrt natürlich, dann hat man gesagt, wir brauchen andere. Sie haben ja eine Ausbildung im finanzwirtschaftlichen Bereich, und wir brauchen jetzt für das Philosophie-Studium vor allem Führungskräfte für die Armee, die müssen Philosophie studieren, also für Sie ist im Moment kein Platz frei. Ich habe mich dagegen gewehrt, weil ich eben als besonders geeignet empfunden wurde, und dann kam es zu Aussprachen, und dann wurde gesagt: Sie wollen ja nur Philosophie studieren, um uns den Dolch in den Rücken zu stoßen. Da war natürlich was dran.

Nach Halle waren Sie wegen des Studiums gegangen?

Na, in Halle, ich kam dann praktisch zu dieser Experimentierbank, das war eine Bank für die Finanzierung der Elektrochemie und dann des Kombinats Chemische Werke Buna. Also ich bin praktisch auf dem beruflichen Wege in Halle gelandet, und habe dann meine Lebensgefährtin kennen gelernt, mit der ich dann ein Kind hatte, und deshalb war ich seit 64 war ich schon in Halle. Und war dann in diesem Halleschen Friedenskreis drin, ökumenischer Friedenskreis übrigens, der auch eine ganze Menge gemacht hat, und da bin ich praktisch auch schon immer von der Staatssicherheit beschattet worden.

Da muss die Nachricht von der Entmachtung Antonin Novotnys und der Wahl Alexander Dubceks im Januar 1968 große Hoffnungen in Ihnen geweckt haben.

Ja, mir kam damals im Januar dieser Prager Frühling gerade recht. D. h., bis dahin hatte man eigentlich -außer, daß man sich vielleicht auf Havemann berief, hatte man ja eigentlich keine Legitimationsbasis, man mußte sich eben auf den Westen berufen oder auf Jugoslawien, wenn es um bürgerliche Freiheiten ging, und es war erstmals die Situation, die Entwicklung im Januar, daß man sich auf ein Programm stützen konnte, auf einen Ostblockstaat, wo diese Vorstellung von Demokratie und Sozialismus angegangen wurden, programmatisch. Deswegen war ich von Anfang an ein Anhänger des Prager Frühlings. Ich habe mich also sehr stark engagiert, habe mich offen dafür ausgesprochen, sowohl in meinem Arbeitsfeld, ich bekam dann nach längerer Zeit wieder eine Arbeit, als auch öffentlich durch Diskussionsbeiträge, Zeitungen und ähnliches. Und dann habe ich in dieser Zeit, im Frühjahr 68, habe ich versucht, an öffentlichen Foren teilzunehmen, und diese Vorstellungen über das, was sich in der Tschechoslowakei entwickelte, unterzubringen. Unter anderem war da so eine Veranstaltung im März in Halle, wo ich mich offen für mehr Informationsfreiheit, Demokratie ausgesprochen hatte, und mich u. a. auf Havemann berief, u. a. auch auf die Entwicklung in der Tschechoslowakei, und heute weiß ich, daß damals - nach der Einsicht meiner Stasi-Unterlagen unmittelbar nach dieser Veranstaltung ein operativer Vorgang eingeleitet wurde mit dem Ziel, mich wegen staatsfeindlicher Hetze zu verurteilen.

Sind Sie auch nach Prag gefahren?

Ich habe natürlich durch die Diskussion pro und contra Prager Frühling gedacht: ja du mußt unbedingt nach Prag, du mußt dir Material besorgen, du mußt versuchen, mit authentischem Material zu arbeiten, und dann bin ich im Mai mit zweien meiner Brüder nach Prag gereist. Ich hatte also zuerst enorme Bedenken, ob ich nach Prag reisen darf, weil ich ahnte, daß die Stasi mir auf den Spuren war, erstaunlicherweise konnten wir aber reisen, zu dritt. Heute weiß ich, daß die Stasi, obwohl sie mich operativ beobachtete, hat sie das gar nicht mitbekommen, daß wir drei Tage in Prag waren. Und das war für uns natürlich so eine richtige Offenbarung. Also Prag war eine Offenbarung. Das Klima, die Stimmung, auf der einen Seite natürlich die Euphorie, auf der anderen Seite auch Ängste, geht das denn so weiter? Wir haben mit Medienvertretern, gesprochen, wir haben Radio Prag besucht, wir haben so eine deutschsprachige Zeitung in Prag aufgesucht, haben uns da also informiert, haben da Diskussionen geführt, waren also sehr beeindruckt von dieser Entwicklung, vor allem, was die Gesellschaft betraf. Einer meiner Brüder ist ja Maler, und wir haben dann auch viele Galerien aufgesucht, und die Künstler haben geschwärmt damals in Prag, sie konnten frei reisen, sie konnten ihre Bilder verkaufen, sogar gegen westliche Währung, also es war faszinierend. Deshalb war für mich dann natürlich klar, als wir in die triste DDR zurückkamen, daß man diesen Weg, der so getragen wird von der Bevölkerung, von so vielen Schichten, daß man den natürlich verteidigen muß und möglichenfalls auch in der DDR etwas auslösen könnte. Und so habe ich versucht, mit vielen Zeitungen in Kontakt zu kommen, die Positionen zu verteidigen, zumal die DDR ja von Anfang an diesen Prozeß ja scharf attackierte, auch mit ihren Intellektuellen, so genannten Intellektuellen, etwa wie Helmut Baierl, oder andere Schriftsteller oder auch Philosophen, die versucht haben, auf Distanz zu begeben zur Tschechoslowakei. Aber da habe ich nie was unterbringen können. Obwohl ich z. B. mit der Sächsischen Zeitung einen langen Dialog, mit dem Leiter der Leserbriefredaktion, einen ziemlich langen Dialog hatte, der sich aber immer mehr verschärfte, am Ende drohte er sogar damit, daß er, wenn er den Schriftwechsel jemand anderem übergeben würde, könnte er mich eigentlich belangen lassen. ja das alles war begleitet mit viel Hoffnung, aber auch Bangen über das, was sich da entwickeln könnte in der Tschechoslowakei, ich hab damals auch Tagebuch geführt und kann also meine Stimmungslage und meine Gedanken, die ich damals auch mit meinem Bruder austauschte, auch nachvollziehen. Also wir haben uns schon gedacht, wenn das durchgesetzt werden könnte, dieser Prager Frühling, das Programm auch, das sich dann entwickelte, dann wird es ein ernstes Problem geben für den Ostblock. Auch für die DDR. Also die Möglichkeit, daß man das mit Gewalt unterdrückt, habe ich nie ausgeschlossen. Als es allerdings dazu kam, da war ich dann trotzdem schockiert, weil ich eigentlich glaubte, so offensichtlich kann man das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes mit Füßen treten. Und ich dachte auch, das kann der Ostblock sich nicht leisten aus politischen Gründen. Er kann es sich nicht leisten wegen der UNO. Außerdem habe ich erwartet, daß in der Tschechoslowakei der Generalstreik ausbricht, daß diese gebündelten Kräfte in Form eines Generalstreiks austreten, um der Weltöffentlichkeit deutlich zu machen, das ganze Volk steht gegen diese Intervention.

Wie haben Sie auf die Intervention reagiert?

