Glossen 27

Aus einem Gespräch zwischen Wolfgang Müller und Hans Joachim Schädlich in Carlisle, PA, Frühjahr 1994

M: Wie hast Du den 22. August 1968, also den Tag des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei, erlebt.

S: Ich selber habe mich da ganz passiv verhalten im Unterschied zu anderen, die öffentlich protestiert haben oder Zettel geschrieben haben und die verteilten. Ich habe mich da ganz passiv verhalten, äußerlich. Aber innerlich nicht. Das zählte für mich damals so wie der 17. Juni, der ungarische Aufstand, von dem ich in Leipzig dann gehört habe, oder der Mauerbau, so war auch ‘68 ein inneres Datum der Distanz. Obwohl ich...es lag nicht in meiner Natur Zettel an die Mauern zu kleben, auch heute nicht. Ich habe aber davon natürlich gehört, auch gerade über Biermann und Havemann, wie es denen ergangen ist. Brasch z.B. den haben sie ja auch, soll ich sagen, mißverständlicherweise, eingesperrt. Der war ja auch Kommunist, aber eben ein sonderbarer Widerspruch nicht, ein Kommunist mit menschlichem Antlitz. Die anderen waren Kommunisten mit unmenschlichem Antlitz, was auch Unsinn ist in sich, denn ein unmenschliches Antlitz, jedenfalls ist das für mich so, ist überhaupt kein Antlitz, es ist mehr eine Fratze, eine tierische Fratze. 1968, ja, das verbindet sich für mich stark mit persönlichen Dingen.

Ich habe in der Akademie Anfang der 60iger Jahre mit einem Linguisten, der 25 Jahre älter als ich war, ganz erfahren und ganz kalt, zusammengearbeitet. Ich habe viel von ihm gelernt. Sein Name, er heißt Alexander Isacenko, gebürtiger Russe, und der hatte damals in der DDR an der Akademie der Wissenschaften eine Anstellung auf Zeit. Er ist dann zurückgegangen in die Tschechoslowakei, von wo er gekommen war. Arbeitete als Institutsdirektor an der tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, und ich habe ihn besucht im Sommer ‘68. Da sind wir zusammen mit seiner Frau und meiner zweiten Frau nach Südböhmen gefahren zum Angeln.

M: Angelst Du gerne?

S: Er angelte. Ich habe nur die Hechte gegessen, die er geangelt hat. Wir waren an einem Ort namens Studena, der hat auch einen deutschen Namen, den weiß ich aber nicht, in Südböhmen. Es war wunderbar. August ‘68, und es war in der Nähe des 20., und da hat er mir dann eines Tages gesagt: “Hör’ mal, ich muß mich verabschieden. Ihr könnt ja hier noch bleiben. “Ich sage dir”, hat er gesagt, “ich hab’s im Urin, die Russen kommen. Ich bin alter Emigrant, und ich will nicht da sein.” Ich meine, in der Tschechoslowakei waren ja auch die Kommunisten am Ruder, aber er war gebürtiger Russe. Seine Eltern sind mit ihm sozusagen vor der Oktoberrevolution geflohen nach Deutschland. Und da hat es ihn umgetrieben. Er ist dann sogar in der kommunistischen Tschechoslowakei gelandet und ist dann in der Nacht..., also er ist dann noch nach Prag zurückgefahren, Verschiedenes erledigt. Er hatte als Wissenschaftler gerade mal einen gültigen Ausländerpaß und ist in der Nacht vor dem Einmarsch geflohen nach Österreich, für immer. Ward’ nicht mehr gesehen, Isacenkov mit seiner Frau.

Das politische Ereignis August ‘68, es ist für mich..., es hat sich für mich eben als ein Abschied von einem Freund und Lehrer eingeprägt. Und mit diesem Abschied war etwas für immer vorbei. So habe ich dieses politische Ereignis wahrgenommen.

M: Hast Du mit diesem Prager Frühling zu der Zeit irgendwelche Hoffnungen verbunden? Für die DDR?

