Glossen 28

Utz Rachowski
POEM DES ZORNS

(Verse, gehauen mit der Axt ins eigene Fleisch,
aber für A.)

Ich will meine neuen roten Schuhe anziehen“,
sagte sie eines Morgens, „ die welche Kay
nie gesehen hat, und dann will ich zum Fluß
hinuntergehen und den nach ihm fragen.

Hans Christian Andersen „Die Schneekönigin“

Das Laub
vom Marheinekeplatz
überwiegend leicht
gelb
wie die Wände damals
in meiner Zelle

Und du
hast vielleicht
geklopft
sommerbraun schon
im Mai von Geburt
an meiner Tür still

Eine weiße Bluse
wie Sophie Scholl
auf diesem letzten Weg
ich war schon fünfundzwanzig
und vielleicht schon tot
unser Blut überwiegend rot
(Wie hat dein Herz wohl geschlagen
die Treppen hinauf, hinab schlug
dich wer?)

Wo kamst du nur her?

Ich war Kay und schon aus Eis
als du mich suchen kamst
du gehörtest einem anderen Märchen
warst Bärin, Ronja, die Tochter
des Räubers vielleicht

Die Blumen auf deinem Zigeunerrock
halblang unser Leben
sie ließen die Köpfe hängen
aber das Laub vom Marheinekeplatz
hatte sich schön gemacht
und auf uns gewartet
ein Viertel Jahrhundert
als wir uns wiedersahn

Ich wusste von damals
nur noch: wir nicht
wir sind nicht von hier
und dein schlagendes Herz
die Treppe hinauf und hinunter
pochte an die Wand meiner Zelle

(Auf einem gepflügten Acker
in Mecklenburg habe ich dich
zum ersten Mal gesehn die Mauer
am Checkpoint Charly ist noch
ein Strich mit Bronze belegt
wo sind die getrennten Herzen
ausgestellt? Dieses Land belügt
sich noch immer, alle wieder
normal sie sind von hier)

Dort stand die Mauer gegossen
mit Fleiß (statt der Wohnungen)
auch die vom Warschauer Ghetto
(kamst du aus diesem deutschen
Märchen mit losem Haar zu mir?)

Dann – es gab ein Wunder
überwiegend gelb dann wir
(du hattest ein wenig
nachgeholfen denn du
bist klüger als wir)

Kamst du zu früh zu zeitig
im Mai unseres ersten Lebens
im Oktober warst du November
und immer wartete ich, Januar,
auf dich mich fror ich war
in der Fremde das Laub leicht
gelblich hatte Geduld mit mir

Ich bat dich Platz zu nehmen
auf einer Bank am Marheinekeplatz
ich wollte sicher sein vorm Wind
der unser Leben schon einmal verblies
an diesem Sonntag im Oktober
überwiegend gelb (die Glocken
schwiegen schon lange wir waren
klug und schliefen aus während
sie vor ihren Klößen saßen
sie ließen uns in Ruhe für heut)

Ich hatte alle Gedichte vom Mai
vergessen die ich dir schrieb
vor einem halben Leben
du sangst sie mir vor
in 19 Sprachen ich habe dich
gleich erkannt wo kamst du nur her
sie haben uns immer gemeint

Lauf nicht in die Straßenbahn!
will ich sagen da rempeln
sie dich schon an lauf nicht
ins deutsche Messer
rostfrei
Solingen ist
ein Name wie Stasi Gestapo
Auschwitz wollte ich nicht sagen
weil das jeder kann in Dresden
ein wertloses Wort gebraucht
für eine andere Schuld

In dieser Stadt will jeder
mit jedem im KZ gewesen sein
und Das Leben ist schön
aber meine Freunde wurden
markiert bestrahlt zersetzt
und starben in Wahrheit
wirklich und während ihr schlieft
in einem anderen Film
die steinerne Welt für euch
ganzheitliche Therapie
für alle gelebte Feigheit
ich mache mich nicht mit euch
zum Rudi ihr jedenfalls zieht nicht
in Atlantis ein euch verweigere ich
die Durchgangsrechte für ganz Arkadien!

Am Ufer der Elbe gibt es zwei
Ufer aber nur einen Fluß
hinreichend versehen mit
afrikanischem Getier den
grauen Mäusen gehört die Stadt
(Wenn der Wassermann kommt
verhalten sie sich höflich
piepsen und hoffen dass er
flussabwärts getrieben wird)

Sie haben uns immer gemeint
Räubertochter aus Warschau
Bärin zu lustig zu ernst
es war immer das selbe Land
als du im Blumenrock an die
für immer geschlossene Tür
geschlagen hast wohin hatten
sie den Wassermann gebracht?

