Glossen 28

Franz Kain
Serbenlinde und Hollandtulpen[1]

Zwischen einigen Bänden der “Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens” Jahrgang 1893, entdeckte der junge Häftling ein Büchlein, das sich “Oberösterreichische Dichtung” nannte. Er wußte auch gleich, wie diese Anthologie in den Stoß der vergammelten Bände kam. Der ehemalige Benediktiner Dr. P., der wegen seiner homosexuellen Neigungen eine schwere Zuchthausstrafe abgebüßt hatte und jetzt vom Gefängnis in Wels aus, wo er in der Bücherei arbeitete, auf dem Weg ins Konzentrationslager war, hatte ihm das Büchlein zukommen lassen. Der Bibliothekar ist seit seiner Verschickung ins Lager verschollen. Das Buch, das im Jahre 1927 verlegt worden war, schien in mancherlei Hinsicht kurios. Geradezu verdächtig kam es dem jungen Häftling dadurch vor, daß es von einem “Unterstützungsverein der aktiven und pensionierten Gendarmen Oberösterreichs” herausgegeben worden war. Der Unterstützungsverein erhoffe sich von dem Erlös des Büchleins eine “Abtragung des Schuldenberges”, der auf einem Waisenhaus des Vereines laste, wie in einer Vorbemerkung treuherzig mitgeteilt wurde. Daß die Gendarmerie etwas mit Kultur zu tun haben könnte und leichtfertig dabei sogar noch auf einen Gewinn hoffte, schien dem Häftling höchst sonderbar. Nach all den Erfahrungen, die er mit besagter Truppe schon gemacht hatte, mit diesen Bettelleut’fängern und Bütteln jedweder Obrigkeit, schien ihm die literarische Ambition der Gendarmen äußerst zwiespältig und sein Mißtrauen übertrug sich auf das Buch.

Er wunderte sich daher auch nicht, als er darin Verse und Prosa fand, die aus lange nicht gelüfteten, monarchistischen und deutsch-nationalen Truhen kamen, mit all den schweren Schwaden, die da aufstiegen. Aber die Verwesungsdünste rochen heimatlich, das war nicht zu leugnen. Eine Geschichte jedoch hob sich in ihrer starken pazifistischen Haltung scharf von dem angemoderten heimattümelnden „Schrifttum“ ab. Nämlich eine Geschichte mit dem Titel „Die Serbenlinde“ von Sepp Lackinger. Es zeugt von der streckenweise sogar progressiven Trägheit der Gefängnisbibliotheken, wenn darin geradezu reichsfeindliche Literatur gestapelt war. In der Geschichte von der Serbenlinde wurde nämlich die „große Zeit“ des Ersten Weltkrieges scharf angegriffen. Eine solche Geisteshaltung wäre „draußen“ nicht ratsam gewesen, denn es war schon wieder eine große, ja eine noch größere Zeit im Schwange. Man schrieb das Jahre 1942 und die Glocken läuteten noch immer zu großen Siegen.

Die Erzählung von der Serbenlinde handelte davon, daß hundert Jahre nach dem ersten Krieg ein Feld in Mauthausen immer besonders fruchtbar war. Von dem Acker hieß es, daß darunter tausende serbische Kriegsgefangene, die in dem hiesigen Lager an Typhus zugrunde gegangen waren, begraben seien. Die Tochter eines Bauern und ein braungesichtiger Knecht, offenbar ein Abkömmling der Serben vor hundert Jahren, fanden sich schließlich in einer schwülen und bedrohlichen Sommernacht unter einer Linde, die auf dem Acker stand. Der Baum war damals, vor hundert Jahren, zum Gedenken and das große Sterben im Lager gepflanzt worden. Die ganze Geschichte atmete Mitleiden und Versöhnung mit dem, was einst bittere Feindschaft gewesen war. In der Erzählung waren auch pralle Landschaftsschilderungen enthalten, durch welche die Gegend plastisch sichtbar wurde.

Seit der Häftling die Geschichte von der Serbenlinde gelesen hatte, kannte er die Gegend um Mauthausen, obwohl er sie nie gesehen hatte. Aber er wußte, daß sich dort, nicht einmal 25 Jahre nach dem ersten Unheil, mit dem neuen Lager ein noch größeres zusammengeballt hatte.

Später wurde er nach Berlin auf Transport geschickt. Sie kamen durch Böhmen über Budweis, Tabor und Prag, und hier wurden sie in dem berüchtigten Gefängnis St. Pankraz einige Wochen festgehalten. Die Reise ging dann kreuz und quer durch Deutschland, weil der Waggon mit den winzigen vergitterten Fenstern einmal an einem Verwundeten-Transport, dann wieder an Lastzüge auf Nebenbahnen angehängt wurde. Die Donau hatten sie bei Nacht und Nebel über die Brücke bei Steyregg übrquert, oberhalb von Mauthausen.