Zwei Tage nach der Intervention, am 23. August, habe ich ein Telegramm an die Tschechoslowakische Botschaft in Ostberlin geschickt, mit Adresse natürlich und Absender: "Halten Sie Stand. Behalten Sie Hoffnung". Für mich war die Sache, solange die Dubcek-Leute noch im Amt waren noch nicht endgültig verloren. Deshalb glaubte ich, daß man da besonders solidarisch sein muß, daß die Reformkräfte vielleicht an der Macht bleiben und man Wege finden wird, daß sie das geschickt umschiffen, um dann wieder ihren Kurs durchzusetzen. Eine andere Geschichte spielte da allerdings eine Rolle, moralischer Kategorie. Ich hatte mit meinem Vater hin und wieder Diskussionen über das 3. Reich. Er war von Anfang an bei der NSDAP, zunächst aus Idealismus, wie er das auch vermitteln konnte, glaubhaft. Da gab es dann aber einen Dialog, Streit darüber: ja warum hat man sich dann später dieser Partei nicht entzogen, als Hitler immer aggressiver wurde, und das Dritte Reich. Und ich fühlte mich eigentlich dann in einer ähnlichen Situation. Ich dachte mir dann: die Deutschen sind wieder dabei, ein Volk zu unterdrücken, mit Gewalt, noch dazu ein Volk, das sie schon mal unterdrückt haben. Wie verhältst du dich denn jetzt in dieser Situation? Reicht es aus, wenn man sich also nur argumentativ damit auseinandersetzt oder muß man da was in Bewegung setzen? Und da habe ich mich dann entschieden, Flugblätter zu fertigen, allerdings Flugblätter vom Inhalt her und von der Art der Verteilung, daß ich mich glaubte, im Rahmen der Gesetze der DDR zu bewegen. Ich habe mich also hingesetzt, ich habe mit Schreibmaschine vervielfältigt, was ja legal war, und habe einen Text gewählt von Lenin. Nicht weil ich Leninist war, im Gegenteil, also ich glaubte, daß Lenin Marx auf den Kopf gestellt hatte. Damals war für mich eigentlich klar, Lenin war für mich das Kontraprodukt von Marx. Doch ich wußte: Lenin ist der geistige Vater der DDR, da sollen sie doch mal sehen, wie sie mit dem Zitat klarkommen. Ein Zitat aus dem "Dekret über den Friedens". In diesem "Dekret über den Frieden" hat Lenin den Begriff der Annexion definiert: was ist eine Annexion? Und dachte, das trifft ja wie die Faust aufs Auge. Habe also über das Flugblatt geschrieben: "Denkt bitte nach, bitte schweigt nicht". Dann dieses Lenin-Zitat, was ist eine Annexion, und unten in Klammern: Lenin, aus dem Dekret über den Frieden. Ohne Kommentar.

Was stand denn in diesem Zitat? Es hat ja heute nicht mehr jeder Lenin gelesen.

In diesem Zitat steht sinngemäß: Wenn eine Regierung gegen den Willen eines Volkes interveniert, dann ist es eine Annexion. Also genau, was die Tschechoslowakei betraf. Da traf auch dieses Zitat zu. Also Lenin hätte das nach seinem Selbstverständnis als Annexion definiert, was da stattgefunden ist. Und da dachte ich, da sollen sie doch mal sehen, wie sie mit diesem Zitat klarkommen. Hab da so 180 Exemplare mit dem Durchschlagverfahren gefertigt, und hab die dann praktisch einen Monat nach der Intervention, am 21. oder 22. September verteilt. Das heißt, ein solches Exemplar hatte ich dann schon mal im Zug liegenlassen, ich bin ja gebürtiger Vogtländer, wenn ich zu meinen Eltern gefahren bin, ganz offensiv, und die anderen habe ich dann aber am 20. zum 21. September verteilt. Am ersten Abend ging das noch einigermaßen reibungslos ab. Ich hatte zwar Konflikte am Haus der Gewerkschaften in Halle, wo eine Veranstaltung war, da habe ich das Flugblatt verteilt. Da sind dann zwei - heute weiß ich es, SED­-Mitglieder von der Kreisleitung gekommen, die wollten diese Blätter von mir haben. Da habe ich verweigert, ich sagte: bitte, nicht kommentiert, ein Lenin­zitat verteile ich, was wollen Sie überhaupt? Hab mich diesen Leuten entzogen, die mich eigentlich schon greifen wollten, und habe dann den Hauptteil dieser Flugblätter auf dem Theaterplatz in Halle, als dann die Veranstaltung aus war, verteilt. Kurioserweise haben sie damals gerade gespielt "Die Räuber", und als die als die Tür aufging und die Leute herausströmten, habe ich die Flugblätter verteilt. Die gingen weg wie die warmen Semmeln. Ich schaute dann nur zurück, so kleine Grüppchen hatten sich gebildet, da waren so Lichtsäulen, da standen dann die Leute, es waren auch viel junge Leute, die standen in diesem Theater, auch Abiturienten offensichtlich, standen da in kleinen Trauben und lasen, was da eben auf diesem Blatt stand. Dann hatte ich aber noch 60 Exemplare zu Hause, und wollte dann am zweiten Tag noch mal losgehen.

Und was ist dann passiert?

Vormittags hatte ich noch ein bisschen Bedenken und habe dann gedacht: mein Gott, klar, du hast nicht umsonst gesessen und geschrieben. Abends bin ich noch mal los, zu einem Kino, "Universum" hieß das, glaube ich, in Halle, "My fair Lady" wurde da gespielt, und da dachte ich: da werden ja wieder eine Menge Leute sein. Die Tür ging auf, und kaum begann ich zu verteilen, da hingen mir schon zwei Zivilisten am Arm, einer drehte mir eine Knebelkette sehr schmerzhaft ins Handgelenk, und dann war es eigentlich schon passiert. Ich habe ja inzwischen meine Akten eingesehen, die der Staatssicherheit, und da ist praktisch in der Nacht vom 20. auf den 21. September 1968 aufgrund der Verteilung der Flugblätter am Vortrag eine Art Alarmstimmung ausgelöst worden. Interessanterweise habe ich auch gelesen, daß ihnen nur zwei Flugblätter in die Hände gefallen waren. Das bedeutet, der Großteil derjenigen, die dieses Ding gekriegt haben, ist nicht zur Polizei gegangen. Aber die zwei reichten eben aus, um alle strategisch wichtigen Punkte, öffentlichkeitswichtigen Punkte zu besetzen. Das war eine Frage der Zeit, die haben eben gewartet, und dann habe sie zugegriffen. Na ja, die waren ein bißchen bösartig, die beiden. Sie haben mich zunächst zur Polizei geschafft, haben mich getreten. Bei der Polizei, bei der Kripo, hatte ich noch einen ganz guten Eindruck. Ich hatte dann eine erste Vernehmung mit einem Kripo-Offizier, und da dachte ich, na ja klar, die lassen mich laufen. Ich hatte dieses Zitat ja nicht kommentiert, es konnte zutreffen auf die Tschechoslowakei, es konnte zutreffen auf Nahost, es konnte zutreffen auf Vietnam, ich wollte den Leuten die Interpretation überlassen. Ich habe zwar meine Position dazu, aber die habe ich nicht vermittelt. Das war ja so meine Ausgangsposition: mir kann ja eigentlich nichts passieren. Und dieser Offizier war relativ hilflos von der Kripo.

Trotzdem sind Sie verurteilt worden.

