Glossen 27

Panzer
llustrations from THE WALL by Peter Sís. Copyright (c) 2007 by Peter Sís. Used by permission of Farrar, Straus and Giroux, LLC. All rights reserved.

Utz Rachowski
Der letzte Tag der Kindheit

Die Straße. Die Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen. Wo die Randstreifen enden, beginnen Felder. Wo die Felder enden, steht ein Ortsschild. Auf ihm steht: Reichenbach im Vogtland.Von diesem Schild aus sind es etwa noch hundert Meter bis zu einer Siedlung, die Stern-Siedlung heißt und hell am Himmel meiner Kindheit steht.

Durch sie führen drei Wege, die jedoch nicht Milchstraßen heißen, wie man vielleicht denken könnte, sondern Randweg, Mittelweg und Erich-Mühsam-Straße; nach der letzten schließt sich eine Häusergruppe an, die die Erwachsenen meiner Kindheit „die SA-Siedlung" nannten, ein Name, der, wie ich mir dachte, wohl mit ihrer Kindheit zu tun hatte.

Aber ich wohnte in der Stern-Siedlung. Der Mittelweg teilte sie in zwei Teile und führte, wie sein Name besagt, mitten hindurch. Gärten zu beiden Seiten, Wiesen, die grün im Schatten hoher Apfel- und Birnbäume lagen, vielfarbige Zäune und dichtgewachsene Sträucher, Johannisbeere, schwarz oder rot und Stachelbeerbüsche ermutigten, über die kleinen, niedrigen Zäune zu langen.

Blumenbeete, Astern, Tulpen, Löwenmaul, und auf den Wiesen vereinzelte Krokusse und Schneeglöckchen begleiteten den Blick durch die kurze Jahreszeit meiner Kindheit.

Und es gab eine Vielzahl kleinerer Hunde; Foxe, Pudel und langhaarige Dackel, die laut bellend an der Innenseite der bunten Zäune entlangliefen, um am Ende der Gärten, wo der Zaun jeweils einen Knick machte, dem Vorübergehenden wehmütig und schwanzwedelnd nachzuheulen, als wollten sie sich bei ihm für ihr wildes Gebell entschuldigen oder begreiflich machen, dies sei lediglich als freundliches Geleit in eine paradiesische Gegend zu verstehen gewesen.

Vom Mittelweg ab, zwei Meter nach rechts, der dritte Garten, der mit dem gelben Ginsterstrauch und dem Pflaumenbaum an der Ecke, gehörte meiner Großmutter.

Ein rotes Gartentor aus zusammengeschweißtem Metallrohr, an dessen Klang, wenn es von mir zugeschlagen wurde, ich mich genau erinnere, führte hinein.

Der Weg aus Steinplatten, doppelreihig, dann rechts wieder Blumenbeete, ein Fliederbaum, zwei Büsche Pfingstrosen, dahinter ein Holzschuppen, dunkelbraun gefirnist, der anliegende Hühnerstall, ein Kirschbaum, die Wiese, Apfelbaum, Astern, Tulpen, Löwenmaul, vielleicht ein weißer Krokus im März; wer jetzt über den Zaun nach außen stiege, würde auf dem Mittelweg stehen und wäre im Kreis gegangen.

Also erneut durchs rote Gartentor, der metallische Klang einer Kindheit, die ins Schloß fiel.

Der Plattenweg, der Holzschuppen, Fliederbaum, aber jetzt nach links, einmeterfünfzig, drei Schritte. Die Tür zum Haus meiner Großmutter war nie verschlossen; man konnte unbemerkt eintreten.

Im Vorsaal zwei Türen, eine nach links und eine nach rechts, gerade nach oben die steile Holztreppe in den zweiten Stock, von dort durch ein Zimmer weiter bis zum Dachboden.

Aber die rechte Tür führt in die Küche. Wer sie öffnet, sieht meine Großmutter am Küchentisch stehen, links der Kohleherd, dessen Eisenplatten im Winter glühen und vor denen es sich zu hüten gilt. Also nehmen wir lieber an, es ist Sommer, das Licht ein wenig dunkel, weil im Hof der braune Holzschuppen die Sicht aus dem Fenster verdeckt.

