Glossen 28

Helmuth Frauendorfer

Krieg und Freiheit
Ein langer heißer Sommer 1968 in Rumänien

Ich war neun Jahre alt, als das Wort Krieg zum ersten Mal mit einer konkreten Bedeutung in meine Nähe rückte. Ein Umstand, der für den kleinen Jungen im rumänischen Banat plötzlich viel Freiheit und viel Geld bedeutete – im August 1968 in Rumänien.

Vor unserem Haus quakten die Frösche. Das war eine Plage. Denn immer wieder war nicht nur der auf der anderen Straßenseite sich befindende Graben mit Wasser gefüllt, sondern die ganze unbefestigte Straße, oft auch über den Gehsteig hinweg, der aus nebeneinandergelegten Ziegelsteinen bestand, bis an die Hauswand hin. Der Wasserspiegel in der Gegend war sehr hoch, die Wände des Hauses immer feucht, aber das war es, was sich einfache Menschen in der Kreishauptstadt Temeswar leisten konnten, Deutsche, die vom Land hierher gezogen sind, um den Kindern einen Schulunterricht in deutscher Sprache zu ermöglichen. Es war ein Vorort von Temeswar, genannt Fratelia. Denn in dem Dorf Wojteg gab es deutschen Unterricht nur im Kindergarten und bis zur vierten Klasse. Alles andere fand in rumänischer Unterrichtssprache statt. Zu viele Deutsche waren schon fortgezogen – in die Stadt. Damals zog man noch nicht so massenhaft in die Bundesrepublik. Denn damals war Rumänien ein noch nicht ganz so schlimmes Land und der seit 1965 neue Parteichef Ceau?escu ließ die Menschen hoffen.

So kam es auch, daß die Menschen im Land in jenem Sommer 1968 nahezu geschlossen hinter dem inzwischen auch Staatschef gewordenen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei standen. Er galt als liberal. Man nahm es nicht so genau oder konnte nicht so genau durchblicken, daß eigentlich sein Vorgänger schon eine Entstalinisierung begonnen hatte. Wichtig war: Ceau?escu hat nein gesagt zu einer Beteiligung Rumäniens an der Niederschlagung des Prager Frühlings. Viel mehr noch: Er gestattete nicht – so der Mythos – daß die Sowjettruppen durch Rumänien Richtung Prag rollten. Deswegen gab es aber die Angst, daß diese Truppen gleich auch in Rumänien einmarschieren könnten. Und der junge Parteichef deutete an, sein Land verteidigen zu wollen. Das bedeutete Krieg. Und gegen Krieg wollte jeder gewappnet sein, niemand wollte im Krieg verhungern müssen. So kaufte man alles ein, was man in Notzeiten so brauchen konnte. Fleisch, Wurst, Schinken, Öl, Mehl, Zucker. Jedes Familienmitglied wurde aufs Einkaufen eingeschworen, auch das kleinste.

So durfte ich abends lange weg bleiben, denn manchmal stand man ja bis 22 Uhr in einer Schlange an bis man drankam und einen Liter Öl mit nach Hause brachte. Es gab nur noch Rationen. Taschengeld und ein Einkaufsbeutel gehörten in diesem Sommer zu meiner Grundausstattung. Und viel Freiheit, durch die Gegend zu ziehen. Gehört zu haben, in einem anderen Stadtteil wäre eine Lieferung Mehl angekommen, war schon Vorwand oder Grund genug, mir einen eigenständigen Ausflug in diesen anderen Stadtteil zu gestatten. So lernte ich Temeswar in einem größeren Radius kennen, als es mir sonst gestattet worden wäre. Und wenn ich abends bepackt mit zwei Kilo Kalbfleisch über die platschenden Ziegelsteine des Gehsteigs den Pfützen ausweichend nach Hause in meine Froschgegend hüpfte, war man zufrieden mit mir. Und ich war mit der Welt zufrieden, denn ich hatte etwas erlebt. So lernte ich meine Stadt kennen und gewöhnte mich an sie. Denn anfangs soll ich mich sehr nach dem Dorf zurückgesehnt haben, erzählte man mir später. 1965 sind wir vom Land in den städtischen aber dennoch durch und durch ländlich geprägten Vorort von Temeswar gezogen, der Fratelia hieß. Ende 1965.

