Glossen 28

Christine Cosentino
Ingo Schulzes Simple Storys und Antje Rávic Strubels Unter Schnee : ein Vergleich

1998 veröffentlichte Ingo Schulze (Jahrgang 1962) seinen Aufsehen erregenden, preisgekrönten Roman Simple Storys[1], der in vernetzter Form die Einzelschicksale aus der Welt gefallener Altenburger Provinzbürger thematisiert, die sich in der neuen kapitalistischen Konsumgesellschaft neu aufzurappeln versuchen oder auf der Strecke bleiben. Drei Jahre später, im Jahre 2001, erschien Antje Rávic Strubels Episodenroman Unter Schnee, eine Geschichte über eine endende Liebe zwischen einer Ost- und einer Westfrau, eine Geschichte über weibliche Homosexualität, die in einen Ost-West-Konflikt eingebettet ist. Die beiden in der ehemaligen DDR sozialisierten Autoren Schulze und Strubel schreiben aus der Ost-Perspektive, die jedoch - generationsbedingt - bei dem zwölf Jahre älteren Ingo Schulze erheblich ausgeprägter ist als bei der jüngeren Antje Rávic Strubel (Jahrgang 1974).[2] Obwohl die Unterschiede der Ost-West-Polarisation im vereinigten Deutschland sich sicherlich im Laufe des neuen Jahrzehnts verschleifen werden, melden sich Stimmen östlich geprägter Deutscher nach wie vor zu Wort -- der Bogen ließe sich spannen von Volker Braun und Thomas Rosenlöcher über Jens Sparschuh und Thomas Brussig zu Ingo Schulze und Julia Schoch, und, last but not least, zu Antje Rávic Strubel.

Schulze machte bereits im Jahre 1999 klar: “Ich werde bis an mein Lebensende -- mehr oder weniger -- auf diese DDR-Erfahrung zurückkommen,” (Geiger) ein Statement, das er im Jahre 2007 erhärtete: “Die Ostperspektive ist, von der Tendenz her, die des Neulings, des Dazugekommenen, der das Vorhandene nie so im kleinen Finger haben wird wie jemand, der schon immer da war.” (Rüdenauer) In seinen Werken Neue Leben (2005), Handy (2007) und Adam und Evelyn (2008) führt er dieses Thema fort. Ähnlich betont in einem Interview im Jahre 2007 die jüngere Antje Rávic Strubel eine Ost-Perspektive: “Aus der DDR-Gesellschaft konnte man nicht raus; aber aus der Westgesellschaft, die so viel subtiler kontrolliert, findet man nicht heraus. Daher meine Frage an das, was wir für unser Ich halten: Kann ich etwas anderes sein als das, was ich bin?” (Meyer-Gosau). Diese Identitätsbefragung wiederholt sie emphatisch ein Jahr später in einem Glossen-Interview:

Mich [beschäftigte] die Nachwendezeit, die Veränderung in den Menschen, die ein Systemwechsel bewirkt. Die Spuren, die das Alte im Neuen hinterlässt. […] Was mich heute beschäftigt: die Brüche in einem Leben und die Grenzen, die ein Leben ausmachen und auf welche Weise man diese Grenzen verschieben und aufbrechen kann. (Biendarra 4)

Neben Unter Schnee spiegeln andere Werke von Rávic Strubel -- Offene Blende (2001) oder Tupolew 134 (2004) -- diese Thematik.

Will man vor dem Lesen der Bücher in den Titeln Simple Storys und Unter Schnee irgendwelche symbolischen Verweise auf die Atmosphäre der Handlung bzw. deren Aussagegestus erspüren, so würden Schulzes Storys suggestiv auf Formen von Dialog oder den Akt des Erzählens und Zuhörens deuten; dem Titel von Rávic Strubels Episodenroman dagegen entnähme man Kälte, Stagnation, vielleicht sogar eine drohende Katastrophe. Beide Autoren bedienen sich -- obwohl in Rávic Strubels Titel selbst nicht erkennbar -- des Genres des Geschichtenerzählens, also versuchter Kommunikation. Behält man im Auge, daß sich sowohl Schulze als auch Rávic Strubel auf längere Zeit in den USA aufhielten, so präsentieren die mit Ost-West-Konflikten, Identitätsproblemen, Bewußtseinserweiterungen, Grenzaufsprengungen und Grenzerweiterungen beschäftigten Werke Simple Storys und Unter Schnee auf der Folie amerikanischer Leseerlebnisse gemeinsame historische, politische und kulturelle Erfahrungen, aber auch entgegengesetzte Tendenzen, die geradezu exemplarisch ausgeprägt sind. Diesen Gemeinsamkeiten und Unterschieden in einem intertextuellen, intra- und interkulturellen Kontext nachzuspüren, sei das Ziel dieser Arbeit.

Schulze hielt sich 1996 mit einem Stipendium der Stiftung Kulturfonds in New York auf, nachdem er bereits 1995 den Roman 33 Augenblicke des Glücks veröffentlicht hatte. Die renommierte amerikanische Zeitschrift The New Yorker reagierte begeistert: “[Schulze’s] unembellished fiction, which has been compared to the works of Raymond Carver, offers an unsettling picture of the newly unified Germany.” (Buford) Schulze selbst suchte in jenen Jahren in New York nach geeigneten künstlerischen Ausdrucksmitteln für die Gestaltung der Ereignisse im Kielwasser der Wende und beschäftigte sich intensiv mit dem poetischen Instrumentarium der amerikanischen Short Story, mit “stories about people who led lives neither admirable nor depraved” (Vintage Book xiii). Für seine eigenen Werke das Etikett “Personalstil” oder “authentische Autorenstimme” ablehnend, verwies er in seiner Aneignung von Lesefrüchten auf sein großes Vorbild Alfred Döblin: “In der Verweigerung eines eigenen Stils statt dessen den Stil immer wieder neu im Dialog mit dem Stoff zu entwickeln, vertritt Döblin eine Tradition, der ich mich gern zuordne.” (LS 94) Offen bekannte Schulze sich dann im Jahre 1996 zu Raymond Carver[3], der seine literarische Leitfigur wurde: “Es war Zufall, daß ich nach Abschluß meines ersten Manuskriptes Raymond Carver las. Plötzlich hatte ich einen Ton im Ohr, mit dem ich meine hiesige Gegenwart ansprechen konnte.” (LS 93) Robert Altmans auf Carverschen Storys basierender Film Short Cuts (1993) mit seiner die Perspektiven ändernden Verschlingung ein- und ausgeblendeter individueller Lebenswege tat ein übriges. Für die deutsche Übersetzung von Carvers Erzählband What We Talk About When We Talk About Love (1981) -- Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden (2002) -- schrieb Schulze ein Vorwort, betitel “Endstation Sehnsucht”, in dem er die Bedeutung des Carverschen Stils für die Bearbeitung seiner eigenen unmittelbaren Gegenwart, der Wende, erklärt:

Innerhalb kürzester Zeit hatten D-Mark und Bundesrepublik aus dem Osten Deutschlands ein Land gemacht, das demjenigen Carvers ähnlicher war als dem seiner eigenen jüngsten Vergangenheit. Deshalb schien mir Carvers ‘traditioneller’ Stil zur Beschreibung Ostdeutschlands nach 1989 als so geeignet. Durch ihn wurde mir die neue Welt transparenter. So wie man eine Melodie mit seinem eigenen Text unterlegt, versuchte ich im Carverschen Tonfall über meine Erfahrungen nach ’89 zu sprechen. (Vorwort 12)

Die in Carvers Werken fungierenden Figuren orientierungsloser, sprachloser Verlierer und Verlorener aus den nordamerikanischen Staaten Washington, Oregon und Kalifornien -- “misfits trying to break out of ‘submerged population groups’” (Vintage Book xvi) -- wurden dem Deutschen zum Modell. Es wimmelt in Simple Storys von Enttäuschten, Pechvögeln, Aufsteigern oder Sich-Wandelnden aus der ostdeutschen Provinz, die im Nachhinein der Wende im neuen Gewand den Helden der typischen amerikanischen Short Story ähneln. Resigniert, desorientiert, verwirrt und doch heroisch kämpfen sie nach dem historischen Wendepunkt tapfer ums Überleben. Schulzes Rekurs auf die Short Story, spezifisch auf Carver, wurde in der Kritik verschiedentlich bearbeitet. So betont Friedhelm Marx die Gleichzeitigkeit der einzelnen Geschichten und den Redeschwall der Figuren, einen Redeschwall mit “sprachlosen Leerstellen, Freiräumen und Abgründen” in Geschichten, die “sparsam, unpsychologisch, ‘wortreich sprachlos’” (Marx 604) erzählt werden. Ähnlich sieht es Paul Cooke, der im zwanghaften Akt des storytelling der Figuren bereits “identity formation” (Cooke 299) erkennt. Christine Cosentino dagegen setzt den Akzent auf “den unberechenbaren Stellenwert des Glücks” im Kontext der Short Story (Cosentino 133-38).

Auch Rávic Strubel ist mit dem amerikanischen Genre der Short Story vertraut.[4 ]Zwar erwähnt sie Carver m. E. in Interviews nirgendwo[5], weist aber auf Wahlverwandtschaften zu dem auf Carver rekurrierenden Schulze:

Mein nächstes Buch "Unter Schnee" ist eine zusammenhängende Geschichte, aber in immer unterschiedlichen Erzählungen. So ähnlich wie Ingo Schulze mit "Simple Storys", der hat dieses Prinzip entwickelt, das kenne ich in Deutschland nur von ihm. (dtv-Interview)

Viele der in der Literaturkritik für Schulze und die Short Story herausgearbeiteten Affinitäten wie Leerstellen, Lakonie, Wendepunkte, Perspektivenwechsel, zeitlicher Horizontverfall treffen daher auch auf den Episodenroman Unter Schnee zu. Doch der von Carver betonte, von Schulze für den deutschen Osten übernomme Typ des Verlierers oder des Verlorenen, der überleben will, erscheint in Unter Schnee weniger konturiert. Rávic Strubel, die wie Schulze mit einem Stipendium der Stiftung Kulturfond unterstützt wurde, hielt sich acht Monate in New York auf, wo sie die Romane Offene Blende (2001) und Unter Schnee konzipierte. Sie arbeitete als Beleuchterin an einem Off-Off-Theater, daneben studierte sie an der New York University, eine Erfahrung, die dann später in Deutschland zum Studium der Amerikanistik als Nebenfach führte. Nicht nur handelt es sich hier also um eine “amerikanische Phase” in der Biographie der Autorin Rávic Strubel, sondern um ein gründliches Kennen und bewußtes oder unbewußtes Verarbeiten moderner amerikanischer Literatur für eigene Schaffensprozesse. Davon zeugt das dem Roman Unter Schnee vorangestellte Motto von Don DeLillo: “But the world was lost inside her.” Dieses Zitat, dessen Quelle im Buch nicht angegeben ist, hat Rávic Strubel dem Werk The Body Artist (2001) entnommen, ein Text grenzenzersetzender Gleichzeitigkeiten mit Menschen in Landschaften der Entfremdung. Vorausblickend sei bemerkt, daß dieses spezifische Motto dem ansonsten vom Gestus der Short Story getragenen Roman Unter Schnee eine Tönung gibt, die den Schulzeschen Simple Storys fehlt. Die Figuren der Simple Storys agieren auf Carverscher Folie in einer Atmosphäre “wortreicher Sprachlosigkeit” (Schulze Vorwort 11), die bei Rávic Strubel umschlägt in einen Bereich einfrierender, “wortarmer” Sprachlosigkeit.

Ein kurzer Blick sei geworfen auf die Handlungsstränge der beiden Werke Simple Storys und Unter Schnee, weiterhin darauf, wie sie sich in der Neugestaltung amerikanischer Stilelemente komplementieren. Schulzes Simple Storys projizieren das Panorama ineinandergleitender, im Umfang knapper Episoden in der Provinzstadt Altenburg direkt nach der Wende, in die der Westen eindringt. Die Welt expandiert. Es kommt, wie Anne-Sofie Dideriksen es faßt, zu einer “Grenzauflösung zwischen Provinz und Welt”, zu einer “bedrohlichen Offenheit” (Dideriksen 42), die alles unüberschaubar zu machen scheint. In diesem noch verstörend unbekannten Raum agieren Unmengen von Personen, die ähnlich unüberschaubar sind und mit verknappter, verdichteter Sprache kommunizieren, in der die Andeutung oder die Leerstelle dominiert. Der Leser wird zum Deuter. Ein scheinbar enger, auf die Einzelepisode ausgerichteter Blick weitet sich im Gesamtbild der einzelnen Puzzleteile zu einem geschichtlichen Ganzen aus. Einige Handlungsstränge lassen sich nach sorgfältigem Lesen herauskristallisieren.