Ich sitze unter dem Fensterbrett auf einer Eckbank, daneben die Nähmaschine mit dem gefährlichen, zum Hineingreifen auffordernden Schwungrad, das jetzt jedoch stillsteht. Ich sitze auf der Bank, meine Großmutter steht am Tisch. Ich packe meine Schultasche für den nächsten Tag, Großmutter rührt Kuchenteig oder Mohnsemmeln. Mohnsemmeln gab es im Dezember, zum Jahreswechsel. Im Sommer Kirschschale.

Manchmal, wenn ich von der Schule kam, mich schnell an den Tisch setzte, nachdem ich die Schultasche unter die Eckbank geworfen hatte, servierte meine Großmutter eine ihrer Spezialitäten. Kirschschale zum Beispiel: Gestampfte Kirschen mit Milch und rotem Zucker. Oder Mohnsemmeln, das Geheimrezept: Wasser und Mohn in einem Steintopf. Mit einem Holzstößel lange und kraftvoll verreiben, bis sich auf der Oberfläche des Breis eine milchige Schicht bildet. Dann gab meine Großmutter einige Weißbrotstücke in den Topf und stellte ihn auf die Kellertreppe; dort mußte er noch einen Tag lang stehen.

Ich sitze am Fenster auf der Bank. Ich kann, wenn ich hinausschaue, eine Ecke vom Garten sehen, den Fliederbaum, die beiden Büsche, an denen Ende Mai die Pfingstrosen blühen. Dahinter die Johannisbeersträucher, Tulpen, Astern, Löwenmaul sehe ich nicht, aber ein Stück vom Zaun, dahinter den Mittelweg, auf dem vielleicht gerade Herr Schimmack spaziert. Schimmack mit kurzen, grauen Haaren und einer Brille. Im offenen Hemd, in knielangen, grünen Lederhosen, Knickerbockern und langen, großgemusterten, schwarzroten Strümpfen, die in ebenfalls grünen Sandalen stecken. Auf offener Straße.

„Ist die Kacke noch so locker, nichts geht durch die Knickerbocker" – ist mir verboten zu rufen. Auf offener Straße und Schimmack nach. Der Schneider, sagt meine Großmutter. Und ich weiß, einmal hat Schimmack eine Hose für meinen Großvater gemacht, ein Großvater, zu dem ich nie „Opa" sagte und der tot ist, gestorben nach einer Operation, an einem „Blutgerinnsel", wie meine Großmutter sagt. Ich habe keine Erinnerung mehr an ihn, aber ein handtellergroßes Stück einer graugrünen Kreide, mit dem Schneider Schimmack einst bei meinem Großvater Maß genommen, verwahre ich noch auf dem Grund meiner Schultasche. Und weiß eigentlich nicht, wem ich dieses stumme Relikt zu danken habe, ob dieses Stück graugrüner Kreide eher meinem Großvater oder dem Schneider Schimmack zuzurechnen ist. Diese beiden, mit ihren unklaren Geschichten. Blutgerinnsel. Und bei Schimmack etwas von einem Beil, mit dem er gegen die Polizei aufgetreten sein soll und anschließendem Gefängnis. Wie gesagt, unklare Geschichten. Aber Schimmack, von dem meine Großmutter „der Schneider" sagt, geht jetzt auf dem Mittelweg hinter den Johannisbeersträuchern entlang. Wozu, weiß ich nicht, vielleicht um ein Schneider zu sein. Großmutter mit ihren Geschichten. Klarer dann schon die über meinen Ur-Großvater, der vor sehr langer Zeit (da waren meine Mutter und mein Vater noch Quark im Schaufenster, wie meine Großmutter sagt), der also damals in einem Land, das Polen heißt, nachts auf einen riesigen Schornstein gestiegen sein soll, um dort oben eine rote Fahne zu hissen. Ganz allein. Und beim Runtersteigen hat er die Stufen der Eisenleiter mit Schmierseife eingerieben, um zu verhindern, daß die Polizei die Fahne wieder abreißt. Solche Geschichten erzählt meine Großmutter und rührt Kirschschale oder Mohnsemmeln. Die rote Fahne hat meinem Ur-Großvater damals einen fünfjährigen Aufenthalt in einem – nun wieder ganz anderen Land, das Sibirien heißt, eingebracht. Doch an dieser Stelle wird meine Großmutter immer ganz still und sagt etwas von „verstehst du sowieso nicht". Und zuerst dächte ich, daß das wohl mit diesem anderen Land zusammenhängen würde, aber einmal belauschte ich ein Gespräch zwischen meinem Vater und der Großmutter, aus dem ich entnahm, daß mein Großvater zur Zeit der großen russischen Revolution im Februar 1917 – nicht zu verwechseln mit dem Oktoberputsch – von einigen Bekannten in Petersburg gesehen worden war. Er mußte also vorzeitig aus diesem Land Sibirien entlassen worden sein, war aber nicht zurückgekommen. Die Bekannten berichteten, wie er am hellen Tag durch Petersburg geschlendert sei, laut pfeifend, sagten sie, dazu noch an jedem Arm eine Dame. Nutten, wie meine Großmutter sagt. Ob er jedoch deshalb in Petersburg geblieben war oder wegen dieser Revolution dort, sagte sie nicht. Das scheint auch für meine Großmutter unklar zu sein. Ich konnte lauschen, soviel ich wollte, mit dieser Frage endete jedes Gespräch über meinen Ur-Großvater. Klar blieb nur, daß er nie wieder nach Hause kam, auch wenn, wie ich erfuhr, „zu Hause" damals Polen war.

