Glossen 28

„Mauthausen wäre auch einmal eine Idee. Wo kann man dort gut essen?“1

Marion Hussong im Gespräch mit Eugenie Kain

MH: Das Titelzitat unseres Interviews stammt aus Ihrem autobiographischen Erzählband Flüsterlieder und wird der Freundin der Ich-Erzählerin in den Mund gelegt. Die Erzählerin spricht mit ihr über jährliche Besuche im KZ Mauthausen zum Tag der Befreiung des Lagers. Für die Freundin ist Mauthausen nicht mehr als eine Ausflugsmöglichkeit zum Wochenende. Die Familie Kain hingegen hat im politischen Widerstand mehrere Mitglieder verloren. Mauthausen ist ein Leitmotiv im literarischen Werk Ihres Vaters, Franz Kain. Nun taucht das Lager auch in Ihrem Buch auf. Was bedeutet Mauthausen für die Identität Ihrer Familie?

EK: Für die Identität meiner Familie, auch für mich persönlich, ist das ein Markierungspunkt, sowohl im geographischen Sinn als auch in der Erinnerung. Ich bin von klein auf als Kind immer mitgenommen worden nach Mauthausen, und es war kein angenehmer Ausflug. Als ich dann eine Tochter bekommen habe, überlegte ich, ob ich das auch mit ihr so fortsetzen sollte; ob ich sie auch bereits als Kind mitnehmen möchte. Sollte ich sie konfrontieren mit den Verbrennungsöfen, mit den Hinrichtungsstätten, mit den Gedenkstätten? Ich bin dann doch zu dem Schluß gekommen, daß es wichtig ist, und daß man Mauthausen auch einem Kind nicht vorenthalten soll, denn es ist Teil einer Realität, immer noch. Es ist Teil der subjektiven Familiengeschichte und Teil der Geographie einer Region und eines Landes. Meine Tochter wird jetzt 17 und ist mittlerweile sehr bedacht und interessiert an der Auseinandersetzung zu Mauthausen. Für jedes Familienmitglied bedeutet Mauthausen wahrscheinlich etwas anderes. Ich habe ja meinen Onkel Karl, der dort in den letzten Tagen vor der Befreiung vergast wurde, nicht mehr gekannt, und die Erzählungen von Verwandten oder anderen Genossen sind eben oral history. Das ist für mich sehr erschütternd und sehr interessant, aber doch schon in einem größeren Abstand als für meine Mutter oder für meinen Vater. Ich habe zum Beispiel lange nicht gewußt, was ich mit bestimmten Ritualen anfangen soll, wie zum Beispiel der Kranzniederlegung oder den Feiern zum Jahrestag der Befreiung. Es ist auch noch nicht so lang, seit ich da selber jährlich mitgehe beim Einmarsch auf den Appellplatz. Und ich stelle fest, daß es für manche Freunde von mir mit zunehmendem Alter wieder wichtig wird. Es gibt manche, die fahren zwar nicht jedes Jahr nach Mauthausen, aber es ist doch eine Konstante. Die Feier ist ja eine Befreiungsfeier, also etwas Schönes. Da geht es einerseits ums Erinnern und ums Gedenken, und andererseits geht es auch um das Bewußtbleiben. Der Faschismus in der damaligen Form existiert nicht mehr, aber hinsichtlich anderer Formen muß man wachsam bleiben.

Gedenktafel

 

Gedenktafel1

Gedenktafel für Karl Reindl, den Großonkel von Eugenie Kain, der am Tag vor der Demontierung der Mauthausener Gaskammern vergast wurde. Die Tafel befindet sich direkt neben den Verbrennungsöfen des Lagerkrematoriums. (Fotos: Marion Hussong)

MH: Ihr Vater beschreibt in seinem Roman Am Taubenmarkt seine frühesten Erfahrungen von Klassenunterschieden, die seine Identität als Außenseiter prägte. Als Schüler erlebte er, wie wohlhabenden Internatszöglingen mehrgängige Mittagsmenüs serviert wurden, während die ärmeren Externisten, zu denen er zählte, sich mit Klostersuppe und einem Stück Brot begnügen mußten.2 Nun beschreiben Sie in Flüsterlieder, eine Generation versetzt, eigene Außenseitererfahrungen. Inwiefern gibt es hier Verbindungen, und wo sind die generationsbedingten Unterschiede?