Die erste Story stellt das Ehepaar Meurer vor. Von dieser Familie leiten sich andere Lebenswege ab und zwar mit neuen Figuren, die in ihre eigene Privatsphäre und in einen neuen Personenkreis eingebunden sind. Es geht um ein ständiges Ein- und Ausblenden von Geschichten, die begonnen werden, dann abrupt enden, um später erneut, mit neuen Personen, fortgeführt zu werden. Zunächst erzählt Frau Renate Meurer von einer Italienreise, in der eine Denunziation neu aufgewärmt wird. Ihr Mann, der ehemalige parteihörige Schuldirektor Ernst Meurer, begegnet dem ehemaligen Arbeitskollegen Dieter Schubert, den er um seine Stellung gebracht hat. Schubert rastet aus und schreit der Welt vom Sims einer Kathedrale seine Leidensgeschichte entgegen. Ernst Meurer dreht in einem späteren Kapitel selbst durch, und seine Frau verläßt ihn. Mit dem Sohn der Meurers, Martin, beginnt eine neue Geschichte mit neuem storytelling, die in andere Geschichten greift. Martin ist ein arbeitsloser Kunsthistoriker, dem der Führerschein temporär entzogen wurde. Seine Frau Andrea, die jetzt, wo das Auto fehlt, auf ihr Fahrrad angewiesen ist, verunglückt tödlich. Frau Doktor Barbara Holitzschek, eine in der Psychiatrie arbeitende Ärztin, hat sie überfahren und dann die Fahrerflucht ergriffen. Dann erzählt sie der Welt, sie habe einen Dachs überfahren. Das Ungesagte scheint im Geschilderten durch, in Leerstellen oder kurzen Andeutungen. Das Wissen um die Schuld der Frau Doktor spiegelt sich in den abgerissenen Sprachfetzen oder fragmentarischen storys anderer Personen in anderen Geschichten, die um Lydia, eine Präparatorin am Naturkundemuseum, und um ihren Mann Patrick, einen Fotographen, kreisen. Diese Personenkonstellation wiederum bringt Figuren der lokalen Zeitungsredaktion und des Museumpersonals ins Spiel. Und so geht es in einer Art Endlosspiel mit immer wieder neuen Geschichten weiter und weiter; die Lebenswege durchdringen sich, lösen sich dann voneinander, oder sie überkreuzen sich neu. Im letzten Kapitel ist es dann wieder ein Mitglied der Meurer-Familie, der arbeitslose Sohn Martin, der im Vordergrund steht. Mit der ehemaligen Schwesternschülerin Jenny verteilt er für das Fischrestaurant “Nordsee” im Taucheranzug und mit Schwimmflossen in einer Fußgängerzone Reklamezettel. Er wird geschlagen, trotzdem geht er mit Jenny vorwärts.

Rávic Strubels Roman Unter Schnee ist weniger episodenreich, und das Figurenensemble ist reduzierter. Generell scheint die Autorin an formalen Elementen der Short Story interessiert zu sein, weniger an deren traurigen, tragikomischen “misfit”-Helden. Ort der Handlung ist ein eingeschneiter Skiort in der Tschechischen Republik, das postsozialistische Städtchen Harrachov. Etwa zehn Jahre sind nach dem Systemwechsel vergangen, und der erste Eindruck ist, daß sich Ost und West an diesem eingeschneiten Ferienort mischen. Die Welt scheint sich stabilisiert zu haben. Doch es bewegt sich wenig, und in der Starre deuten sich gesellschaftliche und private Diskrepanzen an. Jede Figur hat ihre eigene, meist spezifisch ost- oder westliche Geschichte im Bewußtsein und beharrt darauf. Machen bei Schulze einige Figuren bereits erste zaghafte Versuche, ihr gesellschaftliches Anderssein pragmatisch und optimistisch -- wie Paul Cooke notiert -- in die neue Gesellschaft einzubringen, “in a more productive sense of Easternness from within the Federal Republic ” (Cooke 303), so beläßt es Strubel bei Distanz und Abwehr. Geschildert wird die östliche Welt nach dem Wechsel des Gesellschaftssystems mit Menschen, die sich der westlichen Lebensweise geöffnet zu haben scheinen oder sich anzupassen versuchen, Menschen aber auch, die entweder weiterhin an den Wunden des realen Sozialismus leiden oder aber nach wie vor von alten östlichen Verhaltensmustern zu profitieren versuchen. In dreizehn von Leerstellen durchlöcherten Momentaufnahmen bewegen sich die Handlungsträger Evy, die Ostfrau aus Senftenberg, und Vera, die Westfrau aus Mainz. Ihre Fernbeziehung haben die beiden temporär beim gemeinsamen Urlaub in Harrachov unterbrochen. Doch die verschneite Landschaft setzt der Beziehung ein Ende. Der weiße Schnee und die blendenden Sonnenstrahlen vervielfältigen das gesellschaftliche und individuelle “Anderssein” der beiden Frauen, ihre unversöhnlichen Charaktereigenschaften, die man aus der Persönlichkeitsstruktur der beiden erklären könnte. Wiederholt jedoch deuten beide Frauen diese Unterschiede als fortwährende ost-westliche Verhaltensmuster, die von beiden nicht durchbrochen werden.[6] Das spezifisch Private, Individuelle geht in Unter Schnee im Ost-West-Konflikt verschiedener Sozialisierungen verloren. Evy ist die Gelassene und Vernünftige, die sich in schwierigen Situationen nicht aus der Ruhe bringen läßt und alles klaglos hinzunehmen scheint; Vera dagen ist die Unstete, Unruhige, die immer wieder nach neuem Anreiz im breiten Angebot der Konsumgesellschaft Ausschau hält. Kommunikation ist auf ein Minimum reduziert.

