Glossen 28

Christine Cosentino

Jakob Heins Herr Jensen steigt aus: Anmerkungen zum “schmalen Grat dazwischen”

“Nicht das Alltägliche, nicht der Wahnsinn interessieren Jakob Hein, es ist der schmale Grat dazwischen,” so heißt es im Klappentext von Heins letztem Werk Herr Jensen steigt aus (2006) [1], einem Roman über einen Sonderling in einem Grenzbereich, in dem Scharfsinn und Irrsinn letztlich nicht mehr unterscheidbar sind. Der Roman ist ein Psychogramm, und der Autor kennt sich aus, denn im Hauptberuf ist er Psychiater. Wann, falls überhaupt, ist ein Isolierter oder Einzelgänger, der selbst ganz klar erkennt, “daß er am Rand der Gesellschaft [steht]” (83) und durch das Raster sozialer Normen fällt, eine Gefahr für sich oder für andere, wann ist er behandlungsbedürftig? An welchem Punkt ist er gefährdet, sich selbst -- im schlimmsten Falle anderen Menschen -- etwas anzutun?

Nach dem Blutbad vom 16. April 2007 an der amerikanischen Universität Virginia Tech spekuliert die Welt über von Laien erkennbare Anzeichen einer Psychose und -- im spezifischen Fall -- über den Realitätsverlust des Amokläufers von Blacksburg, der temporär in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurde. Auch bei Heins “Anti-helden” Herrn Jensen erscheinen eines Tages Vertreter aus der Psychiatrie: “Wir haben Hinweise erhalten, daß Ihr Verhalten in letzter Zeit einfach etwas merkwürdig (meine Kursivierung) geworden ist. Und deshalb würde ich Sie bitten, mit uns mitzukommen […] (132), um Gefahren von sich selbst und anderen abzuwenden.” (133) Kann das Merkwürdige ihn zum Kandidaten für die Zwangsjacke machen? Harmlos, wunderlich, verschroben wirkte Herr Jensen schon immer, aber eine Katastrophe in seinem ereignislosen Leben wird zum krisenauslösenden Moment, macht die Welt plötzlich unerwartet “zu einem unscharfen, schwer faßbaren Etwas unvereinbarer Widersprüche,” in dem “er sich treiben läßt” (42). In welche Richtung aber treibt er? Treibt er auf den Abgrund zu? Hein gibt keine Antwort, er beobachtet und berichtet, läßt klinisch nüchtern die Fakten sprechen. Er präsentiert 18 numerierte Kapitel (001-018) mit sachlich formulierten Überschriften, die sich wie eine wissenschaftliche Akte bzw. Krankenakte lesen. Auf dem Hintergrund des Blutbads von Virginia gewinnt das schmale Bändchen im Jahre 2007 eine ganz neue Relevanz, gibt Anlaß zum Nachdenken über ein scheinbar unentwirrbares Ineinander von Sozialkritik an einer normengebenden Gesellschaft, Abweichertum, Vereinzelung, psychischen Störungen, Psychose, Realitätsverlust.

Heins Text ist zunächst, so faßt es ein Kritiker, eine “Geschichte von der Normierung des Abweichenden.”[2] Die Weltliteratur ist voll von solchen Sonderlingen, Einzelgängern, Eigenbrötlern, Einsamen, Entfremdeten, Aussteigern, kurz, Menschen, die “anders” sind. Der Bogen ließe sich von Gregor Samsa über Don Quijote zu Oblomov spannen. Herr Jensen ist unangepaßt, lebensfremd, motivations- und orientierungslos, still und introvertiert; ein freundlicher Mensch, der keine Freunde, keine Frau, kaum Kontakt zur Familie hat und der sich in seinem Daueraushilfejob als Briefträger recht behaglich eingerichtet hat. Er will nicht auffallen, fühlt sich in seinem Anderssein wohl und will in seinem gesellschaftslosen Vakuum in Ruhe gelassen werden. So wird er Gegenbild des ständig unter Druck stehenden, konkurrenzbewußten modernen Menschen, der sich unbehaglich in der Gegenwart dieses “Spinners” fühlt. Die Leistungesellschaft, die allein auf Konsumdenken und Entertainment programmiert ist, hat für einen Einzelgänger wie Herrn Jensen keinen Platz. Schon aus diesem Grund gehört er in die Reihe der “Außenseiter”, die Hans Mayer im Rahmen seiner Sozial- und Kulturkritik einer ausführlichen Untersuchung unterwirft: “Eine Denkrichtung, die eine sogenannte Personalisierung verachtet, um allein die Kollektivität anzuerkennen, die quantitativ erheblichen Regelfälle, statt der qualitativen Einzelfälle, fördert das fetischisierte Denken und damit eine unmenschliche Praxis.”[3] Das heißt also, daß es dem Leser in diesem Personalisierungs-Fall überlassen ist, darüber nachzudenken, ob Herr Jensen ein ernstzunehmendes Problem ist oder ob die normierende Welt das Problem ist.