EK: Ich habe natürlich keine Erfahrungen was Hunger oder Armut oder materielle Benachteiligung betrifft. Ich selber bin mir nie diesbezüglich als Außenseiterin vorgekommen, nur manchmal hab ich mir halt gedacht: seltsam, wie die Leute sind! Ich habe schon gemerkt daß ich das Stigma gehabt habe, ein Kommunistenkind zu sein. Da sind ganz andere Erwartungen an mich herangetragen worden, von zwei Seiten. Da war einerseits die Erwartung, daß ich besonders revolutionär sein sollte, was ich dann auch nicht immer erfüllen konnte oder wollte, und dann andererseits, daß da Ängste bestanden, daß ich andere Kinder beeinflussen oder etwas in der Schule anzetteln könnte, was ja gar nicht der Fall war. Ich hatte also einen schlechteren Ruf, als es den Tatsachen entsprach. Ich bin gern in die Schule gegangen und war auch sehr aktiv in der Mitarbeit. Aber in Gegenständen wie Deutsch oder Geschichte ist mir aufgefallen, daß ich bei heiklen Themen einfach nicht drangekommen bin, auch wenn ich aufgezeigt hatte. Und wenn ich dann einfach etwas herausrief, gab es einen Strafpunkt oder ein Strafgedicht und ich wurde manchmal auch so seltsam gemaßregelt. Zum Beispiel hat der Deutschprofessor immer gesagt: „Wer mit Zwanzig kein Kommunist ist, hat kein Herz. Und wer mit Vierzig ein Kommunist ist, hat kein Hirn.“ Außerdem war ich, wie ich auch in Flüsterlieder beschrieben habe, die erste „Heidin“ in unserer Schule, und ich wußte gar nicht so richtig, was gemeint war, wenn die Lehrerin mich absichtlich laut vor der ganzen Klasse „unsere kleine Heidin“ nannte.

MH: „Es gibt ein Erbe, das sich nicht ausschlagen läßt“, heißt es in Flüsterlieder (63). In einer Rückblende reflektiert die Erzählerin eine Begebenheit, in der sie als Kind den Erwartungen der Familie nicht entsprechen konnte: Von der Schulleitung unter Druck gesetzt, deklariert sie eine authentische Unterschrift des Vaters, beiläufig hingekritzelt, als eigenhändige Fälschung. Die Eltern sind fassungslos: „Wir haben nie etwas zugegeben. Und du gestehst etwas, was du gar nicht getan hast?“ So etwas habe es in dieser Familie noch nie gegeben. „Alle hätten dem Druck standgehalten“ (55). Wie geht man als Heranwachsende mit solchen Vorgaben um?

EK: Mir wurde schon sehr bald bewußt, daß hinter der heilen Welt noch eine andere Welt steckt, was mir Alpträume beschert hat. Die Erzählungen im Familienkreis haben natürlich eine gewisse Heroisierung. Also, wenn meine Großmutter mit der Großtante von den Familienmitgliedern im Widerstand gesprochen haben, dachte ich mir schon: das sind ja so starke Menschen! Was wäre, wenn ich in so eine Situation käme? Ob ich das auch könnte oder zusammenbräche und nicht widerstehen könnte? Es war zuhause doch die Rede von Schlägen und seelischen Grausamkeiten und Gewalt. Ich habe das nicht nur als Heranwachsende, sondern schon als Kind gehört. Da ist ja nicht bedacht worden ob ich da jetzt dabei bin wenn über diese Zeit gesprochen wurde, und das hat mich belastet und bedrückt und sehr beschäftigt.

MH: Wer Franz Kains Bücher liest, weiß, daß er davon überzeugt war, daß der Kampf gegen die Nachwehen des Nationalsozialismus zu seinen Lebzeiten nicht vollendet war. Die Erzählerin der Flüsterlieder setzt die Tradition des bewußten Erinnerns fort, durch Schreiben aber auch durch Teilnahme an Kundgebungen und die bereits erwähnten Gedenktage im Lager Mauthausen. Im Zusammenhang mit dem oben besprochenen Eklat in der Schule erinnert sie eine Bemerkung der Eltern: „Gib immer nur zu, was sie schon wissen. Den Satz kannte sie. Sie dachte, daß er zu einer anderen Zeit gehört“ (59). Wie ist es um unsere Zeit bestellt?