Rávic Strubel geht es wie Schulze um das Thema des Andersseins, also um gesellschaftliche und private Fremdheit und Nähe und die Frage, wie durch die Wahrnehmung der anderen das eigene Ich ergründet wird und erweitert werden kann. Im Glossen-Interview von 2008 führt sie diesen Gedanken näher aus, weist auf Widerständiges, das sich der Bewußtseinserweiterung entgegenstellt, beispielsweise eine störende, nach 1989 sich in beiden deutschen Teilen akut manifestierende Rechtfertigungshaltung, d.h. “Verengung der Realität durch verengte Wahrnehmung, Kategorisierungen, Labels, Bezeichnungen.” (Biendarra 6) Es ist festzuhalten, daß die Autorin zur Zeit des Systemwechsels fünfzehn Jahre alt war, also den Ereignissen und den in sie involvierten Menschen und ihren Problemen mit größerer Distanz und sicherlich unbeteiligter gegenüberstand als Schulze, der engagiert am historischen Geschehen teilnahm. Rávic Strubel kommentiert:

Nach der Wende war es so, daß ich viel zu viel suchen mußte, um überhaupt politisch sein zu können. Mir war vieles zu fremd und zu neu. Ich bin immer noch dabei, das alles einzuordnen. (dtv-Interview)

Schulze war zur Zeit des Mauerfalls siebenundzwanzig Jahre alt und konnte sich daher mit seinen Figuren und ihrer Problematik identifizieren. Rávic Strubel beoachtet kühler. Wie auch Schulze präsentiert sie ihre Figuren ohne Psychologisierung, aber -- im Kontrast zu Schulze -- ohne große gesellschaftliche Hoffnungen oder Anteilnahme. Man spürt die Anwesenheit der Autorin nicht. Der Leser fühlt existentielle Kälte, die sich in einer traumatischen Todesvision Veras in der Abgeschlossenheit eines Schneelochs vervielfacht. In der Tat ähneln Rávic Strubels kühl präsentierte Nahaufnahmen den Filmwerken des fiktiven Regisseurs Rey Robles, einer literarischen Figur aus DeLillos Geschichte The Body Artist, nämlich jenem Werk, dem sie das Zitat: “But the world was lost inside her” als Motto für ihren Roman entnahm[7]:

His subject is people in landscapes of estrangement. He found a spiritual knife-edge in the poetry of alien places, where extreme situations become inevitable and characters are forced toward life-defining moments. (DeLillo 31)

Ein solcher existentieller Moment, eine “Prüfung", -- wie Vera es nennt -- endet jedoch ohne Konsequenzen im Belanglosen.

In seinem “Vorwort” zu Carvers ins Deutsche übersetzten Band Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden spricht Schulze vom Ausdrucksgestus des Unsagbaren, d. h. “wortreicher Sprachlosigkeit” in Situationen, in denen verstörende Wendepunkte, ein als unverständlich empfundener Verlust im Leben anderer Menschen die eigenen Grundfesten der Existenz erschüttern. Auch bei Rávic Strubel geht es um das Gefühl, im vermittelten Wort “nicht zum Kern der Sache zu kommen, ohne sagen zu können, was dieser Kern wäre. Schreiben ist für sie [Strubel] der Wunsch, “das Unsagbare mitzuteilen.” (Heimann) Beide Autoren rekurrieren in dieser Absicht -- Schulze allerdings stärker und gezielter -- auf Raymond Carver oder die Short Story generell, aber ihre Figuren reagieren anders. Ein Maximum an Worten in den Dialogen der Storys erscheint in Unter Schnee auf ein Minimum reduziert. “Das, wofür [die Figuren] keine Worte hatte[n]” (Vorwort 10) vermittelt sich in den Simple Storys in deren Sucht, jemandem immer wieder neu etwas erzählen zu müssen. Schulze betont als Modell Carvers Geschichte “Warum tanzt ihr nicht?”, in der eine junge Frau im unsinnigen Redeschwall vergeblich Sinn über Verstörendes sucht. Auch andere, von Schulze nicht erwähnte Stories von Carver erhellen diese Sehn-Sucht, im Reden Verbindendes zu finden; beispielsweise empfindet ein Bäcker aus der im übersetzten Band nicht enthaltenen Geschichte “A Small, Good Thing” ganz ähnlichen Redezwang: er, der verhärtet und bitter ein Ehepaar zu Anfang der Handlung mit Telephonanrufen tyrannisiert hatte, tröstet die beiden, die ihren Sohn verloren haben: “Eating is a small good thing in a time like this. […] They talked on into the early morning, the high pale cast of light in the windows, and they did not think of leaving.” (Cathedral 89)

Schulze stellt in seinem eigenen Werk diesen Mitteilungsdrang in den Kontext einer Gruppentherapie, in der er selbst der Therapeut, aber auch zuhörender Therapierter ist, der in den erzählten Geschichten eingebunden ist: “Wenn ich meine Position beschreiben müßte, wäre es eigentlich diejenige des Therapeuten, der jemanden erzählen läßt, dem etwas erzählt wird. Oder der als stummer Gast im Sessel dabei sitzt.” (Geiger) Thomas Steinfeld sieht den zuhörenden Autor als eine Art “Nachbar oder gar einen entfernten Verwandten seiner Figuren, und unter Verwandten und Nachbarn reichen wenige Stichworte aus, um eine Geschichte abzurufen.” Der Gedanke der Teilnahme am Gespräch in einer historischen Periode des Desorientiertseins bietet sich an, denn im selben Interview reiht sich Schulze in ein kommunales “man” ein: “Man ist als Ostdeutscher immer auch, nicht immer zu Unrecht, in einer Rechtfertigungshaltung.” (Geiger) Das Geschichten-Erzählen in Gruppen fungiert daher -- so kann man folgern -- entweder als ein Akt ostalgischen Beharrens oder als vorwärtsblickendes Sich-Befreien, ein, wie Stuart Taberner es faßt, Sich-Sehnen nach Normalität: “to suit the purposes of those on the margins, who, endlessly, speak of their own ‘normality’.” (Taberner 59) Im Redefluß kristallisieren sich Wünsche und Sehnsüchte: das Suchen nach Problemlösungen oder Bestehen auf Gewohntem, der Versuch, Verhaltensveränderungen anzuregen oder Denkprozesse über Verteidigenswertes einzuleiten, der Versuch, zum Handeln zu motivieren und Sinn aus neuen Erfahrungen zu konstruieren. In der Psychotherapie formen Geschichten der Patienten “die Perspektive, die Menschen über ihr Leben, ihre Vergangenheit und Zukunft haben.”[8] Die Reflexionen der Figur des Journalisten Edgar Körner aus dem zwanzigsten Kapitel der Storys spiegeln diesen Gedanken:

Ich dachte, ich sei der einzige, der merkte, daß sich die Erde dreht. Keiner verstand, was ich da redete. Dabei hatte ich lange über diese Formulierung nachgedacht. Die Erde dreht sich, und man kann nur warten, daß sie sich weiterdreht und sich dadurch die Perspektive ändert, so daß man die Dinge eben auch mal wieder anders sieht. (SS 205)