Denn immerhin habe ich im März 1965 noch ein einschneidendes Erlebnis gehabt. Es war noch nicht so richtig Frühling auf dem Land. Es lag noch Schnee und ich trug eine Pelzmütze. Mein Vater nahm mich mit zu einem Bekannten. Der war der Größte im Dorf, denn der hatte einen Fernseher. Sein Wohnzimmer war schon voll, als wir da ankamen. Die Erwachsenen saßen auf Stühlen, Sesseln und auf einem Sofa im Halbkreis um den Fernseher, wir Kinder saßen oder knieten davor auf dem Teppich und starrten gebannt auf die schwarzweißen sich bewegenden Bilder. Es war mein erstes Fernseherlebnis. Ich hörte einen Trauermarsch. Ich sah Menschen langsam einen Weg entlang gehen, Militär, das Musik spielte und langsam marschierte, ein Sarg wurde durch die Gegend getragen. Es war das Staatsbegräbnis für Gheorghe Gheorghiu-Dej. Mein erstes Fernseherlebnis war die Beerdigung eines kommunistischen Machthabers, und bald fiel auch der Name Nicolae Ceau?escu. Mit 48 war er der jüngste Parteichef Osteuropas. Wer konnte da gar so Böses ahnen? Zwei Jahre später war der Schusterlehrling Ceau?escu auch Vorsitzender des Staatsrats und Student „ohne Anwesenheitspflicht“ an der Wirtschaftshochschule von Bukarest.

Die Banater Schwaben waren allesamt so gut es ging Selbstversorger. Auch mein Vater, der eigentlich Siebenbürger Sachse war, aber ins Banat geheiratet hatte, eine Banater Schwäbin. Allerdings reduzierte sich die Selbstversorgung ziemlich stark mit der Zwangskollektivierung. Dennoch hatten wir in der Stadt auch zahlreiche Hühner, manchmal auch Enten und Gänse und jedes Jahr zwei Schweine. Eines davon wurde vor Weihnachten verkauft und eines zwischen Weihnachten und Neujahr geschlachtet. Deswegen brauchte auch jeder Haushalt eine Speisekammer. Diese kam nun im Sommer 1968 auch sehr gelegen als die vielen Einkäufe wegen des bevorstehenden Krieges getätigt wurden. Da meine Eltern wenig Geld hatten, wurde ein kleines Haus in Temeswar/Fratelia gekauft, das dann Stück für Stück mit Hilfe der Verwandtschaft ausgebaut wurde. Zum Glück war mein Patenonkel Maurer. Und mein Vater verstand eh von allem etwas. Meine Mutter war Schneiderin. Aber was sie alle nicht wissen konnten, war die Höhe des Wasserspiegels in Fratelia. Da haben sie einen Keller gegraben für die Lebensmittel, den konnte man aber meistens nur in Stiefeln betreten und gar nichts auf dem Boden lagern, weil man nie wußte, wann das Wasser kam. Und mit dem Wasser kamen auch die Frösche.

Und mit Ceau?escus Absage an die Sowjets kam auch die Begeisterung aus der Bevölkerung für diesen Führer. Kritische Intellektuelle traten in die Partei ein. Auch rumäniendeutsche Schriftsteller und Kritiker, wie Richard Wagner und Emmerich Reichrath. Eine rumänische Art des Marsches durch die Institutionen begann. Er sollte desillusioniert enden. Dennoch wurde erst einmal wahnsinnig viel internationale Literatur in Rumänien veröffentlicht. Ich erinnere mich, auf dem Weg zur Schule, am Zeitungskiosk, den SPIEGEL gesehen zu haben. Das dauerte nicht lange. Als ich später Student war, hätte ich mir gewünscht, am Kiosk den SPIEGEL kaufen zu können. Das war dann aber schon wieder etwas Staatsfeindliches. Aber manchmal tut man Sachen, ohne zu wissen, daß man etwas Staatsfeindliches tut.