Noch eine Geschichte? Die von dem Vater meiner Mutter, meinem anderen Großvater? Den ich zwar, genau wie die Beiden in meinem Leben nie gesehen habe, der aber ein lustiger Mensch gewesen sein muß. Als lustiger Mensch war er Mitglied bei einem Stammtisch in einer Kneipe seiner Straße und nahm jeden Abend einen zur Brust. Und jeden Abend ließ die Stammrunde eines ihrer Mitglieder sterben, um daraufhin dessen Tod ausgiebig zu begießen. Mein Großvater kam in der Nacht dann jedes Mal weinend nach Hause und berichtete von einem großen Unglück, das geschehen sei: Der Tod eines nahen Freundes. Worauf sich auch bei meiner Mutter tiefe Betroffenheit eingestellt hätte, wäre ihr nicht eben jener totgesagte Freund am nächsten Tag leicht verkatert über den Weg gelaufen.

Auch ist das Ende dieses Großvaters besser überliefert als das meines Ur-Großvaters. Eines Tages nämlich, kaufte er sich ein nagelneues Motorrad mit Seitengespann, fuhr, ohne viel Umstände zu machen, auf Hitlers soeben neuerbauter Autobahn und überschlug sich im Vollrausch. Klarer Fall, daß seine Stammtischrunde eine Mammut-Sitzung ansagte.

Das sind jedenfalls bessere Geschichten, als am Mittag grundlos den Mittelweg in grünen Sandalen und Knickerbockern heraufzukommen und Schimmack zu heißen!

Aber vielleicht nicht besser als Mohnsemmeln rühren und Geschichten erzählen zu können, wie meine Großmutter.

Während ich auf die Straße blicke und die zwei alten Frauen aus dem Haus gegenüber entlangkommen sehe, die „Umsiedlerinnen" heißen, übrigens wieder so ein Wort meiner Großmutter, von dem ich nicht weiß. was es bedeutet.

Die kleinere Frau, die einen Buckel hat und gekrümmt geht, arbeitet auf- dem Friedhof, der am äußeren Ende des „Randweges", an der Grenze der Stern-Siedlung zu den Feldern liegt. Dort wäscht sie Leichen, sagt meine Großmutter, und ich renne jedes Mal, wenn die Bucklige den Mittelweg entlangkommt, schnell ins Haus oder verstecke mich hinter dem dunkelbraunen Holzschuppen oder sitze, wenn ich gerade auf den Fliederbaum geklettert bin, ganz still.

Die andere Frau, draußen auf dem Mittelweg, geht aufrecht, scheint kräftiger als die Bucklige und ist Köchin in einer Betriebskantine. Von ihr nehme ich gern jedes Wort entgegen und die dazu gereichten Süßigkeiten, Schokolade und Pudding, die sie aus ihrer Kantine mitbringt.