Es reicht jetzt denke ich
wir sollten den Hals voll
haben und zu den Endlichen
zählen im Zigeunerrock
(und ich sollte dich langsam
mal fragen jetzt wo wir alt
sind welche Farbe dein Slip
hatte als du geklopft hast
bei mir vor 25 Jahren
im Blumenrock
an der vom Geheimdienst
versiegelten Tür um die Frau
zu werden eines polnischen Wassermanns)

Sie haben uns immer gemeint
das Klopfen unter deiner Bluse
hat sie am meisten gestört
es sind die alten Gesichter
und wir wurden über sie alt
Pass auf! wenn du über die Straße
gehst um bei mir zu klopfen

Poets! Essayists! Novelists! –
Peng – wart ihr vereinigt zum P.E.N.!
die Spitzel mit den Schweigern und
natürlich in Dresden bedenkt eure Schande!
Lange noch wird der Fluß sie hinunter
schaffen hinüber zu den Aalen
im mexikanischen Golf bis dahin
seid ihr Soße für mich gesamtdeutsche
jetzt P.E.N. weder Fleisch noch Knochen
Hans Sahl Sohn der Stadt es steht
sein Geist über dem Fluß mit dem
von Ernst Toller und Heinrich Mann sie
fluchen auf euch und machen Witze
damals ’34 gab es Klartext in Marseille
sie verkrochen sich nicht wie ihr
mit ihrer Angst die sie auch hatten
Prostituists Entsetzlies Nivellists
seid ihr geworden in Dresden PENer
pünktlich zusammengefunden die
wirklich zueinander gehören als
eine Soße am Ende der Golf von Mexiko
die Aale wo noch ein anderer Geist
umhergeht Caracas Verrat die Lüge
im Fries meines Gedächtnisses ein Fritz
verlegt sein gesammeltes Verschweigen
bei Kiepenheuer zu Leipzig die Linden
sind nicht gleich denen meines Laubs
vom Marheinekeplatz sind anders geädert
sind beschriebene Blätter wie ihr: tot
ihr Gold bleibt für immer
ein Handgeld für Judas

Ich denke es reicht jetzt
ich sehe die Landschaft nicht mehr
etwas fehlt dem Winde – der Sturm
eine Windung dem Wasser der Mut
ist flussabwärts gezogen aus
Warschau
Dresden und Prag endet alles
im selben Meer – ohne Himmel
der Fluß hat ein Gen weggespült
ausgewaschen die Erde bei Meißen
die Scheiße nach Prohlis gespült
den hier geht’s um Qualität
ich will die Ölschinken nicht
mehr sehen abgeluchst einem
verarmten Schwein aus Mantua
dann kamen die Preußen die Lauen
zu beiden Seiten am Ufer
behielten den Überblick

(Was geht es sie an: keine Rührung
wenn 30 Dichter in Istanbul
in die Luft gejagt werden eine
Dame aus Birma Hausarrest bekommt
zum Tag des Politischen Gefangenen
lesen die Schweiger aus ihren Werken
ich hörte nie etwas an Gegenrede
von ihnen ich las nur sehr viel
auf den bundesbeauftragten Blättern
selbst die Geheimpolizei lachte sie aus)

Wer kam aus Italien wer hat
den Blumenrock gesehn in einem
Herbst im Tiefurter Park
warst du es schon eine Schwester
von Rinaldo Rinaldini?
aus Weimar vielleicht nicht von hier
kommen die Frauen Goethes
wer an der Macht teilhat vergisst
dass zweimalzwei vier ist nur
brutto und netto stimmen, Guten
Tag, Monsieur Camus!
Verteidigung des Flusses. Alles kommt
hoch. Durch deinen Blumenrock. Durch
mich hindurch geht jetzt der Fluß wie
einst die Mauer. Durch dich. Am
Weißen Hirsch über Loschwitz Brutto
oder Netto man muß sich entscheiden
das Leben ist teuer so oder so wo ist
dein Zigeunerrock, deine Bluse vom Mai?

In Dresden treibt der Fluß auf
dem Wasser und alles kommt
hoch und durch dich so oder so
ihr habt das Wasser gerufen
es ging mir nach als ihr mich
in den Kahn flussabwärts setztet
eurem Schweigen füllte ich den Hals
das Wasser ist schuldlos zweifelsfrei
es folgte dem Vakuum das ihr grubt

Und eure jungen Autoren sie
wohnen von Anfang an richtig
an ihrem Lebenslauf genau
an der geplanten Biegung des Flusses
Wachwitz-Schachwitz – gute Nacht!
Und einen Menschen fühlte ich
Hellerau, die Gartenstadt, schwieg
wie Beton musste raus aus der Platte
wärst du geblieben Freund aber nicht
im Schweigen (Was glaubst du wieviel
das Moos einer vogtländischen Freundschaft
erträgt. Leg dich drauf, kein Brief
kein Anruf was ist mit eurer inneren
Emigration passiert nach der Diktatur?)