Erinnert sei an die Mahnung des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, die Deutschen sollten einander vor allgemeinen Vergleichen erst einmal gegenseitig ihre Biographien erzählen. In den Simple Storys sind es die Ostdeutschen, die in kleinen Gruppen einander mit Andeutungen und Leerstellen versehene Geschichten erzählen, die mit den Geschichten immer wieder anderer Gruppen verhakt sind, so daß der deutende Leser aus dem Redefluß das “Unsagbare” bzw. Ungesagte herausschälen muß. Aus der Totalität der Geschichten gewinnt er einen Gesamteindruck von den Ängsten der “Verlierer und Verlorenen”, von der Macht alter, zur Ostalgie verführender Gewohnheiten, aber auch von den zagen Hoffnungen auf Neues, vom pragmatischen Sich-Öffnen der neuen Konsumgesellschaft gegenüber. Im Zusammenspiel von 29 Einzelgeschichten ermittelt der Leser also jene Gesamtsumme ostdeutscher Befindlichkeiten, deren Tendenzen Paul Cooke innerhalb des identitätsbildenden Storytelling-Prozesses ausführlich herausgearbeitet hat als: “a defensive Trotzidentität versus a more ‘productive’ model that can negotiate both the past and present, pointing toward a more, fluid notion of Eastern identity within the context of contemporary German society.” (Cooke 299) Der folgende Dialog verdeutlicht das Gleiten vom Besonderen ins Allgemeine:

“Ich mag alte Leute”, sagte Jenny. […]"

“Bei denen sieht man richtig, wie es funktioniert. Du fragst sie was, und sie erzähln dir erst mal das eine. Du fragst wieder, und sie erzähln dir was anderes. Und dann fragst du zum dritten Mal. Und das ists schließlich.” (SS 256)

Das Aufeindersprallen alter Verhaltensmuster und neuer Herausforderungen ist beispielsweise eingefangen im Dialog der beiden Figuren Lydia, Präparatorin am Naturkundemuseum, und Hanni, ihrer Chefin: “’Sehnst du dich auch manchmal nach früher?’ fragte ich. ‘Was soll denn das jetzt? Du hast doch damit nichts am Hut gehabt!’ sagte sie [Hanni] ziemlich ruhig.” (SS 58) Andere Statements ergeben erst in ihrer Verzahnung mit anderen Geschichten einen Sinn. Renate Meurer erzählt im ersten Kapitel der Storys über den ausrastenden Dieter Schubert, den ihr Mann denunziert hat. Sie sinniert: “Warum ich das erzähle? Weil man so schnell vergißt.” (SS 23) In späteren Geschichten ergibt sich dann eine Art angestrebter Vergangenheitsbewältigung, die dem Vergessen entgegenarbeitet: war es Parteihörigkeit, politischer Druck oder menschliches Versagen, das Ernst Meurer motivierte? Renate Meurer stellt sich dieser Problematik, denn die Schwesternschülerin Jenny, die der zwanghaft über die Vergangenheit redende Dieter Schubert fürs Zuhören bezahlte, konfrontiert sie:

“Warum erzählen Sie mir das?”

“Damit Sie mir glauben. Damit Sie sehen, daß ich nicht mit so was rechnen konnte. Vielleicht hätte ichs wissen müssen, wenn einer immer nur erzählt und erzählt und nichts weiter. Das kann ja nicht gutgehn.” (SS 166)

Es geht nicht gut. Dieter Schubert stirbt am Herzinfarkt. Andere Geschichten-Erzähler aber sind erfolgreicher. Der vom Konkurs bedrohte Taxiunternehmer Raffael beispielsweise, der einen großen Ofen im Frost entsorgen will, bekommt zwar wenig Hilfe von den Nachbarn, gibt aber nicht auf. Er formuliert seine Entsorgungsmethode im Sinne einer Weltanschauung:

Ich kam nur mühsam voran, aber immerhin bewegte ich etwas. Ich hatte die Sache sozusagen im Griff, und das beruhigte mich. Ich fühlte mich sogar richtig gut da oben. Womöglich, weil ich ein Problem aus der Welt schaffte. Es war nur eine Frage der Zeit. Plötzlich schien mir alles lösbar und leicht. (SS 293)

Sind Schulzes Storys vom Gestus des Wortschwalls geprägt, so herrscht in Unter Schnee die Wortkargheit. In Rávic Strubels Geschichten entsteht der Gedanke des Therapeutischen oder Dialogischen nicht. Es fehlt die anteilnehmende Leitfigur des “Therapeuten”; die Figuren entblößen sich nicht, sie verschließen sich. Es sind östlich und westlich Geprägte, die aneinander prallen, und sie ersticken den Drang in sich, sich etwas von der Seele reden zu wollen bzw. über andere Standpunkte orientiert zu werden. Einige Geschichten lesen sich wie Monologe, andere sind unterkühlte Berichte über Personen, die für einen kurzen Moment das Leben der beiden Frauen Evy und Vera streifen. Doch die Geschichten stehen in keinem dynamischen Verhältnis zueinander. Es besteht kein Sog, der im Leser den Gedanken an etwas Kommunales entstehen läßt. Die Figuren wirken isoliert und finden wenig Verbindendes; sie entkommen der Reglosigkeit nicht. Frau Beran, die Pensionsbesitzerin, bemerkt gleich zu Anfang der Handlung: “Sie reden schon nicht mehr miteinander. Das letztemal haben sie vor zwei Tagen miteinander geredet.” (US 28)

Einer der Hauptgründe ist zweifelsohne der aus unterschiedlicher Sozialisierung resultierende Ost-West-Konflikt, der Individuelles verdeckt. Gespräche über die Vergangenheit enden im Schweigen. Vera, die West-Frau, gibt zu, wie wenig sie über die Vergangenheit der anderen weiß oder wissen will: “Von damals weiß ich nicht viel, das ist Evys Geheimnis, und sie hütet es wie dieses Glühweinglas in ihren Händen. […]” (US 18). Dann kommt es zum versuchten Dialog:

“Es gibt Menschen, die monatelang eingesperrt waren,[…] nur weil sie sich darüber aufgeregt haben, daß die Lifte nicht fahren oder sie jemand Offizielles dafür verantwortlich gemacht haben. Stell dir einfach vor, du bist so ein Mensch. Es geht dir gleich besser.”