Nach einem Prozeß beim Volksgerichtshof in Berlin begann der Transport aufs neue. Diesmal ging die trübselige Reise über Thüringen und Bayern hinunter in die Ostmark.

Nürnberg war nicht nur ein Knotenpunkt für militärische Transporte, für Lazarettzüge und Nachschub aller Art, hier trafen auch verschiedenen Gefangenenströme aufeinander. So kam es, daß sich plötzlich eine große Anzahl von Häftlingen in Durchgangszellen der Gefängnisse zusammengepfercht fand, ehe sie, aufgeteilt nach ihren Bestimmungsorten, wieder in alle Winde auseinandergejagt wurden.

Der junge Häftling traf hier mit einer größeren Gruppe holländischer Juden zusammen, die, wie sie radebrechend mitteilten, auf dem Weg nach Mauthausen waren. Sie schienen noch einigermaßen gut genährt, ihr Äußeres aber war stark vernachlässigt, weil sie schon wochenlang auf Transport waren. Wenn sie miteinander sprachen, hörte sich ihre Rede wie ein niederdeutscher Dialekt an.

Der Häftling trug eine Steirerjoppe, weil er noch in Untersuchungshaft war. An dieser Kleidung erkannten die Holländer, daß er ein „Einheimischer“ war. Sie drängten sich um ihn, um zu erfahren, wie es denn in Mauthausen sein werde und was sie dort wohl zu erwarten hätten.

Der Häftling geriet in Verlegenheit, denn natürlich wußte man in den Gefängnissen von Wien, Linz und Wels und wohl auch in denen von ganz Deutschland, was in Mauthausen geschah. Aber die Deportierten aus Holland waren noch fremd. Was sollte er da erzählen? Und überhaupt, vielleicht bekamen die Holländer eine bessere Behandlung als die anderen?

Als er von den wißbegierigen holländischen Häftlingen umringt war, erinnerte er sich an die schönen Landschaftsschilderungen in der „Serbenlinde“. Diese Landschaftsbilder gab er, ergänzt durch eigene Phantasie, an die holländischen Transporthäftlinge weiter.

Ja, dieses Mauthausen liege an der Donau und das Lager auf einem Hügel, sodaß man einen schönen Blick über die weit ausgebreiteten Donauauen habe, Donau so blau, so blau, das werden sie ja sicherlich schon gehört haben. An schönen Tagen sehe man vom Lager jenseits der Donau auf den Stadturm von Enns. Lauriacum, Lauriacum, sagte er, als müßten die Holländer wissen, was es mit diesem einstigen römischen Militärlager für Bewandnis habe. Auch den Namen des heiligen Florian führte er an, in der Hoffnung, daß auch die holländischen Juden ihn kennen könnten.

Da gebe es große Getreidefelder ringsum, mit schwerem Weizen und zwei Meter hohem Roggen, Erdäpfelfelder und schöne Gerste mit langen Grannen, die sich wie Wellen bewegten, wenn der Wind über sie fährt. Im Herbst biegen sich die Obstbäume vor Frucht und man kann die Birnen riechen, wenn sie vom Baum fallen und den Duft ihres Saftes verströmen. Die Wiesen seien fett, die Rinder rund und glatt und Geflügel gebe es in Hülle und Fülle bei jedem Bauernhof.

Gagi, gagi, gagaggie, sagte er, um das Hühnergeschrei anzudeuten. Die Holländer schmunzelten aus ihren ungepflegten Stoppelbärten über diese Lautmalerei. Sie nickten erfreut, um zu zeigen, daß sie sich durchaus auskannten auf den Geflügelhöfen.

Dann fragte einer der Häftlinge stockend, ob er es wohl für möglich halte, daß sie etwa in der Landwirtschaft zur Arbeit eingesetzt werden. In Nederland habe man damit große Erfahrung. Käse, Edamer, sagte er und wölbte die Hände zu einem großen Ball, um zu zeigen, welches Volumen die Käsekugeln in Holland hätten. Gänse und Enten gebe es im ganzen Land und natürlich viele Blumen. Einer der Häftlinge gebrauchte dabei das Wort „Tulipan“. Der Häftling erinnerte sich, daß auch im alten evangelischen Gesangsbuch die Tulpe in einem feierlichen Psalm „Tulipan“ genannt wurde. Das Wort hatte hier im Gefängnis zu Nürnberg einen ganz besonderen Klang.