Ich wurde dann in so eine Dunkelzelle geschlossen. Dann tanzte nach einer halben Stunde eine Richterin an, die einen Haftbefehl wegen Staatsverleumdung ausschrieb. Ich habe mich natürlich dagegen verwahrt. Sie meinte, es bestünde "Verdunkelungsgefahr", deshalb müßte ich jetzt inhaftiert werden. ja, und dann kam ich erstmal in eine Zelle bei der Kripo, und dann hatte ich eine Nachtvernehmung. Wie sich später herausstellte, war das dann praktisch mein künftiger Vernehmer vom Mfs. Es war eine sehr brutale Vernehmung, nicht etwa, daß ich da körperlich belangt wurde, oder gefoltert wurde, aber der hat mich angeschrieen, und da begann ich erstmal ein bißchen nachdenklicher zu werden über die Situation. Ich hätte Verbrechen begangen, mehrfache Verbrechen begangen usw. Und dann kam es zum Transport. Ich wußte eigentlich nicht, wo es hinging, aber später wußte ich es dann: ich landete beim Staatssicherheitsdienst in der Untersuchungshaft. Und herauskam- zweieinhalb Jahre wegen staatsfeindlicher Hetze. 30 Monate wegen mehrfacher staatsfeindlicher Hetze, schwere Kategorie. Ich habe mich allerdings von Anfang an mit allen möglichen Mitteln, die damals zur Verfügung standen, gewehrt. Ich habe mich also beschwert gegen den Haftbefehl wie auch gegen die Vernehmungen in der Untersuchungshaft, bis zum Generalstaatsanwalt, bis zum Obersten Gericht. Aber nach und nach habe ich darauf eingestellt, daß es ernst wird.

Es wurde ja auch ernst.

Im Nachhinein könnte ich sogar sagen, daß es für mich eine ganz hilfreiche Zeit war, weil durch die Vernehmungen, die ich bei der Staatssicherheit hatte, mir wirklich die letzten Lichter ausgegangen sind, die ich noch in der DDR gesehen hatte. Für mich wurde endgültig klar, daß es sich praktisch um ein System handelte, das nicht nur Menschenrechte, Sozialismus, Bürgerrechte, was weiß ich ging, sondern ausschließlich um Machterhalt. Mein Vernehmer, mit dem ich mich ständig stritt, mit dem ich dann auch gar nicht mehr diskutieren durfte, der sagte mir immer. "Eisenfeld, begreifen Sie, wir haben die Macht. Begreifen Sie: wir haben die Macht!" Und das war die DDR. Das wurde mir dann endgültig klar, und deshalb begann ich auch ein bißchen neu nachzudenken über Perspektiven. Ich habe schon vorher in meinen Tagebuchaufzeichnungen einen Vermerk drin, sinngemäß: wenn dieser Prozeß unterbunden wird in der Tschechoslowakei, wo ein ganzes Volk hinter der politischen Führung steht, auch mit den Gewerkschaftsverbänden, wenn da eine Demokratisierung nicht möglich ist, wie soll es dann erst in der DDR je möglich werden? Daß man sich dann neu Gedanken machen muß, wie man sich eigentlich verhält. Als ich dann in den Strafvollzug kam, dann erfuhr ich zum ersten Mal etwas über den Freikauf politischer Häftlinge. Da begann ich dann darüber nachzudenken, ob das vielleicht die Alternative ist, zumal ich nicht bereit war, irgendetwas zu bereuen. Manchmal haben sie mir angeboten, daß ich gute Entwicklungsmöglichkeiten hätte in der DDR, wenn ich Reuebekenntnisse abgeben würde, nicht etwa im Sinne einer Mitarbeit mit dem MfS, das Problem bestand bei mir nie, aber daß ich auf Bewährung jedenfalls rauskommen könnte. Darauf bin ich nicht eingegangen, das wäre für mich auch unmöglich gewesen, noch dazu in der Untersuchungshaft. Ja, und da habe ich dann, noch während des Strafvollzuges, über einen Mithäftling dann einen Kassiber rausschleusen lassen an meine Geschwister, an meine Lebensgefährtin, die sollten sich mit einem Anwalt in Verbindung setzen und die Ausreise fordern. Also für mich und meine damalige Lebensgefährtin und Kind. Ich bin während meiner Haftzeit mehrmals auf Transport gegangen, d. h., es gab immer Signale von außen, es könnte mit einer Ausreise in den Westen klappen. Ich war sogar in Chemnitz auf der Abschußrampe, also da, wo die Mercedes-Busse standen, dort hatte ich ein Gespräch mit Offizieren des MfS, habe denen deutlich gemacht, für mich gibt es keine Alternative mehr, zumal meine Familie, meine Angehörigen, und für die war klar, ich will raus, und trotzdem klappte es nicht. Ich ging auf Transport nach Berlin und dachte erst, na gut, du willst ja nach Berlin West, deshalb werden sie dich nicht erst nach Gießen karren, sondern gleich nach Westberlin bringen, da landete ich zunächst in Rummelsburg, über Weihnachten, kann ich mich erinnern, 69 zu 70, ja und dann bekam man ja immer so ein Paket, wo draufstand, wo die Utensilien drin waren, und wo dann drauf stand, wo es lang ging. Und da stand: Bautzen. Da landete ich also in Bautzen, nachdem ich vorher in Cottbus war, wo überwiegend politische Häftlinge inhaftiert waren. Ich glaube, sie wollten mich auch deshalb nicht mehr in Cottbus haben, weil ich mich dort engagiert, eingesetzt hatte für andere Häftlinge, habe da z. B. Kassationen geschrieben, und die Verlegung war wohl eine Bestrafung: Bautzen, nicht Bautzen 11, nicht diese Spezialanstalt, sondern Bautzen I, die zu 99 Prozent mit Kriminellen belegt war. Ja, und ein halbes Jahr später bekam ich -dann noch mal so ein Signal, ich ging auf Transport, und zwar in ein Außenlager nach Ueckermünde, da gehörte ich als Verbrecher gar nicht hin, weil ich als Schwerverbrecher nur innerhalb der Gefängnismauern arbeiten durfte, und kam in ein Lager, wo die Leute alle außerhalb des Lagers arbeiteten. Da war für mich eigentlich dann klar, na gut, du sollst ein bißchen besseres Essen bekommen, wollen sie dich noch mal ein bißchen aufputschen, ein bißchen Farbe ins Gesicht bringen, und dann geht es ab in den Westen. Nach drei Wochen bekam ich wieder mein Paket, und da stand wieder drauf: Bautzen. Und so landete ich wieder in Bautzen, und habe das praktisch abgesessen bis zum Ende meiner Tage. Also bis zum letzten Tag abgesessen, und wurde dann wieder nach Halle entlassen. So. Und nun war ich also wieder in der DDR.

Ganz zuerst saßen Sie in einem Gefängnis in Halle?