“Wenn du hier die Märtyrerin spielen willst, bitte schön. Ich bin dafür, herauszufinden, was man dagegen tun kann und es dann zu tun.” (US 18-19)

Evy wendet sich ab. Die Möglichkeit, im Gespräch Einsichten zu gewinnen, die einer einzelnen Person verwehrt sind, wird nicht wahrgenommen. So bleibt es bei der anvisierten, aber unverwirklichten Annäherung, bei der Absicht: “Möchte ihr [Vera] in den Kopf gucken […] Kann es aber nicht.” (US 70) Und weit über Ost-Westliches hinausgehend, bringt Evy die eigene, individuelle Charakterdisposition, die Angst vor dem Sich-Exponieren, vor dem Verletztwerden ins Spiel:

Vielleicht glaubt sie auch, wenn man Gefühle nicht formuliert, hat man keine. […] Sehnsüchte […] sie glaubt, ich hätte sie nicht. Dabei sind es Sehnsüchte, die ich nur unter der Bettdecke sagen kann, wenn sie gerade das Licht ausgemacht hat. […] Und dann sagt man es schließlich doch, im Dunkeln, weil man sich dann weniger ausgesetzt fühlt. (US 87-88)

Scheu vor dem Miteinander-Reden, wohl auch im realen Sozialismus angelerntes Mißtrauen und Angst vor dem anderen gelten ebenfalls für andere Personen im Dorf, denen Evy und Vera begegnen. Sie beobachten die beiden Frauen aus wechselnder Perspektive und reflektieren über sie innerhalb ihrer eigenen, wortkarg in Sprachfetzen geschilderten Geschichten. Evy und Vera werden zur Projektionsfläche von Emotionen anderer Menschen, die oft so verknappt formuliert werden, daß das Gesagte in der Schwebe bleibt. Einzelne ost- oder westliche Lebensläufe berühren sich in einer Art “crossover” kurz, laufen aber wieder auseinander. Die Personen reden unverbindlich miteinander oder aneinander vorbei. Häufig bleibt es völlig offen, was geschehen wird oder geschehen ist. So unterhält sich ein Skiverleiher mit Evy über das Skifahren, Evy jedoch spricht indirekt über etwas völlig anderes, ihre eingefrorene Beziehung zu Vera. Ein Mißverständnis oder stillschweigendes Einverständnis? Was im Dialog verbindend hätte werden können, verpufft im Unverbindlichen. Beispiele gibt es viele. Kommt es tatsächlich zu einem Gespräch zwischen der Pensionsbesitzerin Frau Beran und den beiden Frauen Vera und Evy, oder bleibt es beim vorsichtigen Schweigen? Frau Beran, die vor vielen Jahren ihren Mann verloren hat, weil der Rettungshubschrauber bei einer Militäraktion eingesetzt wurde, läßt offen, ob es zu einem Dialog kommt. Und war -- so wird in anderer Episode von dem immer noch aktiven Rettungsteam angedeutet -- der Schlaganfall des Herrn Beran simuliert oder nur ein Vorwand, sich der Militäraktion zu entziehen? Was weiß der nach wie vor spitzelnde, zynische, das Briefgeheimnis verletzende Postbeamte Broda über seine Vorgesetzte Simona? Auf welche undurchsichtigen Machenschaften von deren Ehemann spielt er an, wenn er sie unter Druck setzt? Was nervt den Barkeeper Pavel am Verhalten der beiden Frauen Eva und Vera, die nach einem Streit getrennt im Restaurant sitzen, dann wieder zusammenrücken. Ist es ein abgekartetes Spiel? Beobachten sie ihn? Und wen hat Oliver, ein anderer Pensionsgast im Hause Beran, vor dem Systemwechsel denunziert? Seine Frau droht mit Enthüllungen, sollte er sein verletzendes Verhalten den beiden homosexuellen Frauen gegenüber wiederholen. Vieles bleibt rätselhaft. Es dominiert die Leerstelle. Der Schnee beherrscht die Szene, suggeriert kühle Distanz, Unschärfe.

Ein existentielles Schlüsselerlebnis im Verhältnis der beiden Frauen ist der bereits erwähnte Unfall Veras; sie bricht in ein Schneeloch ein, verbringt dort Stunden, glaubt nicht mehr ans Überleben, wird aber gerettet. Dieses Todeserlebnis empfindet sie als eine Art “Prüfung” (US 117), eine Rückschau auf ihr Leben, die verändernd wirken könnte.

“Ich hab sie überhaupt noch nicht kennengelernt,” erzählt sie dem Rettungsdienst und fährt fort: “Und jetzt würde ich gern alles besser machen (US 93) […] Wenn man da unten sitzt, sieht man alles verkehrtherum, und da kommt es einem vor, als hätte man eigentlich immer alles nur verkehrtherum gesehen, und man mu? aus diesem Loch heraus sein, und dann sieht man alles zum ersten Mal richtig.” (US 94)

Aber das in dieser Situation angelegte Potential eines Wendepunktes in der Beziehung der beiden so unterschiedlich Sozialisierten wird nicht wahrgenommen. Es bleibt bei der Nabelschau und dem Selbstbezug: “keiner sucht nach dir. [..] wo du warst, ist plötzlich nichts mehr. Absolut nichts. Es ist still und schwarz. Es ist Glück” (US 129). Glück liegt im Sichverschließen. Ein sinnvoller Dialog zwischen den Frauen läßt auf sich warten. Die Teeanager-Figur Adina wird Zeuge des fragmentarischen Gesprächs über Veras existentielle Prüfung und macht sich Gedanken über dieses seltsame Glück, das im Nichts gründet. Ein Internet-Gesprächspartner erklärt ihr, was das Nichts bedeutet: “Sobald du aufhörst, mit mir zu sprechen, bin ich nichts.” (US 130). Veras Reflexion über die Auflösung ins Nichts, d.h. in entfremdende Dialoglosigkeit, hat sie sicherlich als gesellschaftliches Wesen kaum “selbstsicherer” (Brombach) gemacht, sondern in ihrer Selbstbezogenheit und ihrem starren Auf-sich-selbst-Fixiertsein bestätigt. Dialoge enden im Leeren und ohne Perspektive. Die Welt präsentiert sich nicht, wie bei Schulze, in bedrohlicher, zugleich aber auch vielversprechender Offenheit, sie schrumpft im Schnee zusammen, engt ein, verschließt sich: Stagnation. Es geht nicht vorwärts, es geht nicht rückwärts. Auch die nonverbale Sprachlosigkeit, d.h. Mimik, Körpersprache, Blicke, Sich-aneinder-Klammern der Figuren, die in Schulzes Storys in haltloser Zeit Halt und Hoffnung signalisierte, führt in Unter Schnee ins Nichts. Augenkontakt wird angestrebt, “aber der Moment ist zu kurz, oder sie dreht sich absichtlich zu früh weg.” (US 23) Die Abschiedsszene im Stau auf der Autobahn scheint in dieser mit dem Ost-West-Konflikt belasteten Frauenliebe symbolisch die Weichen für die Zukunft zu setzen: “Meine Freundin will mir die Hand in den Nacken legen. Sie landet auf meinem Bauch, weil die Schlange vor uns wieder anruckt.” (US 137).