EK: Die Zeit ist einerseits eine andere geworden, hat aber trotzdem weiterhin ihre braunen und roten Fäden. Vergangenheitsbewältigung ist etwas, was man nie abschließen kann und was nie abgeschlossen sein wird. Das entwickelt sich ja immer weiter. Zum einen von der Forschung her, die ja nach wie vor neue Sachen aufarbeitet und dann eben im Alltag -- es läßt sich natürlich nicht eins zu eins umsetzen -- aber hin und wieder gibt es Gleichklänge oder Parallelen zur NS Zeit, die schon oft sehr manifest sind. Vergangenheitsbewältigung ist ja nicht nur die Aufrechnung mit dem NS Regime sondern betrifft auch den Alltag. Das fällt mir auf beim Straßenbahnfahren oder allgemein im Verhalten der Menschen zueinander. Da ist schon eine latente Gefahr da und es kann wieder Einbrüche geben. Zum Beispiel kenne ich das von meinem Brotberuf. Ich bin Beraterin im Sozialbereich und habe da sehr viele Gespräche mit Gefährdeten. Das sind Menschen, denen es am schlechtesten geht und die sozial am Rand stehen. Bei den Armutsgefährdeten, die das Gefühl haben, sie werden im Stich gelassen, zeigen sich da Symptome: das fängt an mit Politikverdrossenheit, dann glaubt man nicht mehr an die eigene Kraft, und dann muß ein starker Mann her. Und das gibt es in verschiedenen Facetten. Dazu kommt mangelnde Zivilcourage, daß man eher wegschaut und sich duckt als die eigene Meinung zu artikulieren wenn man gegen etwas ist. Blinde Autoritätsgläubigkeit, eben. So läuten bei mir die Alarmglocken bei gewissen Redewendungen, zum Beispiel: „samma ehrlich... !“ Danach kommt meistens was, wo einer ehrlich ist und sagt, was er sich denkt und ein Bündnis sucht mit einem gleichgesinnten Zweiten. Der Alltagsrassismus ist auch etwas, was einen verpflichtet mit der Vergangenheitsbewältigung nicht aufzuhören. Das sind neue Dimensionen und doch ist es immer dasselbe System, daß ein Sündenbock projiziert wird, auf den dann eingeschlagen werden kann. Was den Antisemitismus betrifft, hat man mittlerweile schon begriffen, daß man den nicht mehr so laut und offen äußern kann, aber dafür darf man bei Asylsuchenden oder Migranten fest schüren und Unwahrheiten verbreiten.

MH: 2008 ist wieder ein Gedenkjahr. Es sind 70 Jahre seit der Annexion Österreichs an das Großdeutsche Reich vergangen. Wie stehen Sie zu den üblichen staatlichen Gedenkfeiern?

EK: Ich denke schon, daß da recht viel Pflichtübung im Spiel ist. Das ist eine Gefahr, denn eine Pflichtübung wird schnell zur Routine und dadurch verliert das Ganze dann an Wert und auch an Glaubwürdigkeit. Ich ärgere mich schon oft, wenn wieder Gedenktage fällig sind und die von offizieller Seite so gemacht werden, daß man dann abhaken und sagen kann: „Pflicht erfüllt! -- was wollt Ihr denn, wir haben ja eh ...“ Das Gedenken sollte doch immer mit einer neuen Qualität gefühlt sein, und man muß sich stets neu damit auseinandersetzen.