Genau. Roter Ochse. Und ich hab mich halt dann ein bißchen abreagiert, ich hab so Aphorismen gemacht, hab mich praktisch gewehrt mit Gedichten und Aphorismen, die ich dann herumgetragen habe, also ich habe mich, sozusagen, ich dachte, das können sie mir nicht verbieten. Das was ich nicht aussprechen konnte, nicht vermitteln konnte, da habe ich mich freimachen können. Dadurch bin ich relativ gut über die Runden gekommen. Es gab ja, das habe ich dann später in Cottbus erlebt, es gab ja eine ganze Reihe an Selbstmordversuchen, weil viele Leute hineingezogen wurden von heute auf morgen, die auch nicht so politisch waren wie ich, die ganz plötzlich in diese Situation gerieten und keinen Ausweg mehr fanden. Und nun hat man ja häufig versucht, diese Familien zu trennen, Scheidungen zu erzwingen usw. und wenn das dann noch dazukam, kann man sich vorstellen, wie diesen Menschen zumute war. In meinem Fall war es so, daß meine damalige Lebensgefährtin, der hatte man sogar eine Rente angeboten, wenn man sich von ihr trennt, die hat standgehalten, also da ist so was nicht passiert. Das hat mich natürlich auch ein bißchen gestärkt. Ich hatte natürlich vor allem meine Probleme nach draußen, wie geht man mit meiner Familie um, meine Mutter war herzkrank usw., was läuft da alles ab. Ich habe auch mal mit Hungerstreik gedroht und auch angefangen, als mein Vernehmer meine Mutter vernehmen wollte, weil sie herzkrank war. Dann hat man mir allerdings versprochen, daß sie nicht vernommen wird, das war ein Täuschungsmanöver, natürlich hat man meine Mutter vernommen, aber meine anderen Geschwister waren da und haben da Solidarität gezeigt, und sie stabilisiert, aber die größte Kümmernis war: was läuft draußen. Für mich wurde in dieser Untersuchungshaft endgültig klar, was das für ein System war, das war für mich auch ein Befreiungsakt, das System hat sich für mich entblättert. Und dann wußte ich genau, ja irgendwas muß dann eben anders laufen. Das war das eine. Und dann, wenn man so lange Zeit isoliert, inhaftiert ist, dann weiß man, was Freiheit bedeutet, da weiß man, was ein Baum bedeutet, wenn man rauskommt, wenn man entlassen wird, ich habe das viel mehr genossen. Und auch, wenn man in den Westen kam, ich habe die Freiheit, die größere Freiheit, genossen. Und habe gedacht: Herrgott, wie können nur die Westdeutschen so miesegrämig sein. Weil sie eben nie diese andere Seite erlebt haben, und ich genieße das heute noch, und das ist das, wo ich sage, das war ein Stück Dank, das mir zurückgegeben wurde, ganz davon abgesehen, daß ich mich natürlich zu den Siegern der Geschichte zähle. Und wenn man dann gelesen hat, da kann man sich ja vorstellen, welche Genugtuung es war, welche Euphorie, als ich dann las, daß Havel Präsident wird, dann kam natürlich wieder etwas zurück, nur mit 20 Jahren Verspätung.

Da haben wir Glück gehabt ...

Gut, na ja, das war vielleicht auch ein bißchen hilfreich, daß diese repressiven Gewaltakte des Ostens, die haben ja Gott sei Dank dazu beigetragen, daß die Illusionen des Westens über den Osten immer wieder zerstört wurden, wenn das nicht passiert wäre, diese Exzesse, dann hätte man wahrscheinlich schon viele Jahre früher eine PDS-SPD-Mehrheit gehabt, in Deutschland, also ich glaube, die Anfälligkeit der linken für diese Systeme des Ostens waren ja vergleichsweise groß. Und das waren auch Rückschläge, die sie auch schwer verkraftet haben ...

Was haben Sie nach der Haftentlassung gemacht?

Ich habe natürlich vor allem unter dem Dach der Kirche weitergearbeitet, ich habe mich ja schon bei den Bausoldaten sehr engagiert, war also bei Bausoldatengruppierungen drin, habe auch regelmäßig an den Bausoldatentreffen teilgenommen, auch in Halle war ich in einem Friedenskreis aktiv. Aber darüber hinaus hatte ich einen Antrag laufen für meine Familie, und bis 1975 hat man kategorisch "nein" gesagt, und ganz plötzlich, wie das so war in der DDR, wurden wir aufgefordert, einen neuen Antrag zu stellen, ausführlich mit dem Hinweis: wenn Sie sich auf die früheren 20 oder 30 Anträge - wir hatten auch die UNO eingeschaltet beziehen, dann wird der Antrag nicht bearbeitet. Dann waren wir innerhalb kürzester Frist im Westen, zu viert. Heute kann ich das alles nachvollziehen über die Akten. Nachdem ich entlassen wurde aus der Haft, wurde sofort wieder ein Vorgang durch die Staatssicherheit eingeleitet, d. h., noch bevor ich entlassen wurde, lagen die ersten IM-Berichte vor über mich aus dem Strafvollzug Bautzen, wo dann nach wie vor steht u. a. zusammenfassend: "Eisenfeld ist sehr reaktionär, hat sich nicht geändert, und was weiß ich alles, so daß ich dann wieder gleich vom ersten Tag an ins Visier des MfS geriet, und ständig mit einem Bein im Gefängnis saß. Wie ich das heute nachvollziehen kann, wurde ein neuer Vorgang wieder mit dem Ziel eingeleitet, mich wegen staatsfeindlicher Hetze zu verurteilen, weil ich eben nach wie vor meine Meinung offen vertreten habe und wie gesagt, sehr aktiv war unter den Bausoldaten. Aber sie haben sich dann offensichtlich entschieden, soweit kann ich das den Unterlagen entnehmen, entweder: Inhaftierung oder in den Westen. Es gab ja dann seit 1975 die Strategie der "Zersetzung", wo sie sich genaueres überlegt haben, wie gehen wir mit dem Fall um. Sie haben ja jeden einzelnen Fall bilanziert, was hilft uns mehr: wenn wir ihn hier lassen? Inhaftieren oder in den Westen schicken? Und ich hatte damals ja eine ganze Reihe von Verbindungen in den Westen, zu ehemaligen Mithäftlingen, die direkt aus dem Knast freigekauft worden waren, so daß die Stasi wußte, wenn sie mich wieder inhaftieren, gibt es unheimlichen Ärger. Ich hatte, wie gesagt, auch die UNO, eingeschaltet. Die UNO hatte alle Dokumente, sie hat auch reagiert, ich habe nur die Post nicht bekommen, das weiß ich auch heute erst. Sie wußten auch, da gibt es vielleicht auch Ärger mit der UNO, da haben sie entschieden: raus. Und so landete ich dann praktisch im Westen.

Was haben Sie im Westen gemacht?