Schulzes sowie Rávic Strubels Geschichten sind Momentaufnahmen, in denen die Gegenwart, der augenblickliche Zustand dominiert. Doch es gibt gravierende Unterschiede. Spürt man in den Storys bei aller Dominanz des Augenblicks ein verschlüsseltes Fortschreiten der von der Vergangenheit kommenden Gegenwart in die Zukunft, so hemmen in Rávic Strubels “Episoden” Monotonie und Leere den Gang der Zeit. Man hat den Eindruck, Unter Schnee sei vorrangig eine Verkettung gefrorener Momente, in denen die Zeit stillgelegt ist. In beiden Werken ist der historische Umbruch -- in der amerikanischen Short Story ein die Grundfesten erschütternder Wendepunkt -- unterschwellig spürbar. In vagen Andeutungen oder verworrenen Erinnerungsfetzen reagieren die Menschen darauf. Viel wird dem Leser abverlangt, der Zusammenhänge herstellen muß. Schulze zeigt diesen Zustand des Reagierens seiner Figuren mit Sympathie, er betont den Gestus resignierender Akzeptanz, ganz im Sinne einer Carverschen Figur, die in der Story “So Much Water So Close To Home” wie folgt bilanziert:

One day something happens that should change something […] Meanwhile, the people around you continue to talk and act as if you were the same person as yesterday […] but you are really undergoing a crisis, your heart feels damaged. (Short Cuts 79)

Ein Beispiel aus Schulzes Simple Storys wäre die Opfer-Täter-Story über Dieter Schubert und Ernst Meurer -- “die Geschichte lag weit zurück” (SS 21) -- die sich stichwortartig durch verschiedene Gruppenkonstellationen windet. Es dauert lange, bis dem Leser klar wird, was sich abgespielt hat. Rávic Strubel dagegen -- wo sie die Vergangenheit kurz einblendet -- arbeitet mit dem Gestus unterkühlter Verschlossenheit. Über der Handlung liegt dichter Nebel, der fast undurchdringlich ist und vieles rätselhaft macht. Für beide Autoren gilt jedoch ein Diktum, das Anne-Sofie Dideriksen für die Storys betont: “Weder dem Leser, noch den Figuren steht ein stabiler Vergangenheitshorizont als Orientierungspunkt für das Erzählte zur Verfügung.” (Dideriksen 40)

Der wohl auffälligste Unterschied in der Wahrnehmung der Zeitebenen ist ein Vor- und Zurückgleiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in den Storys, während in Unter Schnee die Fixierung auf den Augenblick dominiert. Schulze schafft von Anfang an einen Handlungsraum von Mobilität und Immobilität, der in die Zukunft greift. Orientierungslos stolpern seine Figuren durch eine ihnen unbekannte neue Welt; sie fallen, aber sie erheben sich wieder und blicken vorwärts in die Zukunft. Schulze evoziert für die Verwestung des Ostens Bilder von Umwegen, Scheidewegen, Abwegen, kurz, eines Labyrinths, in dem man leicht vom rechten Weg abkommen kann, zumal der rechte Weg noch keine klare Kontur hat.[9] Eingebettet in dieses Bedeutungsfeld ist ein Netzwerk von “verfahrenen Situationen” mit stockendem Verkehr, Unfällen, Sichverfahren, Fahrlässigkeit, aber auch immer wieder von pragmatischem Vorwärtsfahren oder Vorwärtslaufen. Zu der in dieser Struktur angelegten Lebensphilosophie gesellschaftlicher Grenzaufsprengung äußerte sich Ingo Schulze:

Endlich komme ich hier in Fahrt, endlich habe ich den richtigen Asphalt dafür. Andere sagen das ist rutschig, ich kann da nicht gehen." -- Im Westen gibt es ganz ähnliche Typen, die einen, die damit zurechtkommen, und die anderen, die fliegen aus der Kurve. (Geiger)

Schulze endet seine Storys mit einem Beispiel von vorwärtsgerichteter Selbstbehauptung und Menschenwürde. Geschlagen und gedemütigt, im Taucheranzug und mit Schwimmflossen, nicht nach rechts und nicht nach links schauend, bewegen sich die Figuren Martin und Jenny, die für ein Fischrestaurant Reklame gemacht haben, vorwärts:

Wir halten uns an der Hand, weil die Brille das Blickfeld einengt und man nie weiß, ob der andere wirklich noch neben einem geht. […] Wie auch immer, Martin und ich verfallen in Gleichschritt. Und selbst, als wir die Fußgängerzone verlassen, ändert sich daran nichts. (SS 303)

Das Neue, Unbekannte, Zu-Erobernde treibt die Zeit voran. Zukunft ist Hoffnung, die jede Figur in diesem Buch hegt: daß sobald wie möglich eine identitätsstabilisierende Normalität eintritt, in der jeder seinen Platz findet.