Und einmal, als abends ein Gewitter aufkam und meine Großmutter im Garten die Wäsche von der Leine nahm, kam diese alte Frau ins Zimmer, bis an mein Bett, in dem ich lag und mir die Augen zuhielt, setzte sich und brachte mir einen großen Teller Götterspeise.

Die ersten Blitze, das Trommeln der Regentropfen auf dem Blech des geöffneten Fensters, die grünschillernde Götterspeise, die mir die „Umsiedlerin" brachte, die mit einer Frau zusammenlebte, die Leichen wusch, diesen Geschmack sollte ich für immer auf meiner Zunge bewahren.

Aber nun ist ein heller Sommertag, die beiden Frauen gehen den Mittelweg entlang, erreichen, nachdem sie an drei Gärten vorbeigegangen sind, an Zäunen, Wiesen und Hunden, eine größere Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen. Dort, nach hundert Metern das Ortsschild: Reichenbach im Vogtland.

Die Straße. Die Straße meiner Kindheit führt von Zwickau nach Plauen. Und es ist eine vogtländische Straße.

Das Vogtland. Das Vogtland ist ein kleiner Landstrich im Süden des östlichen Teils von Deutschland. Jenes Deutschland, das heute auf der Landkarte rechts liegt und dessen geographische Physiognomie einem zu Scherzen aufgelegten Betrachter wie ein vertrockneter Zwerg erscheint, mit dem es sich schlecht scherzen läßt. Das Vogtland im Süden grenzt im Norden an Sachsen, zu dem es jedoch keineswegs zählt, was im besonderen aus den auffahrenden Gesten seiner Bewohner hervorgeht, wenn man ihnen sagt, sie seien Sachsen. Vogtland ist Vogtland. Bitte sehr!

Es wird im Westen von Thüringen, im Ostcn vom Erzgebirge und im Süden von Bayern und Böhmen eingeschlossen. Das Vogtland ist meine Heimat, was nichts anderes heißt, als daß Wälder, Flüsse, Flüßchen, Seen, Dörfer und sonnenüberflutete Marktplätze mit den deutlichen Bildern meiner Erinnerung abwechseln.

Und Wege führen durch alle Erinnerungen, auf den Wegen ich. Mit den Eltern und allein. Allein und mit dem Bruder. Mit den Fahrrad, dann mit einer Zuckertüte. Und später mit den verständnislosen Gesichtern der Altersgenossen und Schulkameraden, die verständnislose Fragen aufwarfen: Was läßt sich dieser Walther von der Vogelweide mit dem Papst ein?

Fragen und Gesichter, zu denen ich früh schwieg und die Antwort wußte. Allein war. Auf den Marktplätzen und Schulbänken. In die Wälder ging und die Wege wußte.

Denn es gibt dort, neben der bereits erwähnten Autobahn, die dem Vater meiner Mutter zum Verhängnis wurde oder ihn vielleicht vor einem elenden und weißen Tod bei Petersburg und Stalingrad bewahrte, oder vor einem ganz anderen Tod im Land Sibirien, dort gibt es neben dieser Autobahn, die, wie ich hörte, von Hitler allein erbaut wurde, nur noch eine einzige Nord-Süd-Trasse. Das ist, diese allein, die Straße meiner Kindheit.

Die Straße. Zwischen Reichenbach und Zwickau heißt

Die Straße. Zwischen Reichenbach und Zwickau heißt sie Zwickauer Straße, nach Reichenbach, Richtung Plauen, Plauensche Straße, und kurz vor Plauen Reichenbacher Straße. Von dort führt sie weiter bis Bad Brambach. Dann fängt Böhmen an.

Die Straße. Aber damals war ich noch ein junges Mädchen. Sagt meine Großmutter und rührt Mohnsemmeln. Jeden früh ritt die Kavallerie dort hinaus. Eine endlose Schlange von Wagen und Reitern, die in den Krieg zogen. Da war ich ein junges Mädchen. Meine Großmutter erzählt. Ich sitze am Tisch und schaue in den Garten. Der braune Holzschuppen, der die Sicht behindert. Aber ich sehe die Pfingstrosen. Ich sehe ein Mädchen. Am Fliederbaum vorbei. Durchs rote Gartentor. Der metallische Klang. Ein paar Meter. Ein anderer Zaun. Ein anderer Garten. Andere Büsche. Wieder ein Fliederbaum.