Zunächst ging es ja erstmal um die ganz formale Integration einer Familie. Wir waren ein halbes Jahr im Lager in Marienfelde, in einem Zimmer. Für uns war ja gar nicht entscheidend die materielle Situation, sondern wie wir auch wieder Freiheit gewinnen für unsere beiden Kinder, die werden ja in der DDR nie auf die Beine gekommen. Mich hat man dann als graduierten Betriebswirt anerkannt, das hat mir aber gar nichts gebracht. Ich habe dann angefangen, freiberuflich zu arbeiten, ich habe ein bißchen was publiziert über Wehrdienstverweigerung, und mein Ziel war eigentlich auch das, was ich mir in der DDR schon vorgenommen hatte: wenn ich in den Westen komme, dann werde ich für die De-Legitimierung der DDR sorgen. Ich war zwar ein Anhänger der Entspannungspolitik am Anfang, aber als sich diese Entspannungspolitik dann immer mehr pervertierte zur Entspannung oben, wurde ich zum Kritiker dieser Entspannungspolitik, und habe versucht, ein kritisches Bild über die DDR im Westen zu vermitteln. Und das habe ich versucht in Form von Publikationen und in der politischen Erwachsenenbildung. Ich bin praktisch erst 1985 zum Gesamtdeutschen Institut gestoßen mit einer Halbtagsstelle. Bis dahin habe ich allerdings als Honorarreferent gearbeitet für das Gesamtdeutsche Institut, und was ich auch lange Zeit nicht wußte, ich bin praktisch bis 1989 vom MfS weiter bearbeitet worden, in Form eines operativen Vorgangs, in Form von Telefonüberwachung usw. Ich hatte ja enge Kontakte in die DDR, auch zu meinen Geschwistern und zu Leuten in der Friedensbewegung, und da wurde ich also nach wie vor beschattet. Ich hatte also in der Regel Einreiseverbot, durfte dann z. B. erstaunlicherweise 1984 oder 85 zur Konfirmation meines Neffen nach Dresden fahren, der sehr aktiv war im Rahmen einer Friedensgruppe, dem Meißner Friedensseminar. Der Junge hat sich konfirmieren lassen, und wir haben so aus Spaß gesagt: beantragt mal, die Ablehnung wird sowieso kommen. Dann durfte ich tatsächlich einreisen. Das war also für mich verblüffend. Ich hatte erst gedacht, die haben eine humane Anwandlung. Heute weiß ich anhand von Unterlagen des MfS, sie wollten mich praktisch wieder irgendwelcher Strafparagraphen überführen. Die Aus-und Einreise wurde ausdrücklich gestattet aus politischoperativen Gründen. D h., ich sollte wegen nachrichtenfeindlicher Information gegriffen werden, mein Bruder auch, und im Westen sollte der Verdacht ausgelöst werden, daß ich für die Stasi arbeite. Wie sonst könnte der einreisen? Und ich habe dann auch so einige Dinge erlebt in Westberlin, gerade im Zusammenhang mit der Einstellung im Gesamtdeutschen Institut. Ich sollte eine Halbtagsstelle bekommen, das war eigentlich so gut wie sicher. Die wurde dann auf einmal zurückgezogen. Und ich erfuhr, daß es Sicherheitsbedenken gab gegenüber meiner Person. Nun war ich hier im Westen natürlich durch meine Publikationen über Wehrdienstverweigerung in bestimmten Gruppierungen drin, obwohl ich viele dieser Ansichten nicht geteilt habe in der Friedensbewegung. Für mich war eigentlich immer die Sowjetunion der Unsicherheitsfaktor und nicht die USA. Meine These war immer, ein System das nach innen nicht frei ist, ist immer gefährlicher als ein System, das innen freier ist. Ein System, das geschlossen ist und diktatorisch ist, ist weit gefährlicher, und deswegen habe ich in die Friedensbewegung nicht so richtig reingepaßt. Aber ich war dort immer auch präsent, wenn es um Informationen ging, was die DDR betraf. So geriet Ich offensichtlich hier ins Blickfeld des Verfassungsschutzes. Möglicherweise auch ausgelöst durch die ganz zielgerichtete Arbeit des Mfs. Und habe dann eine große Sicherheitsüberprüfung machen lassen, von mir aus, weil ich es nun mal genau wissen wollte, ob hier solche Verdächtigungen existieren. Die ergaben dann allerdings nichts. Und habe dann praktisch 1985 das erste Mal überhaupt erst eine Halbtagsbeschäftigung bekommen beim Gesamtdeutschen Institut. Dieses Institut war ja eines der wenigen, die sich überhaupt mit Fragen der deutsch-deutschen Systeme und Annäherung der Systeme, zumindest Annäherung durch Informationen, befaßt hat. Deshalb fühlte ich mich dort auch ganz gut aufgehoben. 1989 bekam ich dann einen Ganztagsjob bei diesem Gesamtdeutschen Institut, also genau zur Wendezeit. Dann wurde dieses Institut ja abgewickelt, weil ja die eigentliche Zielstellung, die Einheit Deutschlands, erreicht war. Da stand ich dann vor der Alternative: entweder Bundeszentrale für politische Bildung, hab dort auch vorübergehend gearbeitet, sogar in Bonn, bin also jedes Wochenende zwischen Bonn und Berlin gependelt. Und dann bot sich für mich die Chance, nach Berlin zu kommen zur Gauckbehörde. Da ich im Prinzip ja schon Angestellter des öffentlichen Dienstes des Bundes war, über die Bundeszentrale, war das im Grunde nur eine Umsetzung. Ich bin mir ziemlich sicher, wenn ich nicht schon drin gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich gar nicht rein gekommen, weil die Formalkriterien für die Abt. Bildung und Forschung, Doktorand, möglichst Doktor, die habe ich ja gar nicht erfüllt. Und deshalb hatte ich vielleicht da ein bißchen Glück, daß ich da über diese Schiene hineingeriet.

Die Kriterien für die Einstellung in der Gauck-Behörde sind sehr formal.

Dann kommt noch folgendes dazu: das bestätigt sich immer wieder, daß man auch sagt: na ja wer so vorbelastet ist, was die DDR betrifft, der kann nicht objektiv forschen. Das war etwas, was mich auch schon in meiner politischen Bildungsarbeit ungemein gestört hat. Wenn ich Vorträge gehalten habe oder Seminare, noch zu DDR-Zeiten, habe ich mich regelrecht zurückgehalten in Bezug auf meine Vergangenheit, weil ich wußte, daß dann das Argument kommt, gerade auch von Intellektuellen im linken Spektrum: ja wenn ich zweieinhalb Jahre in einem System so gelitten hätte, könnte ich auch nicht objektiv berichten. Man hat mir immer unterstellt, daß ich nur subjektive Eindrücke vermittle, obwohl ich immer versucht habe, mich immer mehr zurückzuziehen auf sachliche Erkenntnisse. Und hab sogar gemerkt, daß ich mich auf diese Weise etwas verbiege, d. h., daß das, was ich im Bauch hatte, schon richtig war. Das hat sich im Nachhinein auch bestätigt. Das Problem war nur, daß man diesen Leuten immer diesen Vorwurf gemacht hat, aber wenn Juden befragt wurden über ihr Schicksal oder Chilenen befragt wurden, dann konnten die nicht tief genug ihr Leid darstellen, das hat man auch objektiv wahrgenommen und entsprechend reflektiert, während die DDR da immer eigentümlicherweise verschont blieb. Das hat mich schon mächtig geärgert, und deswegen habe ich auch versucht, dagegen Front zu machen. Ich denke, wenn ich zurückschaue, hat sich das als eine richtige Entscheidung erwiesen. Ich konnte hier vergleichsweise viel noch sagen und bewegen. Das, was ich in der DDR nie mehr zustande gebracht hätte, wahrscheinlich hätte ich immer nur im Gefängnis gesessen oder ich hätte mich gebeugt. So konnte ich mich relativ offen, sowohl publizistisch als auch argumentativ, mit diesem System auseinandersetzen und zur Illegitimierung beitragen. Ich glaube, das trifft generell auf ehemalige DDR-Bürger zu, die im Westen aktiv geblieben sind. Wenn die nicht gewesen wären, dann hätten wir vermutlich schon vor 1989 die völkerrechtliche Anerkennung der DDR gehabt. Und dann wäre wahrscheinlich auch der ganze Prozeß, die offene Grenze zu Ungarn, ins Trudeln gekommen. Vielleicht hätte sich die Entwicklung ganz anders gestaltet.

Noch mal zurück zum Prager Frühling. Haben Sie sich denn immer als Einzelkämpfer verstanden oder haben Sie auch andere Leute getroffen, die wegen ähnlicher Delikte saßen?