Später dann tauchte in den Klassenräumen vorne das Bild des Führers auf. Ich hatte ein Techtelmechtel mit einer Kommilitonin aus einer Parallelklasse, wir trafen uns nach dem Unterricht in einem leeren Klassenraum, um zu knutschen. Und mich störte, daß da dieser Typ auf uns hinabschaut. Und weil mich das störte, hab ich das Bild von der Wand abgehängt. Ein politischer Aufschrei ging am nächsten Tag durch die Schule. Aber es passierte mir nichts. Die Klassenlehrerin wußte irgendwoher, was geschehen war, sie sagte lediglich, triff Dich wo anders mit Deiner Dulcinea. Meine Klassenlehrerin, Frau Fischer, lächelte sogar und verriet keinen Namen. Drei Jahre später war sie leider weg, ausgereist in die Bundesrepublik.

Mich wunderte bei den Einkäufen, die ich in dem Sommer 1968 zu tätigen hatte, daß es niemals um Obst und Gemüse ging. Später erst wurde mir klar. Nicht daß man das nicht hätte einlagern können, da kannte die Banater Schwäbin zahlreiche Methoden, vom eingekochten Obst über eingelegtes Gemüse bis hin zu Gemüsepaste, ein von den Rumänen abgegucktes Rezept, genannt „zacusca“. Nein, nicht das war der Grund, sondern: Obst und Gemüse hatte eine Banater Familie einfach aus eigener Produktion. Meine Eltern hatten nicht nur einen riesigen Garten am Haus, sondern sie pachteten immer wieder Feldflächen, die sich auf der anderen Seite des Froschgrabens befanden. Hier wurde meistens Mais gepflanzt.

Irgendwann, im Herbst 1968 bekam ich dann nicht mehr so viel Taschengeld, ich mußte mich nicht mehr in jede Schlange anstellen, durfte nicht mehr in jeden beliebigen Stadtteil unter einem Fleisch- oder Öl-Vorwand fahren und ich mußte auch früher abends zu Hause sein. Und irgendwann 1971 besuchte Ceau?escu die Volksrepubliken China und Nordkorea und kam mit ganz tollen Plänen für eine eigene kleine Kulturrevolution zurück. Da nahm das tragische Schicksal einer absolutistischen Diktatur seinen Lauf.

Das große Mißverständnis, dem der Westen auflief, war, daß Ceau?escu niemals eine Westöffnung des Landes beabsichtigt hatte. Er wollte lediglich Alleinherrscher sein. Um seinen nationalen Kommunismus durchsetzen zu können. Wirtschaftlich blieb er abhängig von Moskau, so konnte die Sowjetunion Ceau?escus Pirouetten auf ausländischem Parkett souverän belächeln. Er blieb Moskau treu, indem er im Inland einen stalinistischen Kurs durchsetzte und nichts wirklich demokratisierte.

Schließlich hatte die Sowjetunion mit Rumänien bereits 1956 gemeinsame Sache gemacht, als der Kopf des ungarischen Aufstandes dank rumänischer Hilfe nach Bukarest gebracht und dort vom KGB gefoltert werden konnte. 1958 wurde Imre Nagy dann nach Budapest gebracht und nach einem Schauprozeß ermordet. Das Interesse Rumäniens lag damals daran, ein abschreckendes Beispiel für die 2 Millionen große Minderheit der Ungarn im eignen Land zu statuieren. Und Moskau wußte, daß auch Ceau?escus Nationalkommunismus diese Karte braucht.

Doch für allzu lange Zeit blieb in der westlichen politischen Welt nach diesem August 1968 ein Mißverständnis haften, daß nämlich Ceau?escu einen liberalen Kurs fahre. Im Schatten dieses Images festigte der rumänische Führer gnadenlos seine totalitäre Macht.

Der Wasserspiegel in Fratelia ist davon nicht gesunken. Er drang weiter in die Speisekammer ein, in der sich nicht mehr so viele Lebensmittelvorräte befanden. Mit dem Ausverkauf aller Produkte, die es gab, wurden in den späteren Jahren die Vorräte auch immer weniger. Bald durfte man nicht mehr kaufen, wieviel man wollte. Ich hüpfte weiter über die Pfützen der Straße, zu Sitzungen von Literaturkreisen. Und eines Tages hüpfte auch ein Securitate-Offizier über diese Pfützen, um sich bei meinen Eltern über mich zu erkundigen. Sie wollten meine literarische Tätigkeit zu ihren Zwecken instrumentalisieren. Das schlug ins Gegenteil um. Aus dem Kind wurde ein Gegner. Doch das ist eine andere Geschichte.