Hier wohnt der Großvater von Martina. Der Fische züchtet und seine Nächte bei ihnen verbringt. lm Sommer kommt Martina zu Besuch. Wenn der Sommer gelb ist, hat Martina blondes Haar. Dann gehen wir baden. Durch die Felder am Rand der Siedlung. die Stern-Siedlung heißt. Dann steht der Raps hoch. Dann hat Martina einen schwarzen Badeanzug. Dann blüht der Raps gelb. Wenn der Sommer blond ist, schlägt unser Herz. rot, und weiß blühen die Brüste des ersten Mädchens. Ich war dreizehn. Ich tnöchte nicht nocheinmalzwanzigsein. Ich möchte nicht singen. Darüber nicht.

Dann zog Martina ihr Kleid an. Adieu. Wir gingen zurück zur Siedlung, die Stern-Siedlung heißt. An beiden Bäumen blühte der Flieder. Adieu. Dann sagte ich ihr vor dem roten Gartentor: Bis bald. Dann blühte der Flieder wild. Adieu. Dann zog Martina in eine andere Stadt.

Im nächsten Sommer, dem ein endloser Herbst vorausgegangen war, mit einem Mädchen aus meiner Klasse, das Karin hieß, blond war und einen schwarzen Badeanzug trug, versuchte ich, etwas von dem zu wiederholen, was mit Martina weggezogen war. Aber ich habe es nicht mehr gefunden. Und später hießen die Mädchen Ulrike, Beate und wieder Karin. Ihre Haare waren braun, blond oder rot. Da waren es schon zehn Jahre. Und dann hieß ein Mädchen Maria. Aber die hatte schwarzes Haar. An fröhlichen Tagen Zöpfe.

Das interessiert dich nicht, sagt meine Großmutter und schüttet noch Wasser in den Steintopf. Erzähl nur, sage ich und schaue weiter auf die Straße. Jeden Morgen, und ihre Worte scheinen den Rhythmus zu bestimmen, mit dem ihre Arme Mohnsemmeln reiben, jeden Morgen sind sie hinausgeritten. Aber da war ich noch ein junges Mädchen. Kavallerie. Die Soldaten ritten damals auf Pferden, mußt du wissen, weil es kaum Autos oder Panzerwagen gab. Selbst die Kanonen wurden von Pferden gezogen. Jeden Morgen an unserem Haus vorbei. Warte mal, sagt sie, ich muß in den Keller, noch Mohn holen. Ich sitze in der Küche und schaue in den Garten. Martina. Deshalb war ich jeden Abend die Holztreppe bis zum Dachboden hinaufgestiegen und hatte mit einem Fernglas die Sterne betrachtet. Deshalb mein unbezwingbares Interesse für Astronomie. Das nie seine Erfüllung fand, weil ich später nach der achten Klasse auf die Oberschule wechselte, also den Astronomie-Unterricht in der Zehnten der Grundschule verpaßte und den in der Zwölften der Oberschule nicht miterlebte, weil ich ein Jahr vorher wegen allseitiger Renitenz gefeuert wurde. Beleidigung von Armeeoffizieren. Weil ich nicht Offizier werden wollte. Zersetzung des Klassenkollektivs. Mit dem Unterricht fremden Stoffen. Den Geschichten meiner Großmutter und denen meiner eigenen Augen. Von Kavallerie und betrunkenen Motorradfahrern. Von roten Fahnen und Nutten in Petersburg. Von zwei Fliederbäumen. Mein unwissenschaftlicher Blick zu den Sternen. In einer Siedlung, die Stern-Siedlung heißt, weil ihre Häuser immer zu dritt, sternförmig aneinander gebaut waren. Die schwarzen Badeanzüge. Mein Bruder, der Student, mit Geschichten über rebellierende Studenten. Der schwarze ,Johannisbeer-Schnaps, selbstgemacht, den wir heimlich im Keller tranken. Die Umsiedlerinnen. Die Blitze. Götterspeise. Der Teufel. Rudi Dutschke. Schimmack. Die Silvesterraketen im Schnee. Mein Bruder, der sie abschoß und lachte.