Ich habe ja vier Geschwister, aber zwei meiner Brüder waren da auch sehr aufgeschlossen, mit denen ich dann auch nach Prag gefahren bin. Wir wurden dann auch schon mal in den Stasi-Unterlagen als feindliche Gruppe bewertet. Aber da wußte man eben, mit wem man zusammen war, und da konnte auch nichts schief gehen. Auf der anderen Seite fühlte ich mich auch in bestimmten Bewertungen der DDR, auch Biermann, Havemann nahe. Ich wollte auch mal Kontakt aufnehmen mit Biermann. Ich hatte allerdings gewisse Vorbehalte. Ich habe das als einen elitären Kreis gesehen, der noch dazu einer Ideologie anhing. Sie haben sich als Kommunisten verstanden, so verstand ich mich nicht. Ich verstand mich immer als demokratischer Sozialist, und für mich war die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik immer der diktatorische Staat. Die Bundesrepublik war für mich zwar nicht das ideale demokratische Gebilde, aber es war für mich immer eine bessere Alternative als die DDR. Havemann und Biermann hatte da eine andere Ansicht. Deshalb waren bei mir auch Grenzen gesetzt, mich zu solidarisieren, deshalb habe ich dann auch, gut in meinem unmittelbaren Umfeld, wo ich arbeitete, dort hatte ich sehr viel Sympathie. Dort war ich übrigens als Dutschke der DDR verschrien, in diesem Arbeitsfeld, die Leute haben sich mit mir unter vier Augen auch sehr gern verständigt, aber man konnte öffentlich nichts umsetzen, dann zogen sie sich zurück. Sie haben zwar immer gesagt, daß sie genauso denken wie ich, und daß sie das auch begrüßen wie ich, aber sie hatten auch Angst. "Du hast ja nun schon Berufsverbot, du kannst ja nichts verlieren". Aber das war für mich auch wichtig, weil ich glaubte, hinter mir steht eigentlich die Mehrheit der Bürger in der DDR. Deswegen habe ich auch mal in so einem Dialog mit dieser Sächsischen Zeitung gesagt: "Haben Sie doch Mut. Ich bin mir sicher, wenn Sie eine ähnliche Entwicklung programmatisch festhalten würden wie in der Tschechoslowakei, würde eine Mehrheit der DDR-Bürger dazu stehen. Er war da relativ hilflos, er ist dann ausgewichen, solchen Fragen. Also ich wußte mich zumindest mit der Mehrheit der DDR verbunden, mit meinen öffentlichen Argumenten und Auftritten, aber ich gehörte keiner speziellen Gruppierung an, außer daß ich unter dem Dach der Kirche war, in Königswald beim Friedensseminar, aber wenn es um Aktionen ging, die ein gewisses Risiko beinhalteten, und das waren damals ja unmittelbare Reaktionen, da dachte ich: das mußt du mit dir selber ausbaden. Und je mehr Menschen einbezogen werden in Aktionen, desto größer ist eigentlich deine Verantwortung. Also ich habe dann auch meiner Lebensgefährtin gesagt, die hat zwar davon gewußt, aber ich habe gesagt, wenn irgendetwas kommt, wenn tatsächlich irgendwas mal schief geht - du weißt von nichts, und auch meine Brüder wußten nichts von der Geschichte. Weil ich dachte, das mußt du erstmal selbst durchstehen. Insofern habe ich eigentlich wenig gewußt, was damals gelaufen ist, 1968. Aber als ich dann in der Haft war, in Cottbus, wo überwiegend politische Häftlinge saßen, da ging mir also doch ein Licht auf. Da habe ich doch eine ganze Menge angetroffen, aber kaum Intellektuelle, sondern überwiegend Arbeiter. Also Arbeiter und Studenten und Jugendliche. Das ist ja heute auch inzwischen wissenschaftlich belegt. Daß es nicht die Intellektuellen waren, sondern es waren überwiegen Arbeiter, die spontan auf die Niederschlagung des Prager Frühlings reagierten. D. h., daß man die Leute aus Arbeitskollektiven herausriß und sie dann wegen staatsfeindlicher Hetze verurteilte, weil sie eben spontan ihren Widerspruch geäußert haben. Und dann hat man sich meistens diejenigen rausgefischt, die man vorher auch schon im Visier hatte, und wo man nur die Gelegenheit abgewartet hat: jetzt haben wir endlich die Beweisfähigkeit, jetzt können wir sie vor Gericht ziehen und verurteilen. Also da war ich schon überrascht, wie viele es gab, die sich gewehrt haben.

Wurde noch vom Prager Frühling geredet, als Sie aus der Haft entlassen wurden?

Als ich dann wieder herauskam, war diese Zeit - so hatte ich den Eindruck, in der DDR vergessen. Es sprach keiner mehr davon. Und ich war eigentlich noch voll von dieser Zeit und den Hoffnungen, die systematisch durch Salami-Taktik zerstört wurden, wo ich dachte: mein Gott, keiner spricht mehr darüber, was damals eigentlich geschah. Und auch der Westen hat sich mit diesem Thema "Prager Frühling" kaum auseinandergesetzt. Deswegen war ich natürlich, als ich in den Westen kam, auch sehr neugierig, und habe mich ein bißchen umgeschaut, was da publiziert und berichtet wurde. Und das war eigentlich sehr wenig. Es wurde eigentlich die Geschichte dieser Kinder und Jugendlichen in Ostberlin reflektiert. Die DDR hat ja dann aufgrund dieser prominenten Söhne und Töchter eine Amnestie gemacht, unter dem Druck wahrscheinlich der eigenen Funktionäre, davon profitieren die jungen Leute, 18 bis 20 Jahre, aber alle anderen, die in der Regel standhaft blieben, meistens zwei oder zwei bis drei Jahre.

Sie meinen den Prozeß, der im Herbst 1968 vor allem Aufsehen erregte: sogar die DDR-Zeitungen berichteten über die angeklagten Töchter und Söhne prominenter Funktionäre. Sie hatten entweder "Dubcek" auf Häuserwände gepinselt oder Flugblätter verteilt. Vom 21, bis zum 28. Oktober standen sie vor dem Berliner Stadtgericht. Angeklagt waren: Thomas Brasch, damals 23 Jahre alt, Sohn des stellvertretenden Kulturministers Horst Brasch, der wegen der Verurteilung seines Sohnes abgelöst wurde. Erika Berthold, Tochter des Direktors des Instituts für Marxismus-Leninismus beim SED-Zentralkomitee. Lothar Berthold verlor noch im selben Jahr seinen Posten. Rosita Hunzinger, die Tochter einer bekannten Bildbauerin, Sanda Weigl, eine Nichte von Helene Weigel, Hans-Jürgen Utzkoreit, Sohn des Direktors der Dresdner Musikhochschule und die beiden Havemann-Söhne Frank und Florian, 18 und 16 Jahre alt. Die Urteile reichten von zwei Jahren und drei Monaten für Hunziger und Brasch bis zur so genannten "erzieherischen Maßnahme" bei Florian Havemann. Noch im November 1968 wurden alle auf Bewährung freigelassen. Vielleicht war es aber auch der Druck der Funktionärsväter, daß der Generalstaatsanwalt der DDR im Dezember 1968 eine Amnestie für alle 16- bis 20-jährigen verkündete. Etwa 300 junge Leute wurden aus der Haft entlassen. Haben Sie das denn in der Haft erfahren?