Bricht dieser harmlose “Antiheld” nun aus seinem – wie ein Kritiker meint – Zustand der “Willenlosigkeit aus und wird zum Berhardschen Radikaldenker”[4] oder treibt er in steigender Verwirrung vielmehr aus dem unscharfen Zwischenbereich von Wahn und Sinn in den totalen Irrsinn, nachdem sein programmierter Arbeitsrhythmus bei der Post nach der Kündigung seiner Arbeitsstelle plötzlich zum Stillstand kommt? Herrn Jensens unerwartet neue Lebenssituation ist nicht bar kafkaesker Züge. Davon zeugen nicht nur die Szenen auf dem Arbeitsamt, dessen Vertreter dem Sonderling letztlich nicht gewachsen sind. Eines Tages teilt man ihm auf dem Postamt mit, daß ihm “im Rahmen unseres neuen Programms zur Verhinderung betriebsbedingter Kündigungen ”(25) gekündigt wird. Der Verlust der Arbeit, die eine monotone Regelmäßigkeit in sein Leben gebracht hatte, markiert den Beginn einer bedrohlichen “Verwandlung” des bisher so harmlosen Sonderlings. Wie im Falle Gregor Samsas ist im Zustand des Nichtstuns der geregelte Ablauf der Zeit suspendiert, die Zeit verflüchtigt sich, zerfließt [5] und wird zum Nebel: “Er, [Herr Jensen] ließ sich einfach treiben und versuchte nicht mehr, durch den Nebel hindurchzusehen.” (42) Sein mühsam etabliertes Verständnis von Raum und Zeit bricht zusammnen. Die Grenzen lösen sich auf. Tag wird Nacht. Herr Jensen überläßt sich dem Verfall, wie auch Gregor, wenn Regen und Nebel sich endlich heben, “ein endloses, grauschwarzes Haus” sieht, das - seinem Geisteszustand entsprechend - kaum überraschend “ein Krankenhaus war; ”[6] und erscheint Gregor am Ende seiner Verwandlung reduziert als lebloses verdinglichtes “es”, so löscht auch Herr Jensen seine Identität und Existenz aus, indem er sein Namensschild an seiner Tür einfach entfernt, nachdem er vorher schon seinen Briefkasten abmontiert hatte. Die kafkasche Folie ist offensichtlich. Die fortschreitende Verdinglichung eines Menschen, die sich bereits im Spiegel von Namen ablesen läßt -- von Gregor Samsa über Joseph K. zu K. – ist abgeschlossen, führt zur Auslöschung. Auch Herr Jensen, der keinen Vornamen hat, ist allein. Wer braucht ihn? Seine Persönlichkeit löst sich auf.

Zunächst jedoch, bevor er sich total verweigert, entwirft er eine Philosophie des Nichtstuns, die dem Studium sinnloser verblödender täglicher Fernsehprogramme gewidmet ist, bis er, an Rand des Wahnsinns getrieben, den Apparat und Videorecorder samt angelegter Akten eines Tages aus dem Fenster wirft. Die Werte, die die Fernsehprogramme vermitteln, sind ihm fremd, und so begreift er, der Fremde, daß er außerhalb gesellschaftlicher Normen steht, zumal Normalität in der Solidargemeinschaft folgendes bedeutet:

Man sollte arbeiten gehen.
Man sollte eine Frau oder zumindest häufig Sex haben.
Man sollte viele Freunde haben.
Man sollte die aktuelle Mode kennen.
Man sollte Ahnung von Musik haben.
Man sollte fröhlich sein.
Man sollte Geld haben.
Man sollte schön sein.
Man sollte etwas mit sich anfangen.
Man sollte Träume haben. (83)