Was war jeden Morgen? frage ich meine Großmutter, die aus dem Keller zurück ist.

Nachdem die Sonne aufgegangen ist, sagt sie, sind sie hinausgezogen, hinaus auf die Felder, wo Krieg war. Unser Haus stand genau an der Straße, und ich konnte alles sehen. Aber damals war ich noch ein junges Mädchen.

Sie sagt nicht: Leokadya Amalia. Das sind meine Vornamen, das Land hieß Polen, das war eine polnische Straße, und der Ort mit diesem Haus an der Straße hieß Sdunska Wola und liegt zweihundert Kilometer von Warschau entfernt. Dort wurde dein Vater geboren. Das sagt sie nicht. Sie sagt nur: Da war ich ein junges Mädchen.

Die Offiziere in ihren glänzenden Uniformen, jeder auf einem Schimmel. Dann der Tambourmajor. Der seinen Stab schwang und den Rhythmus für die nächsten Reihen der Reiter bestimmte. Die Musik. Die Soldaten. Mit Säbeln an der Seite, die den Gang ihrer stolzen Pferde mitschwangen. Zuletzt dann Gespanne. Wagen mit Proviant, Kanonen, Feldküchen. Vorbei an unserem Haus. Jeden Morgen.

Und dann am Abend, und es waren immer warme Abende dort im Sommer, mußt du wissen, und wir Mädchen standen barfuß vor den Häusern am Straßenrand, warteten wir auf die Soldaten. Und einmal, das weiß ich noch genau, war am Morgen ein großer blonder Leutnant auf einem herrlichen Schimmel allen vorangeritten. Abends war ich als erste von den Mädchen an der Straße.

Dann kamen die Soldaten. Ich sah den Leutnant. Er lag quer über dem Sattel seines stolzen Pferdes und war tot. Die Uniform voll Erde und Blut. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr erkennen. Sie hatten ihm den Schädel gespalten. Am Morgen war er allen vorangeritten. Er war mutig, aber es war sinnlos, denn es war Krieg.

Dann kamen andere Gespanne mit toten Reitern. In Haufen lagen sie übereinander. Meine Mutter lief aus dem Haus und zog mich an der Hand fort. Das ist der Krieg, sagte sie. Und seit diesem Abend bin ich nie wieder an diese Straße gegangen. Aber damals war ich noch ein junges Mädchen. Sagt meine Großmutter. Und rührt Mohnsemmeln.

Sie atmet jetzt schwer, hört für einen Moment auf und gießt noch etwas Wasser in den Steintopf.

Ich schaue wieder aus dem Fenster, sehe den Holzschuppen, den Fliederbaum, die Johannisbeersträucher, die Blumen vor dem Zaun. Es ist Abend geworden. Der Pfingstrosenstrauch hat seine blutroten Knospen geschlossen. Ein heller Stern leuchtet über dem Haus der Umsiedlerinnen.

Meine Großmutter stellt die Tonschüssel mit dem fertigen Mohn auf die Kellertreppe.

Der Weg, der, geht man an drei paradiesischen Gärten vorbei, auf die große Pflastersteinstraße führt, die hier Zwickauer Straße heißt und von mir benannt wurde: meine Kindheit, ist jetzt leer.

Und später, ich weiß nicht, wieviele Tage oder Jahre vergangen waren, denn Kindheit ist eine Zeit ohne inneres Maß, hörte ich am Morgen ein Geräusch, das schon in der Nacht aufgekommen war und auch jetzt nicht mehr zu enden scheinen wollte.

Ich fand das Bett meines Bruders leer, und als ich nachsah, auch den braunen Holzschuppen, wo sonst sein Motorrad stand. Ich zog mich an und lief auf die Straße, meine Großmutter hatte mich zum Bäcker geschickt, um Brötchen zu holen. Und ich war glücklich, denn es waren Ferien, und die noch flach stehende Sonne versprach einen heißen Tag.