Es gab ja Gerüchte, auch durch das Klopfen in der Untersuchungshaft. Zumindest habe ich auch während der Untersuchungshaft über Klopfen Gerüchte vernommen über eine Amnestie. Also offensichtlich saßen da auch Jugendliche, die dann amnestiert wurden im Dezember, und da hatte ich schon noch Hoffnungen, daß ich rauskomme. Ich hatte mehrfach Hoffnungen, immer ein bißchen Hoffnung, daß das so nicht enden kann, aber offen darüber gesprochen wurde nicht, also auch nicht vom Vernehmer, es wurde auch nicht angesprochen, ich konnte ja auch keine Zeitung lesen, das wurde mir auch verboten. Ich hatte den ersten Kontakt erst, als das Ermittlungsverfahren abgeschlossen war, sowohl mit meinem Anwalt als auch mit meinen Angehörigen, so daß ich praktisch in Isolierungshaft war und auch keinen Zugang zu Zeitungen hatte, auch nicht zum Neuen Deutschland. Insofern war ich ziemlich abgeschnitten von dem, was sich draußen abspielte.

Sind denn wirklich alle Jugendlichen entlassen worden?

Nein. Ich hatte sogar einen Mithäftling, das war ein 19-jähriger, mehr oder weniger apolitischer Jugendlicher, der hat mit einem Gleichaltrigen einen Parteisekretär zusammengeschlagen, aus Wut über diese Intervention, und der wurde zu lebenslänglich verurteilt wegen Mordversuchs. Mein Vernehmer sagte mir: "Sie kommen in eine neue Zelle, und zwar deshalb, weil da ein Jugendlicher drinsteckt, der ist suizidgefährdet, da müssen Sie mal ein bißchen aufpassen". Da kam ich mal in eine Zwei-Mann-Zelle. Es stellte sich dann allerdings heraus, daß der nicht suizidgefährdet war, sondern der war Zellen-Informator, der war auf mich angesetzt. Aber für so eine Entscheidung für einen Jugendlichen mit lebenslänglich, das hieß ja in der DDR bis zum Ende meiner Tage, da hatte ich Verständnis. Im Nachhinein habe ich da Verständnis, wenn ich weiß, ich muß mein Leben lang hier rumsitzen und habe die Chance, durch eine Mitarbeit beim MfS rauszukommen, dann ist das für mich nachvollziehbar. Der ist dann sogar in den Westen entlassen worden. Der war schneller im Westen als ich. Er ist als politischer Häftling freigekauft worden. Aber die gab es eben auch, die spontanen Reaktionen von Jugendlichen, aus Wut, das war für die damals natürlich ein gefundenes Fressen: die Konterrevolution in der DDR, die gewalttätig gegen unsere Funktionäre vorgeht. Deswegen wurde das auch bei dem als Schauprozeß abgewickelt, während ja mein Prozeß unter Ausschluß der Öffentlichkeit gelaufen ist, sehr streng. Mein Bruder, meine Lebensgefährtin, alle durften nicht dabei sein. Lediglich die Verkündung der Urteilshöhe war öffentlich, auch nicht die Begründung. Also auch hier kann man erkennen, mit welch schlechtem Gewissen Richter und Staatsanwälte damals, überhaupt das Regime, mit diesen Prozessen umging. Wie gesagt, ich habe dann während der Haft doch eine ganze Menge mitbekommen, und war dann eigentlich enttäuscht darüber im Westen, daß da kaum Publikationen gelaufen sind. Ich habe das auch später gemerkt, ich habe ja auch ein Manuskript gemacht über diese Zeit, da hat man immer gesagt, Herrgott, das ist schon solange her. Ich kann mich erinnern, daß erst beim 20. oder 25. Jahrestag des Prager Frühlings sich im Westen was bewegt, auch, wer war denn in der DDR da aktiv, auch nach der Öffnung der Akten, daß man endlich dann auch Zugang fand zu dieser Zeit. Und da kam dann doch ein differenziertes Bild langsam zum Vorschein, daß es doch sehr viel mehr waren, die sich gewehrt haben. Die Geschichtsschreibung der Stasi hat übrigens festgehalten, daß sie mehr Gefahren gesehen haben und auch mehr Gefahrenpotential auftrat 1968 infolge der Intervention als etwa zum Bau der Berliner Mauer. Auch aus der Sicht des MfS war das ein Höhepunkt der so genannten Konterrevolution, und deshalb ist es umso erstaunlicher, daß man sich so wenig damit befaßt hat. Eine Erklärung dafür - ich weiß es nicht - ich habe mir das mal überlegt, daß es von seiten der Linken in der Bundesrepublik wenig Interesse gab, das Thema aufzuarbeiten, weil manche sich ja sogar mit der Zerschlagung des Prager Frühlings abgefunden hatten. Dann gab es die 68er Bewegung im Westen, die aus meiner Perspektive übrigens eher kontraproduktiv wirkte, d. h., die haben ja damals die Bundesrepublik als faschistoid bezeichnet, und das hat mich schon genervt, weil ich damals meinte, daß sie damit der SED und diesen doktrinären Stalinisten in die Hände arbeiten. Wenn ich die Bundesrepublik als faschistoid charakterisiere, dann ist die DDR immer noch das bessere System. Und das bedeutete für mich auch, daß eine Entwicklung in der Tschechoslowakei, die ja erstmal die bürgerlichen Freiheiten zu sichern versuchte, wie sie in den westlichen Staaten da waren, daß man damit indirekt diese Entwicklung nicht mittragen konnte. Oder man lieferte praktisch Munition gegen eine Entwicklung zu mehr Demokratie im Ostblock. Das hat mich damals eigentlich furchtbar erregt, obwohl ich mich etwa auch gegen das Attentat auf Dutschke offen ausgesprochen habe. Ich habe dann irgendwelche Zeitungen angeschrieben und habe mich dagegen gewehrt, aber für mich war die 68er Bewegung West überhaupt nicht hilfreich. Für mich war sie auch kein Impuls für meine Aktion. Meine Vorbilder waren eher Jugoslawien, Schweden usw., also Länder, die soziale Demokratie mit Freiheit verbanden. Und deshalb, glaube ich, hat sich die Linke mit diesem Thema "Prager Frühling und DDR" nicht besonders intensiv befaßt. Das ist für mich ein Erklärungsmuster, möglichenfalls. Mag nicht stimmen, aber ist für mich eben so.

Nach der Okkupation ist dann alles auch schnell wieder vergessen worden ...