MH: In fast allen Texten Ihres Vaters geht es in irgendeiner Weise um Holz, Wald und Bäume. Holz und das was er „Holzverstand“ nennt, sind Grundmotive in seinen historischen Romanen und Erzählungen. Im poetologischen Aufsatz „Von den Würgemalen“3 erklärt Ihr Vater seine literarische Symboltechnik. Für ihn sind die unebenen Stellen eines Baumstammes interessant, weil sie traumatische Einwirkungen durch Klima, Stürme, Menschenhand, anzeigen. Genauso weist für Franz Kain auch die Geschichte Zäsuren auf, die es zu entschlüsseln gilt. Im Ihrem Band Flüsterlieder wird das Holz ästhetisiert. Es wird zur Brücke zwischen der unmusikalischen Erzählerin und ihrem Lebensgefährten, einem Gitarristen. Die Frau hat zwar keinen Instinkt für Musik, durch ihren Holzverstand wohl aber Sinn für gute Gitarren. Woran denken Sie, wenn Sie das Wort „Holz“ hören?

EK: (lächelt) Wenn ich das Wort Holz höre, denke ich an Wärme, an einen guten Geruch, an viel Arbeit, aber auch an einen nachwachsenden Rohstoff und an ein angenehmes Material, mit dem man viel machen kann.

MH: Sie denken an viel Arbeit?

EK: Ja, das kommt daher, daß beim Haus meiner Familie in Bad Goisern ein Servitut dabei war und mein Vater ja selber Holzfäller war. Die Methodik des Holzfällens hat sich natürlich mit der Zeit grundlegend geändert, aber ich hab das schon selbst erlebt, denn wir haben auch als Familie Bäume umgeschnitten. Mein Vater und mein Bruder haben sich direkt mit dem Fällen beschäftigt. Ich hab dann die kleineren Äste, wenn der Baum umgefallen war, abgehackt; die größeren aber nicht, denn die waren zu schwer. Die Stämme zu entrinden war meine Arbeit und auch die kleineren Stämme zum Lagerplatz zu ziehen. Mein Vater hat darauf geachtet, daß die Kinder lernen, mit Holz umzugehen. Er wollte da sehr viel vermitteln und mir war das manchmal zuviel und ich wäre gern woanders gewesen und hätte lieber was anderes getan, aber er wollte schon immer die Sinnlichkeit von Wald und von Holz nahebringen. Heute tut es mir leid, daß ich da nicht so genau genug zugehört habe. Er hat zum Beispiel sogar erklärt, wie man am Waldesrauschen den Unterschied zwischen einem Tannenwald und einem Fichtenwald hören kann. Das hat sich mir nicht erschlossen. Ich kenne zwar die verschiedenen Bäume, ich weiß was eine Fichte ist, was eine Tanne ist, ich weiß warum eine Monokulutur schlecht und ein Mischwald besser ist, und ich weiß vom Scheit, ob es ein Weichholz oder Hartholz, ob Tanne, Fichte, Lärche, oder Buche ist; welches Holz für ein schnelles Prasselfeuer und welches für langanhaltende Wärme zu verwenden ist. In Flüsterlieder schreibe ich davon, daß es mich immer fasziniert hat, zu untersuchen, wie Gitarren beschaffen sind: aus welchem Holz etwa der Steg, aus welchem Holz der Corpus gemacht ist. Mein Bruder hat den Holzverstand meines Vaters auch mitbekommen: er wurde von Beruf Instrumentenbauer.

MH: Es gibt in Oberösterreich, wie überall in der Republik, ein Nebeneinander von Namen, die mit dem Widerstand in Verbindung stehen und Namen, die nationalsozialistisch belastet sind. Noch in den 60er und 70er Jahren waren in Österreich die Namen von Widerstandskämpfern eher unbekannt. Dafür gab es Straßen, die nach Nationalsozialisten benannt waren und Schulbücher voll von Texten belasteter Dichter. Ihre Familie war diesbezüglich immer sehr engagiert. Woran erinnern Sie sich?