Ich rannte den Mittelweg entlang, einer der Hunde aus den drei Gärten vollzog sein gewöhnliches Ritual und blieb dann winselnd hinter dem Zaun zurück.

Ich kam an die Straße meiner Kindheit, die Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen – und blieb stehen. Denh alles war stehengeblieben. Schimmack stand dort. Die Umsiedlerinnen waren stehengeblieben. Der Raps stand gelb, aber anderswo. Der Sommer war nicht mehr blond. Die Badeanzüge blieben an einer Erinnerung hängen und standen fest. Und etwas anderes stand fest, blieb zurück und war stehengeblieben, dort an der Straße, an diesem Tag, etwas, was von nun an Kindheit heißen und hinter mir liegen würde.

Denn sie allein bewegten sich. Auf meiner Straße. Rollten weiter. Fuhren fort: Panzer mit aufgepflanzten Maschinengewehren, Lastwagen und Geschütze, Schützenpanzer und Feldküchen.

Sie waren ein endloser Strom, der schleppend unter einer gelben Glocke aus Staub vorwärtskroch.

Ich stand noch eine Weile still, ging dann aber langsam weiter, an Häusern vorbei, immer an dieser Straße entlang.

Zwei Mädchen aus meiner Klasse, Sonja und Ruth, sahen mich und liefen mir entgegen. Was ist denn los, riefen sie, durften wir deshalb in den Wäldern keine Pilze suchen, obwohl wir Ferien haben?

Nein, diese Soldaten waren heute nicht freundlich und wollten keine Adressen tauschen, ganz anders als die von der Pateneinheit unserer Schule, die mittwochs manchmal zum Gruppennachmittag gekommen waren und russische Lieder sangen.

Da lachte ich und ging weiter, denn etwas war vor ein paar Augenblicken stehengeblieben, und ich hatte mich umgedreht und wußte seither den Namen.

Ich ging weiter und kam an einem Haus vorbei, in dem der Direktor unserer Schule wohnte; ich sah ihn im weit geöffneten Fenster in der zweiten Etage des Hauses stehen, in .jeder Hand ein rotes Papierfähnchen, die er wie wild schwenkte. Rufe der Begeisterung mußten aus seinem Mund gekommen sein, die jedoch sogleich vom Klirren der Panzerketten verschluckt wurden.

Ich ging eng an der Hauswand entlang, so, daß mich der Direktor nicht sehen konnte, und als ich nach oben blickte, sah ich nur noch seine Arme und Hände mit den roten Fähnchen und wie sie sich dem Strom und der gelben Staubglocke entgegenstreckten.

Andere Hände müssen es gewesen sein, dachte ich, und eine andere Fahne, die mein Ur-Großvater einst in schwindelnder Höhe befestigt hatte. Nicht diese Schulkreidefinger, nicht dieses Zensurenrot.

Das nicht, das wußte ich jetzt, seit ich mich nach dem umgewandt hatte, was meine Kindheit gewesen ist.

Aber ich ging weiter, noch an zwei Häusern vorbei und öffnete dann die Tür zum Bäckerladen. Außer einer Verkäuferin und mir war niemand sonst in diesem Geschäft, denn alle waren sie stehengeblieben.

Ich kaufte fünf Brötchen und drei Stück Mohnkuchen, für meine Großmutter, meinen Bruder und mich, bezahlte und verließ den Laden.

Auf der Treppe der Bäckerei geriet ich wieder unter die Wolke aus gelbem Staub, roch den schwarzen, verbrannten Diesel, sah zu den Fahrzeugen hinüber und – wäre beinahe gestürzt. Ich sah ihn! Er saß auf dem schwarzen Motorrad, mitten in dieser unendlichen Panzerkette, mitten auf der Straße. Ich sah in das Gesicht meines Bruders, sah die schwarzen Haare, den Bart und die Augen, seinen Mund, um den ein Ausdruck zwischen Entsetzen und Freude lag; sein rotes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, als würde eine schwere Arbeit zu verrichten sein.