Bei der Ernte, begann der Häftling im Steirergewand vorsichtig, werde man sie sicher gebrauchen können. Da komme es auf jede Hand an, weil das Wetter dränge. Auch nach der Weizen- und Roggenernte gäbe es in der Landwirtschft noch viel zu tun, denn da kämen die Rüben dran und auch der Hafer, der im Sommer eine bläuliche Farbe habe, käme erst im Herbst zum Schnitt. Und schließlich dürfe man nicht vergessen, daß es auch beim Holz allerlei Arbeit gibt und man wohl auch hier auf Gefangene zurückgreifen werde, denn die Arbeitskräfte seien schon sehr knapp geworden. Im Winter seien die Möglichkeiten der Arbeit allerdings geringer. Im allgemeinen enähre jedoch das Land seinen Mann und es ernähre ihn nicht schlecht.

Weil er selbst bohrenden Hunger hatte, der in den Eingeweiden wühlte, kam er ins Schwärmen und sprach von einer Einbrennsuppe, die aus Roggenmehl und mit Grammeln zubereitet werde, und die, wenn sie nur richtig komponiert sei, für einen ganzen langen Tag sättigen könne.

Die Holländer scharten sich um ihn wie um einen glücksbringenden Sterndeuter. Sie sprachen wild durcheinander und an ihren Gesichtern merkte er, daß sie seine Informationenen weiterspannen. Nach dem Krieg, so stammelte einer der Häftlinge, solle er sie einmal besuchen und sie würden ihm zeigen, wie schön und wie fruchtbar die Nederlande seien; im Frieden ein Land, in dem Milch und Honig fließen.

Als am nächsten Morgen die Gruppe von den anderen Häftlingen abgesondert wurde, um auf Transport nach Passau zu gehen, waren die Holländer ruhig und gefaßt. Sie bedankten sich für die Informationen und gingen mit Zuversicht ihrem Schicksal entgegen. Später erfuhr man, daß dieses Schicksal in den meisten Fällen der Tod war.

Immer, wenn in späteren Jahrzehnten vom Leiden und Sterben der holländischen Juden im Konzentrationslager Mauthausen die Rede war, stand die Szene lebhaft vor ihm, als sich in Nürnberg sein eigener Weg durch die Gefängnisse mit dem der Leidensgefährten aus Holland gekreuzt hatte.

Er hat die Kameraden belogen, indem er ihnen die furchtbare Wahrheit verschwiegen hat. Aber er hat es aus Barmherzigkeit getan. Hätte er ihnen denn noch diesen Satz sagen sollen, der auch in der „Serbenlinde“ stand, nämlich den Satz: „Da warf man sie hinab in lange Gruben und schüttete sie zu mit Kalk und Sand.“?[2]


Blick auf die Agrarlandschaft um Mauthausen. Im Vordergrund der Steinbruch des Lagers mit der berüchtigten „Fallschirmspringerwand“

Mauthausen "Fallschirmspringerwand
Foto: Marion Hussong

Anmerkungen

1 Erstveröffentlichung in Literatur und Kritik 229-230 (1988): 420-423.
2 Auf der berüchtigten “Fallschirmspringerwand” am Rande des Steinbruchs im Konzentrationslagers Mauthausen befindet sich die Inschrift: "Diese steile Wand im Steinbruch wurden viele hunderte Häftlinge hinuntergeworfen. Sie zerschellten am Fuße der Wand oder ertranken in den tiefen Wassertümpeln. Oft stürzten sich auch Häftlinge, die die Qualen nicht mehr aushalten konnten diese Wand hinunter. Die SS nannte diese Todgeweihten mit grausigem Scherz ‘Fallschirmspringer’. Die erste Gruppe holländischer Juden, die im Sommer 1942 nach Mauthausen kam, wurde von der SS diese Wand hinuntergeschleudert."

Zum Vergleich ein Auszug aus dem Protokoll der Vernehmungen des Lagerleiters von Mauthausen, Franz Ziereis, durch einen amerikanischen Untersuchungsausschuß: “Im Jahre 1941/42 wurden nach Mauthausen holländische Juden gebracht. Am 31.5.1943 war Himmler in Mauthausen und ordnete an, daß sämtliche Juden schwere Granitsteine über die hohe Steintreppe vom Steinbruch Wienergraben ins Lager hinaufschleppen sollten. Bei dieser Aktion gingen in kurzer Zeit sämtliche Juden freiwillig über die 50 m hohe Steinwand hinunter und blieben mit zerschmetterten Körpern unten liegen.” Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (2721). http://www.mauthausen-memorial.gv.at/Geschichte/05.03.Ziereis-Protokoll.html