EK: Ich erinnere mich an Gespräche mit meinem Vater, denn er hat immer sehr offen über seine literarischen Projekte mit mir gesprochen und auch über seine journalistischen und politischen Arbeiten und Kämpfe. Zunächst wäre hier der Fall Kaltenbrunner. Diese Thematik kenne ich vom literarischen Kontext her, denn Franz Kains Erzählung „Der Weg zum Ödensee“,4 die Fluchtversuch, Gefangennahme und den Prozeß gegen Ernst Kaltenbrunner schildert, ist ja 1972 erschienen. Ich erinnere mich, daß mein Vater darüber gesprochen hat, wie er mit dem Stoff umgeht und was er da machen wird. Da war dann auch unter unseren Bekannten Hans Kandut5, ein KZ Insasse, der fünf Jahre lang als Heizer und Leichensammler im Krematorium von Mauthausen überlebt hatte und dann vor Gericht als Zeuge gegen Kaltenbrunner ausgesagt hat. Kandut habe ich noch als Kind kennengelernt, und da gab es einerseits Gespräche über die Erinnerungen dieses Augenzeugen und andererseits die Überlegungen des Vaters, wie man den Stoff literarisch umsetzen kann. Später habe ich selbst in einem Haus gearbeitet, in dem auch die Familie Kaltenbrunner ihre juristische Kanzlei gehabt hat. Da ist mir schon aufgefallen, daß da eine relativ hohe Dichte von Herren mit Schmissen ein und ausgegangen sind. Ich weiß nicht, ob das Klienten oder die Angehörigen der Kanzlei waren. Ich habe mich dann erkundigt, ob das auch wirklich diese Kaltenbrunners sind und, ja, sie waren es. Und dazu kommt, daß am Friedhof das Grab der Familie Kaltenbrunner ganz in der Nähe des Grabes von Franz Kain, meinem Vater, liegt.

MH: Wie steht es mit dem Namen Langoth? Ihr Vater schrieb zum 500. Jubiläum der Landeshauptstadt Linz eine Rede mit dem Titel „Altlasten – nicht immer alt“, in der er die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit seitens der Linzer Stadtpolitik aufs Korn nimmt und besonders auf die „Affäre Langoth“ anspielt.6

EK: Langoth7 war Bürgermeister von Linz und gleichzeitig für Todesurteile als Blutrichter bis zum Ende des NS-Regimes zuständig. Es gab in Linz eine Straße, die nach ihm benannt war8, was meinen Vater empörte. Er wollte, daß die Straße umbenannt wird. Jahrelang kämpfte er hartnäckig dafür. Als sich die Sache mit der Langoth-Straße abspielte, war ich schon alt genug um zu begreifen, daß das ein großer politischer Erfolg für meinen Vater war, als diese Straße endlich umbenannt wurde. Es waren Beweise, die mein Vater vorgelegt hat, die zur Umbenennung führten. Zunächst hieß es: Der war ja nur Bürgermeister und hat nur seine Pflicht getan, aber da hat dann mein Vater so an die 12 bis 16 von Langoth unterzeichnete Todesurteile ausgegraben und vorgelegt. Eines Tages ist er mit den Dokumenten heimgekommen und hat gesagt: „Ich glaub´, jetzt hamma ihn!“ Er hat die Akten dann auch dem Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes in Wien gegeben. Mittlerweile, wenn man die Geschichte der Stadt Linz anschaut, steht nirgends mehr, daß das der Franz Kain ins Rollen gebracht hat, sondern jetzt ist es eben die Stadt Linz, die darauf stolz ist, den Namen der Straße geändert zu haben.

MH: Man macht sich mit solchen Aktionen wohl nicht unbedingt beliebt?

EK: Nein, die Anrainer waren ganz entsetzt, denn wenn eine Straße neu heißt, dann braucht man ja auch neue Dokumente. Da gab es einen Widerstand, zwar keinen politischen, aber einen pragmatischen. Dazu kommt wohl, daß es auch bequemer ist, einfach nicht an diese Zeiten zurückzudenken. Auf alle Fälle war es ein zäher Kampf. Im Gemeinderat stellte mein Vater einfach einen Antrag nach dem anderen, und die Angelegenheit hat sich ganz schön lang hingezogen.

MH: Das gespaltene Verhältnis von Widerstand und nationalsozialistischen Kontinuitäten manifestierte sich in Österreich auf vielen Ebenen. Flüsterlieder spricht von einer Großante der Erzählerin, die selbst als „Politische“ im Gefängnis saß und ihren Man, im KZ verloren hat. Später hatte die alte Frau, die ja tatsächlich die Tante Ihrer Mutter und die Frau Ihres Onkels Karl war, Schwierigkeiten, eine staatliche Witwenpension zu bekommen. Die Tante „war keine Kriegerwitwe. Hatte ihr Mann nicht durch eigenes Zutun seinen Tod mitverursacht?“ (74). Schließlich erhält sie eine kleine Rente, stirbt aber zu früh für eine Entschdigung aus der Opferfürsorge. Auch in der zweiten Generation sind solche Mißstände und gespaltenen Haltungen also noch Thema? Wie verschiebt sich die Perspektive im Generationenwechsel?