War das die Fahne? Fuhr mein Bruder deshalb hier, oder wollte er sich nur einen Spaß machen. Und unter welcher Fahne fuhren die Panzer? Hatte er deshalb sein rotes Hemd angezogen, wollte er sich lustig machen über sie oder mit ihr diesen Vormarsch aufhalten, der der Krieg war. Und ich sah, wie zwischen meinem Bruder und dem Panzer, der vor ihm über das Pflaster schlug, bereits ein größerer Abstand entstanden war. Der nachfolgende Panzer blieb jetzt schon fünfzig Meter zurück. Ich sah, wie mein Bruder seinen Oberkörper aufrichtete und sich zu dem Panzer hinter sich umwandte, dessen Kommandant in einer unverständlichen Sprache schrie. Ich sah, wie der Kommandant seine Pistole aus dem Gurt riß und einen Befehl gab. Wie der Panzer anzog und auf meinen Bruder zusprang. Wie mein Bruder Gas gab und nach fünf Metern eine Vollbremsung machte. Wie Sand aufflog und die Ketten auf dem Pflaster kreischten. Wie der Panzer ins Leere stieß und mein Bruder lachte. Wie Kommandos ausgeführt wurden von unsichtbaren Fahrern. Wie eine sichtbare Fahne gegen eine graue Schlange aus Metall kämpfte, die unter einer Fahne fuhr, die unsichtbar blieb. Wie mein Bruder unter der Staubglocke verschwand. Wie die graue Schlange weiterrollte. Wie die Fahne von ihr gejagt wurde und nicht mehr zu sehen war. Wie sie besiegt schien. Wie die Panzer erneut zum Stehen kamen und Motoren leer liefen, als hätte einer Sand in sie geschüttet.

Ich griff mein Netz mit den Brötchen fester und lief, so schnell ich konnte, die Straße hinab zur Stern-Siedlung, zum Mittelweg, zum Haus meiner Großmutter. Die Fenster des Direktors standen noch immer offen. Ich sah nach oben. Er ragte im Fenster, noch immer mit weitausgestreckten Armen, seine Hände hielten die Fähnchen aus Papier, die nicht mehr flatterten, herabhingen, als gäbe es dort oben eine Windstille. Sein Blick war leer und auf die Straße gerichtet.

Die beiden Mädchen aus meiner Klasse traf ich nicht mehr, und auch alle anderen waren verschwunden. Keiner hatte gewartet, niemand war stehengeblieben, keiner würde dabei gewesen sein, als die Fahne zu sehen war.

Meine Großmutter kam mir ein paar Schritte entgegengelaufen und hatte sich wegen meines langen Ausbleibens Sorgen gemacht. Ich lief auf sie zu und rief: Großmutter, er hat die Panzer aufgehalten! Verstehst du, mit dem Motorrad!

Ich sah, wie meine Großmutter weiß wurde wie die Wand ihres Hauses, vor dem wir standen.

Auf die von der Sonne dieses heißen Tages beschienene Mauer fielen jetzt zwei Schatten von unterschiedlicher Größe, die sich aneinandergelehnt hatten.

Mein Bruder kam am Abend wieder. Wir hörten sein Motorrad, dann schlug das Gartentor zu. Mit unvergeßlichem Klang. Mein Bruder ließ seine Maschine gegen den Holzschuppen fallen. Wir sahen ihn ins Haus kommen. Er stürzte in die Küche, schwankte ein wenig und riß sich das Hemd über der Brust auf. Sein Gesicht war schwarz. Wir sahen drei Wunden auf seiner Brust, aus denen Blut lief. Draußen auf der Straße schwoll das Klirren der Panzerketten wieder stärker an.

Die Brust meines Bruders war von drei Stichen bedeckt. Eine verirrte Wespe mußte, während er zwischen den Panzern fuhr, unter sein Hemd geflogen sein. Denn es war Sommer, ein heißer Tag, an dem meine Kindheit zu Ende ging. Es war Dienstag, der zwanzigste August neunzehnhundertachtundsechzig.

In der darauffolgenden Nacht überschritten, unter anderem in der Höhe von Vogtland und Erzgebirgc, 500 000 ausländische Soldaten die tschechoslowakische Grenze.

Die Straße meiner Kindheit ist eine Pflastersteinstraße mit unbefestigtem Randstreifen und geht zu beiden Seiten in Feld über.

 

Westberlin, Dezember 1983 – Mai 1984