S: Ja, ich hatte das verfolgt, vor dem Einmarsch, bis zu dem Einmarsch. Ich hatte das alles genauestens verfolgt, auch die Reaktion der Ostblockführer, besonders Ulbrichts, der war ja damals noch am Ruder. Und abgesehen von den Zielen, die die tschechischen Reformkommunisten hatten, damit ging’s mir so ähnlich wie mit den Zielen von Robert Havemann oder Biermann, abgesehen von den Zielen, habe ich die praktischen politischen Handlungen von Dubcek und seiner Gruppe im Prager Frühling also wie eine Erlösung empfunden. Das hätte man sich auch gewünscht. Wenn es auch wieder auf irgendeinen Kommunismus hinauslief usw.

Ja, ja, das hat mich sehr fasziniert, muß ich sagen, ich habe vollkommen, abgesehen von ihren eigentlichen politischen Zielen, habe ich vollkommen mit diesen Leuten sympathisiert. Und ich war total schockiert als sie sogar nach Moskau abfuhren, Dubcek und die anderen, damit er dort sozusagen die Kapitulation unterschreibt. Da hat man dann gesehen, sogar die, denen man glauben konnte, sie seien sozusagen anständige Kommunisten, sogar die kommen nicht durch bei..., na ja, damals war es Breschnjew. Und es gibt eigentlich keine Hoffnung.

M: Das mit ‘68 war alles was an Hoffnung eventuell da gewesen war...

S: Da wußte man, es gibt nichts. Die Mauer in der DDR ist eine Mauer, alle, ich könnte fast sagen, herzigen Versuche verschiedener Leute daraus etwas Liberales zu machen, waren ‘68 dahin. Also konnte man eigentlich nur noch bis zum Ende des Lebens da hinter Gittern hocken.

M: 1968 ist, glaube ich auch das Jahr, in dem Du Dich der Literatur zuwendest, anfängst zu schreiben.

S: Das stimmt, ja 68.

M: Hat das einen inneren Zusammenhang?

SCH: Vielleicht, also ich habe darüber nicht so genau nachgedacht, aber es kann sein. Also mein erster Text, den ich selber ernst genommen hab, der steht auch in dem Buch Versuchte Nähe, der heißt “Lebenszeichen”. Das ist der Versuch, eine ineinandergeschobene Wahrnehmung der Wachparade unter den Linden zu zeigen: preußische, sogar mehrere, verschiedene, bis zur Volksarmee. Ich wollte das zunächst nur beschreiben. Ich hätte ja ebensogut auch einen Teller Haferflocken beschreiben können. Es hatte ja einen Grund, das man gerade das sich wählte, eigentlich das Abstoßende, und das gleichzeitig auch noch dazu ein Symbol für das angeblich Schöne und Gute war. Dieser Marsch, das war das Abstoßende, immer. Bei Wilhelm, bei Hitler, bei Ulbricht oder Honecker. Und das habe ich mehr oder weniger unbewußt gewählt. Das war für mich eben das symbolisch Abstoßende. Also das war nach ‘68, stimmt, aber ich habe nicht darüber nachgedacht. Ja, es war überhaupt abstoßend. Generell. Ich war fasziniert, nicht von diesem Marsch, sondern von dem Interesse der Leute an diesem Marsch, das hat mich fasziniert. Und die waren fasziniert, nicht nur Ostdeutsche. Da kamen immer sehr viele Touristen, alle möglichen, mit Videokamera und Photoapparat. Die fanden das so toll, wie vom Wahnsinn gepackt. Das ist der äußerste Ausdruck von Unmenschlichkeit, schon in der Gangart, aber auch des Systems. Wer vor diese Stiefel gerät, der wird mit Musik plattgemacht. Und dann war das ja noch, wie man schon wußte: ...Das Wachregiment war eine Einheit des Staatssicherheitdienstes. Ja, also eine schlimmere Verbindung kann man sich gar nicht vorstellen.