EK: Die unmittelbar Betroffenen sterben aus, und was bleibt ist ihre Geschichte als Vermächtnis, das man bewahren und weitergeben muß, damit es nicht vergessen wird. Vielen Widerstandskämpfern wurde in Österreich auch nach 1945 übel mitgespielt. Ich hab mich oft gefragt, wie es denen eigentlich wirklich geht. Und da stellt sich dann oft heraus, insbesondere bei den kommunistischen Überlebenden, daß es diese Welt, die sie gerne erkämpft hätten, nicht geben wird. Und auf einmal ist man wieder der Verfemte. Da frage ich mich dann schon, wie wirkt das auf die Psyche? Ich war ja auch Journalistin und habe viele Widerstandskämpfer, KZ Insassen und ehemalige Spanienkämpfer interviewt. Da habe ich die Erfahrung gemacht, daß das trotz allem sehr optimistische Menschen waren, und daß bei ihnen nicht die Verbitterung im Vordergrund gestanden hat, sondern die Zuversicht, und daß der Widerstand irgendwie geblieben ist. Die haben sich einfach nichts gefallen lassen. Und da denke ich, daß mit diesen Leuten nicht fein umgegangen wurde in Österreich.

MH: Mit Franz Kains Erzählung „Maria-Lichtmeß-Nacht9“ (1972) beginnt die Literaturgeschichte der „Mühlviertler Hasenjagd“, dem Massaker an mehreren hundert russischen Offizieren, die kurz vor Kriegsende aus Mauthausen ausbrachen. Ich erinnere mich an einen Brief Ihrer Mutter10, in dem sie sich darüber ärgerte, daß bei einer Radiosendung zu diesem Thema Elisabeth Reicharts Roman Februarschatten (1982) als erster literarischer Text zur „Hasenjagd“ gewürdigt wurde, Franz Kains Erzählung aber wieder einmal nicht erwähnt wurde. Ihr Vater wurde erst in seinen letzten Lebensjahren und nach seinem Tod in Österreich rezipiert. Der Autor Walter Wippersberg sagte: „Franz Kain zu ehren hat immer etwas von Wiedergutmachung.11“ Stimmt das? Wie stehen Sie zu den späten Anerkennungen für Ihren Vater?

EK: Das stimmt natürlich, mit der Wiedergutmachung. Mein Vater hat sich aber doch sehr gefreut, als er dann doch noch Anerkennungen bekommen hat. Sie sind zwar sehr spät gekommen, aber immerhin, er hat sie bekommen und man kann die Vergangenheit sowieso nicht ändern. Für sein Schreiben und für sein Gesamtwerk war es schon sehr schade, daß die Wertschätzung, die ihm eigentlich gebührt hätte, erst so spät kam. Wenn das schon früher der Fall gewesen wäre, hätte er sich vielleicht mehr Zeit zum Schreiben nehmen können. Ich weiß, daß er gern mehr literarisch gearbeitet hätte. Was das Finanzielle betrifft: obwohl er im Aufbau Verlag in der DDR mit großen Auflagen verlegt wurde, hat das ja auch nicht viel genützt, da er ja mit Ostdevisen bezahlt wurde.

MH: Ihr Vater hat den Nationalsozialismus direkt mitgemacht und schöpft in seinen Büchern aus der Fülle seiner Erfahrungen und Erinnerungen. Sie selbst haben diese Zeit indirekt aus Zeugnissen Ihrer Familie und der älteren Generation erlebt. Welche Herausforderungen stellen sich für Sie als Schriftstellerin, die aus der Perspektive der Nachgeborenen schreibt?