Bei Rávic Strubels Figuren läßt sich kein Schwingen zwischen Gegenwart und Zukunft erkennen. Charakteristischerweise beginnt der Episodenroman mit Veras Bekenntnis: “Es macht micht nervös, den Körper in einer Decke zu haben. Man kann nicht vor und zurück darin.” (US 9) Diese Immobilität und Statik manifestiert sich in der Metapher des Schneesturms und des Eingeschlossenseins, der engen, restriktiven Räume, des Sichverlaufens, des Sturzes in ein Schneeloch, und letztlich, am Ende der Handlung, des Stehens im Stau, das den geplanten Abschied in einem Restaurant an der Grenze verhindert.[10] Die Isolation der Rávic Strubelschen Figuren zeigt Affinitäten zu DeLillos Werk The Body Artist, dem die Autorin das ihrem Episodenroman vorangestellte Motto entnahm: “But the world was lost inside her.” In letzterem Werk verliert die Figur der Verwandlungskünstlerin Lauren ihren Mann. Sie verliert den Boden unter den Füßen und versinkt ins Leere. Die Welt geht in ihr verloren. Die Trauer erzeugt einen Zustand absurder Gleichzeitigkeiten und existentieller Kälte. Im “gefrorenen Moment” erfindet oder findet Lauren einen gewissen Mr. Tuttle, mit dem sie zu sprechen versucht. Doch es kommt zu keiner “normalen” Kommunikation. Mr. Tuttle bringt nur Sprachfetzen hervor, unvollständig, unzusammenhängend, ohne Zeitkonzept. Bei aller narrativen Andersartigkeit zeigen die Werke von Rávic Strubels und DeLillos das Moment der stillstehenden Zeit, der isolierenden Selbstversunkenheit und der nichtstattfindenden Kommunikation. Die Figuren erscheinen erstarrt, und ein Durchbrechen des Eises wird nicht gezeigt.

Auf der Folie amerikanischer Literatur, vorrangig der Short Story und im besonderen des Stils Raymond Carvers bieten sich in den Simple Storys und Unter Schnee Einblicke in “begrenzende” deutsch-deutsche Befindlichkeiten oder in geglücktes oder nicht geglücktes Überschreiten von Grenzen. Die narrative Struktur der beiden Werke führt zu unterschiedlichen Erkenntnissen und Bewußtseinshaltungen. Der Prozeß einer ostdeutschen Identitätsbildung schwingt noch immer zwischen den Polen von Reglosigkeit und Dynamik, Bewußtseinsverengung und Bewußtseinserweiterung. Schulzes Figuren drängen nach einem normalisierenden Draußen, und bei aller Benommenheit oder Müdigkeit bewegen sie sich nach vorn. Man könnte bereits in diesem frühen Werk erste zaghafte, pragmatische, nicht immer erfolgreiche Versuche eines Aufbruchs, einer Bewußtseinserweiterung, registrieren. Die Figuren kommen “in Fahrt”. Rávic Strubel dagegen präsentiert einen Zustand der Stagnation, der kategorisierenden Begrenzung und Bewußtseinsverengung. Ihre Figuren sind sich ihrer Einsamkeit bewußt, aber es bleibt beim Drinnen und bei der Selbstversunkenheit. Ein Ausbruch, ein Entkommen aus der Kommunikationslosigkeit gelingt nicht. Rávic Strubel äußert sich über ihre Schreibmotivation: “Immer geht es auch um den Versuch von Grenzaufsprengungen, Grenzerweiterungen oder Ausbrüchen, die am Ende oft nicht funktionieren, aber zumindest versuchte Ausbrüche sind.” (Biendarra 9) Unter Schnee gestaltet einen solchen versuchten, aber fehlgeschlagenen Ausbruch.

Zu unterscheiden oder aufzudröseln, in welchem Wechselverhältnis gedämpfter Optimismus, Skepsis oder Pessimismus in den beiden Werken Simple Storys und Unter Schnee zueinander stehen, ist letztlich Sache des Lesers. Konfrontiert mit einer Poetik erzählerischer Umwege, befindet sich der Leser in einem Bereich der Unklarheit und des Unüberschaubaren, in dem das Versteckspiel dominiert.

 

Anmerkungen

1 Bereits ein Jahr später erschien das Buch in englischer Übersetzung und wurde in den USA ein großer Erfolg. ( Schulze, Ingo. Simple Stories. Übersetzt John E. Woods. New York: Vintage, 1999).

2 Der Name “Rávic” ist ein Kunstname, den die Autorin sich zulegte. Er steht für einen ekstatischen Zustand, den sie beim Schreiben hat, ein Zustand, in dem sie Sprache anders erlebt als im Alltag. ( u.a. Biendarra 7).

3Auch dem Autor Ernest Hemingway ist Schulze verpflichtet. Dessen Story Up in Michigan diente als Vorlage für das zweite Kapitel “Neues Geld” aus den Simple Storys. Schulze stellte jedoch fest, daß das Muster Hemingway für die DDR nicht angemessen war und wandte sich Carver zu (Schulze “Lesen und Schreiben” 98). Friedhelm Marx untersucht den Einfluß Hemingways auf Schulze ausführlich (Marx 597-601).

4 Eine englische Übersetzung erschien im Jahre 2008. (Antje Rávic Strubel. Snowed Under: An Episodic Novel. Übersetzt Zaia Alexander. Red Hen Press (2008).

5 In einer email bestätigte Strubel mir jedoch, daß sie mit Carvers Werken vertraut sei, weist aber ebenfalls auf Gertrude Stein, Paul Auster und Don DeLillo hin.

6 Im Beharren auf eine Ost-West-Perspektive grenzen die beiden Frauen sich ein. Sie legen sich fest und belegen sich mit einer Kategorie. Im Gespräch mit Sophie Wennerscheid meinte Strubel: “Kategorien machen die Dinge unterscheidbar, bilden Realität, geben Sicherheit und sind zugleich tödlich, weil starr.” (Wennerscheid 2). Das erklärt die im Episodenroman herrschende Starre. Auch das Festlegen einer kategorisierenden Geschlechteridentität lehnt Strubel ab, betont dagegen einen entgrenzenden Schwebezustand , “ein Schwindelgefühl an den Rändern der Identität” (Hartwig). Strubels Statement über ihren Roman Offene Blende trifft im wesentlichen auch auf Unter Schnee zu: “Es ist kein Lesbenbuch. Es ist einfach eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen. Niemand sagt: es ist ein Buch für Heteros, wenn es um Mann und Frau geht.” (dtv-Interview mit Pressesprecherin)

7 In einer email bekundete die Autorin ihre Bewunderung für DeLillo.

8 Wikipedia, Stichwort “Storytelling”.

9 In seinem barocken Monumentalroman Neue Leben (2005) hat Schulze die narrative Technik, ein verwirrendes labyrinthisches Netzwerk von Umwegen und Irrwegen zu schaffen, weiter ausgebaut.

10 Sicherlich ist signifikant, daß die beiden an einer Grenze auseinandergehen, eines entgrenzenden Verhaltens also nicht fähig sind.

 

Literaturverzeichnis

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