Herr Jensen diagnostiziert, daß er nicht normal ist. Er, der nie so richtig eingestiegen war, steigt aus. Nachdem Fernsehapparat, Radio and alle Zeitungen -- die Elemente der “Scheinwelt” -- entfernt sind, beschränkt er sich auf das Studium der Natur, die Stille. Nur verschärfen sich seine antigesellschaftlichen Verschrobenheiten in der Isolation bis zur Beklemmung, denn diese Stille empfindet er als bedrohlich. Er verläßt seine Wohnung nur noch selten, hört Geräusche, wird mißtrauisch, glaubt sich verfolgt, beginnt zu halluzinieren, “sah jetzt sein breites Grinsen auf der glänzenden Oberfläche seines Kaffees.” (88) . Die meiste Zeit sitzt er im Sessel, döst vor sich hin, monologisiert, gibt sich Verschwörungstheorien hin und fühlt sich dem Überwachungssystem der Gesellschaft ausgesetzt. Klar erkennt er: “Was er tat, war gefährlich. Selbst, daß er vieles nicht mehr tat, war gefährlich.” (115) Ebenso klar jedoch kommt der mit unverstelltem Blick auf die Welt schauende Sonderling zu Schlüssen, die offen lassen, ob es sich in seinem Kopf um Scharfsinn oder Irrsinn handelt. Er stellt unbequeme Fragen. Davon zeugen seine Analysierungen der Verblödungsindustrie, seine Reflexionen über völlig sinnlose Verbotsschilder, seine Begriffszerlegungen. Woher kommt zum Beispiel das Wort Supermarkt? “Es war weder ein Markt noch war irgendetwas daran super, es handelte sich um eine Halle, in der man kaufen konnte. Darum sagte Herr Jensen jetzt Kaufhalle.” (32)

Als Herr Jensen einem Kollegen vom Arbeitsamt, der ihm wieder einen Job anbietet, wütend an den Jackenkragen greift, wird ihm das später, als Vertreter der Psychiatrie in seine Wohnung eindringen, als Gewaltakt ausgelegt: “Ihr Verhalten gibt Anlaß zur Sorge. Sie sollen andere Menschen angegriffen haben.” (133) In der Tat hat Herr Jensen, der von der Gesellschaft Stillgelegte, am Ende der Handlung jeglichen Bezug zur Realität verloren. Paranoid erlebt er die Umwelt als bedrohlich, und in der “Hoffnung, daß er von […] den Überwachungssystemen nicht erfaßt wurde.” (127). Die allmähliche Persönlichkeitsauflösung entwickelt sich nach einem nachvollziehbaren Muster: Untätigkeit führt zur sozialen Isolation, diese in die Psychose. Die Meinung eines Kritikers, “mit seinem Leben” stehe Herr Jensen “beispielhaft für Unzählige,”[7] gibt zu denken; letzteres nicht nur im Sinne von Sozialkritik und Arbeitslosigkeit, denn die Frage, wo die wirkliche Scheinwelt ist -- in der seltsamen Gedankenwelt des Herrn Jensen oder in unserer genormten Gesellschaft ? -- , bleibt völlig offen. Weitaus beklemmender ist das Auftreten starker psychischer Störungen im Zwischenbereich von Alltäglichem und Wahnsinn. Erkennt man diese Störungen aber immer? Und wann führt der Wahn eines harmlos Erscheinenden zur Gewalt? Die “Unzähligen”, für die Herr Jensen beispielhaft ist, sind nicht nur Menschen mit “Arbeitslosenschicksal”[8]; hinzu kommen die vielen Isolierten, Entfremdeten, die ausrasten oder zur Waffe greifen. Tickt Herr Jensen in seinem verschrobenen Einzelgängertum und Nichtstun nur anders, oder tickt in ihm eine Zeitbombe? Das Massaker von Virginia Tech beweist, wie zerbrechlich gesellschaftliche Vereinbarungen sind, wenn gestörten Verhaltensmustern nicht entgegengewirkt wird.

Anmerkungen

1 Jakob Hein, Herr Jensen steigt aus, 3. Auflage (München: Piper, 2006). Zitate aus dieser Auflage mit Seitenzahl im Text der Arbeit angegeben.

2 Steffen Richter, “Tu doch einfach gar nichts,” Die Welt 6.5. 2006.

3 Hans Mayer, Außenseiter (Frankfurt/M.: suhrkamp taschenbuch, 1981) 464.

4 Ralph Gambihler, “Jakob Hein & Herr Jensen: Deutschland als Absurdistan,” Dresdner Neue Nachrichten 16. 3. 2006.

5 Siehe Heinz Politzer, “Die Verwandlung,” Franz Kafka, der Künstler (Gütersloh: Mohn, 1965) 109-110.

6 Franz Kafka, “Die Verwandlung,” Das Urteil (Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch, 1952) 31.

7 Leonhard Herrmann, “Ausstieg aus der Wirklichkeit,” Kreuzer 1.3.2006

8 Rainer Klis, “Weniger Geld als die meisten. Roman von Jakob Hein: Arbeitslos, bis der Psychiater ran muss,” Freie Presse 10.3.2006.