EK: Als Nachgeborene bin ich extrem vorsichtig, was Fiktionalität betrifft und achte sehr darauf, daß ich mich, was diese Zeit betrifft, an die Fakten halte. Ich kann diesbezüglich kein Schicksal erfinden, das käme mir seltsam und unrecht vor. Dadurch ändert sich natürlich die Thematik, wobei ich mir denke: was bleibt ist ein gewisses Sensorium oder Gespür für Unrecht -- für erlittenes Unrecht. Das ist auf jeden Fall da. Und auch die nachfolgende Zeit ist hochinteressant. Meine Personen sind immer noch widerständige Menschen und es fasziniert mich einfach, widerständig zu sein gegen die Lebensbedingungen, die einem zugemutet werden.

 

MH: In welchen Autoren und Texten sehen Sie die Meilensteine der österreichischen Literatur zu dem weiten Feld, das wir Vergangenheitsbewältigung nennen? Wo sind die Generationssprünge und wie sind sie erkenntlich? Was lesen Sie; was sollen wir lesen?

EK: Von meiner Leseerfahrung zu diesem Thema kam das erste prägende Erlebnis nicht von Franz Kain, der war mir wahrscheinlich zu nah, sondern von Ilse Aichinger mit ihrer Erzählung „Das vierte Tor“, die schon 1945 erschienen ist, und von ihrem Roman Die größere Hoffnung. Von der literarischen Weise, wie Aichinger an das Thema herangeht, hat mich der Text sehr beeindruckt. Vom Historischen her möchte ich Ingeborg Bachmann erwähnen; ich lese überhaupt mehr Autorinnen als Autoren. Natürlich sind Milo Dor12 und Gerhard Fritsch mit seinen Romanen Moos auf den Steinen und Fasching wichtig, und Hans Leberts Romane. Ebenfalls wichtig für mich sind die Romane von Anna Mitgutsch und die Werke von Elisabeth Reichart, insbesonders Februarschatten. Von meiner Generation dann Alois Hotschnig oder Doron Rabinovici und Erich Hackl.

MH: Vielen Dank für das Gespräch. (Linz, Juni 2008)

 

Endnoten

1 Eugenie Kain, Flüsterlieder. Salzburg: Otto Müller, 2006. 59.

2 Franz Kain, Am Taubenmarkt. Weitra: Bibliothek der Provinz, n.d. 35-37.

3 Franz Kain, “Von den Würgemalen”, Der Weg zum Ödensee. Weitra: Bibliothek der Provinz, n.d. 198-200.

4 Franz Kain, “Der Weg zum Ödensee”, Der Weg zum Ödensee. Weitra: Bibliothek der Provinz, 1995. 157-197.

5 Zu Hans Kandut: Florian Freund, “Der Dachauer Mauthausenprozess”, Jahrbuch des Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes. Wien: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, 2001. 35-66.

6 “Altlasten – nicht immer alt”. Unveröffentlichtes Manuskript, 3. Januar 1990.

7 Zu Franz Langoth: Walter Schuster, Deutschnational, Nationalsozialistisch, Entnazifiziert – Franz Langoth, eine NS Laufbahn. Linz: Archiv der Stadt Linz, 1999.

8 Es hat in Linz nicht immer eine Langothstraße gegeben. Erst 1973 wurde eine Straße nach dem ehemalischen nationalsozialistischen Bürgermeister und Blutrichter benannt. 1986 wurde der Straßenname auf Grund von Franz Kains Bestrebungen getilgt. Die Straße heißt jetzt wieder Kaisergasse. Archiv der Stadt Linz: http://www.linz.at/Archiv/langoth/bio_e.html

9 Franz Kain, “Maria-Lichtmeß-Nacht”, Der Weg zum Ödensee. Weitra: Bibliothek der Provinz, n.d. 147-156.

10 Vgl. Marion Hussong,”Weiße Flecken auf der literaturgeschichtlichen Landkarte: Vergangenheitsbewältigung und österreichische Literaturgeschichte.“ Germanic Notes and Review 31, 2000.

11 Walter Wippersberg, “Ansprache anläßlich der Verleihung des Landeskulturpreises Oberösterreich an Franz Kain 1993.”

12 Vgl.: Marion Hussong, “Unsere Republik beruht auf einer Lüge” - Interview mit Milo Dor zum Thema Vergangenheitsbewältigung und österreichische Literatur.“ glossen 5, 1998. http://www.dickinson.edu/glossen 1