Ja, warum? Warum eigentlich? Und die Entspannungspolitik, die hat das ja praktisch pervertiert, daß man dann eigentlich überhaupt nicht mehr den Widerstand gesucht hat in diesen Ostblockstaaten, sondern daß man dann versucht hat, das System von oben her zu wandeln. Ein anderes Beispiel. Häufig - auch Stolpe - rechtfertigt den Weg über die so genannten Institutionen u. a. unter Berufung auf den Prager Frühling, auf die Zerstörung des Prager Frühlings, d. h. viele berufen sich darauf, also 1953: was hat das gebracht? 1961, was hat es gebracht, sich zu wehren? 1968, was hat es gebracht? Es hat nichts gebracht. Also war direkter Widerstand eigentlich die falsche Konzeption. Dabei vergessen diese Leute, daß sie eigentlich diesen Prozeß mit begünstigt haben, weil sie sich im Vorfeld solcher gewalttätiger Aktionen nicht gewehrt haben. Das Schlimme ist ja im Grunde genommen für mich, daß man in einer Zeit, wo man diesen Prager Frühling durchaus offen hätte legalisiert vertreten können, als von Januar bis zur Intervention, die Ungarn hatten ja bis zuletzt eine positive Position zur Entwicklung in der Tschechoslowakei. Ich habe damals die deutschsprachige ungarische Zeitung gelesen, auch den "Neuen Weg" aus Rumänien, und die haben diese Entwicklung in der Tschechoslowakei begrüßt. Man hatte genug Kräfte aus dem Ostblock eigentlich, auf die man sich hätte stützen können, um den Weg in der Tschechoslowakei zu vertreten und zu verteidigen. Das haben sie nicht gemacht. Sie haben sich zurückgezogen und haben sich nicht offen für diesen Weg ausgesprochen, und haben damit indirekt die Kritik an diesem Weg befördert und begünstigt. Und im Nachhinein beschwere ich mich darüber, daß es sogar zur Intervention kam. Also ich vertrete heute noch die Meinung, daß, wenn alle diejenigen, die sich damals auf demokratischen Sozialismus berufen haben, auf Ethik, Moral und nach Prag geschaut haben, und sich nicht offen für diesen Prager Reformprozeß eingesetzt haben, sondern praktisch geschwiegen haben, die haben sich auf die Gegenseite gestellt, und haben auf diese Weise die Attacken gegen diese Entwicklung begünstigt und die Intervention mit vorbereitet. Geistig mit vorbereitet. Und deshalb ist es für mich dann eigentlich genau umgekehrt, d. h., man müßte sagen, wenn sie sich engagiert hätten für diesen Prager Frühling, und da hätten sie genügend Partner gefunden in Osteuropa, auch bei Kommunistischen Parteien, dann hätte man möglichenfalls vielleicht diese Intervention auch kippen können. Man hätte ein geistiges Umfeld geschaffen in Osteuropa, das der Sowjetunion bewußt gemacht hätte, so ein Risiko können wir nicht eingehen. Die Unsicherheiten sind zu groß. Stattdessen hat man eigentlich gewußt, zumindest in der DDR, die, die sich als geistige Elite verstanden haben, haben sich geduckt, haben sich nicht gerührt. Und hinterher natürlich, nach der Intervention, konnten sie sich gleich gar nicht rühren, und das waren dann die Ausnahmen, wie Reiner Kunze und so. Die anderen hatten sich praktisch gebeugt, und für mich ist diese Entwicklung bestimmend gewesen, für die Fortführung: wer sich damals nicht gewehrt hat und als Sozialist verstand, der hatte endgültig sein Rückgrat gebrochen. Der konnte eigentlich gar nicht mehr aufstehen und sagen: ich möchte demokratische Verhältnisse. Dann hätte man ihm sagen können: was hast du denn 68 gemacht? Da war doch ein Punkt, wo man es hätte noch schaffen können. Und jetzt, ich denke, daß viele dann auch, die vielleicht in ihren Köpfen so gedacht haben, aber vielleicht nichts getan haben, daß die gebrochen waren, und dann auch nicht mehr die Kraft hatten, aufzustehen, und sich zu wehren. Das scheint mir typisch zu sein für die DDR nach 68.

Also wer damals Mitglied der SED war, und tatsächlich dieser Partei beigetreten war aus Idealismus, und gesagt hat, wir wollen praktisch die bessere Zukunft gestalten mit mehr Menschenrechten usw., der wurde 1968 wirklich zu einer Entscheidung gezwungen, entweder bekenne ich mich in der Tat dazu, worauf ich mich immer berufe, oder mir geht es um meine Karriere. Oder sogar um die Sicherstellung eines Machtsystems als Kontrapunkt zum Kapitalismus. Eine rein ideologisch festgefahrene Linie. Also keine Linie, die den einzelnen Menschen berührt, das Menschenrecht, sondern die idelogisch verfangen war, doktrinär, diese Entscheidung mußte fallen. Das war der wunde Punkt. Und wer sich auf die Seite des Prager Frühlings gestellt hat, der war sich eigentlich im Klaren, daß er sich nach dem offiziellen Verständnis auf die Seite der Konterrevolution bewegt. Und das hat Konsequenzen. Wer sich darauf berufen hat, daß vielleicht die Reformkräfte doch siegen könnten, der hätte also spätestens nach der Intervention Konsequenzen ziehen müssen, denn die ließ sich dann wirklich nicht mehr rechtfertigen. Ich kann ja nicht sagen, nach der Intervention, jetzt will ich versuchen, in der Partei einen Reformprozeß in Bewegung zu setzen, das ging ja eigentlich dann nicht mehr. Da war ja ein Schnitt gesetzt, den konnte man schlimmer gar nicht mehr setzen, die Entmündigung, die Zerstörung des Selbstbestimmungsrechts eines ganzen Volkes, was will ich denn noch Schlimmeres belegt haben von diesem System? Also wer dann nicht den Schnitt gemacht hat, der hat sich für seine Karriere entschieden. Das ist meine Position. Ich war nie in der Partei, insofern bin ich also auch nicht eingebunden worden in die Diskussion innerhalb der Partei. D. h., es gab ja dann offensichtlich Zirkel, was man so liest, wo man sicherlich kontrovers diskutierte, aber wo man eben letztlich vor Handlungen zurückschreckte, weil es dann an die Karriere ging. Und die meisten haben sich dann offensichtlich so entschieden, daß sie dann gesagt haben. ja gut, ich hab zwar innerlich meine ablehnende Haltung zu dieser Entwicklung, aber ich werde nicht aus der Partei austreten, ich werde mich offen halten. Aber es war für mich kein Offenhalten für eine Demokratisierung, es war ein Offenhalten für die eigene Karriere. Eine Rechtfertigung für die eigene Karriere.

Das hat dann auch späteren Widerstand gelähmt.

Deswegen konnte in der DDR so etwas wie die Charta-77-Bewegung nicht entstehen, oder die Charta-77 Bewegung mußte erst den deutschen, den DDR-Oppositionellen klarmachen, daß die Menschenrechte eine fundamentale Forderung sind, die man nötigenfalls über alle anderen Rechte stellen muß. Die Opposition in der DDR hat das ja auch relativ spät erst aufgegriffen. Aber das sind die Folgen, des Prager Frühlings, das sehe ich schon, daß es in der DDR keine Leitfigur gab, und es hätte geben können, wie Reiner Kunze, den sehe ich durchaus so, den hat man so zersetzt, so kaputtgemacht, daß er eben raus mußte aus der DDR, und es war niemand da, der ihn ersetzen konnte. Und viele sind natürlich auch, und das ist die Besonderheit zu anderen Ostblockländern, daß viele dann den Weg in die Bundesrepublik gewählt haben, wie ich dann letztlich auch. Also die eben wirklich so fundamental sich in dieses System eingebracht haben, daß eben keine Chance mehr bestand, einen Weg über die Institutionen zu gehen, oder noch etwas zu bewegen im legalistischen Sinne, das war einfach nicht mehr drin, und für mich war das im Grunde auch so, das habe ich sogar in meinem Tagebuch festgehalten, vor der Intervention, also wenn es zu einer Intervention kommt, dann muß man sich darauf einstellen, daß es 20 Jahre lang tot bleibt. Und 20 Jahre - das ist für mich, in dem damaligen Alter, das war für mich nicht mehr akzeptabel, so lange zu warten oder zu bohren, bis sich etwas bewegt oder verändert. Und es hat sich mehr oder weniger so bestätigt, bis in die 80er Jahre hinein ist ja das Thema Menschenrechte, oder das, was damals die 68er Bewegung ausmachte, ja kaum mehr aufgegriffen. Außer das was sich in Polen, Ungarn usw., da hat sich ja doch eine ganze Menge mehr entwickelt, aber was die DDR betrifft, da war das System eigentlich abgestorben mit dieser Zerstörung des Prager Frühlings, was eine Innovations- und Demokratiebewegung betraf.