Der Fluß bleibt übrig und eine
die sich auf den Rock Blumen nähte
von ihr die klopfte an meiner Tür
wäre geblieben eine goldene
Erinnerungsplakette
vor euren zu bunt renovierten
Häusern in denen ihr weiterschweigt:
hier erinnert sich Sachsen an eine
die eine weiße Bluse trug bis…
(die sowieso wie ich sie kenne
von der Großmutter im Westen
stammte per Post ungetragen
sagen wir Neckermann…)

So habe ich mir die neue Welt
und eure Neustadt nicht
vorgestellt das gefälschte Alte
die Maskeraden der Mäusefeste
die mit der Bluse wusste wer
sie war keine Rosa kein Fisch
die kalte unter den Dresdner
Syrenen die die Angst weiterlebt
die anderen sind tot der Mut
so habe ich mir die Welt mit euch
nicht vorgestellt die blaue Blume
habe ich nicht gefunden und bin
verduftet ich kann beißen das ist
der Unterschied bin nicht im Dienst
oder wegzuküssen ich stottere nicht
über Pflastersteinen Vor dem Winter
Menschenskinder, seid ihr alt!
(Während sie mich in den Kahn
setzten flussabwärts von
diesem Tisch aus an dem du saßt
hast du dein Haus in Kleinschachwitz
eingerichtet mit Schnee oder schlechtem
Gewissen weggerannt vor Rosa den Fischen
immer wart ihr die Helden wenn das Theater
schon zu war es gibt keine Zufälle nach
diesem Satz kam ein Brief aus Tórun Pawel
schrieb unsere Familie wären kleine
Besitzer von Wasser gewesen im Osten
die Gehöfte Sand und eine Grabstele
auf dem Friedhof von Sdunska Wola das
einen Holzbahnsteig hat ich sah es 1982
war der einzige deutsche Schriftsteller
der nach Polen fuhr unter Kriegszustand
um sich nach seinen Kollegen zu erkundigen
die in Lagern saßen was habt ihr damals
eingerichtet als ihr noch keine Häuser hattet
ich glaube ich weiß es, es war eurer Kopf
den ihr zu oft gerettet habt wie die Häuser vor
den zornigen Wassern die über den Fluß kamen)

Schaut in den Stadtplan wo ist
denn dieser Marheinekeplatz der
diesen Polen zu Frechheiten ermuntert
ihr findet ihn nie dort nicht
und nirgends denn ich bin schon
fortgegangen überwiegend leicht
mit der von damals im Zigeunerrock
(wer ist die eigentlich bestimmt
keine von hier und keine von uns)
und ich habe kein Blatt mitgenommen
für ihren Zigeunermund und für meinen
sie hat noch am Stiel einer Margeritte
gekaut der Wind unsere Spuren gelblich
verwischt und sang mir ein griechisches
Lied schlagt ratlos eure Lebenspläne zu
und folgt uns nicht ihr findet uns nie

Du liefst beinahe in ein deutsches Messer
Solingen rostfrei sie hielten dich
für eine Türkin und einer rief: ist denn
das möglich der hatte das Messer

Wo kamst du nur her
uns haben sie immer gemeint

Am Marheinekeplatz
in der Fremde das Laub
hat für uns immer geblüht
am Marheinekeplatz das Laub
überwiegend die Fremde
hat uns immer geblüht
es gibt keine Wahl

Und doch im Mai deines Lebens
trugst du eine weiße Bluse
und den Zigeunerrock

Pass auf wenn du über die Straße
gehst um bei mir zu klopfen!

Erste Veröffentlichung: Februar 2002 (RBB Kulturradio). Weiterhin in: Nachgetragenes. Fünfundsiebzig Jahre PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland. Herausgegeben von Gabrielle Alioth und Hans-Christian Oeser. (Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, 2009)

 

ÜBER DAS SLAWISCHE HERZ

Das slawische Herz findest du im Gras
der sich streckenden
Wiesen meiner Heimat. Es ist der Mohn
unter den Blumen,
seine Früchte berauschen.

Der Sommer muß warm sein und gelb. Als
Kind musst du
im ersten Heu des Augusts liegen.
Dann, wenn du geduldig gelebt hast und
allein, eines Tages
spricht es aus deinem Mund.

Es ist der Sturm über den Winden, der
Rubin unter
den Stein-Herzen. Sein Puls ist das Licht,
das es
gefangen nimmt und wieder freigibt im
Abendrot,
aber voll Blut.

Das Blut des slawischen Herzens sind die
Einsichten
des siechen Europa mit seinen exilierten
Bewohnern:
Mann und Frau.

Das slawische Herz ist die Träne im Lachen
des Menschen,
mit der er Abschied vom Lachen nimmt, bis
zum letzten
Abschied.

Das slawische Herz ist der Tropfen
Wermut in der Quelle
der Liebe, die Schramme am blinkenden
Schwert des Todes,
der Rotdorn im Auge der Feigheit, der Rost
an den Stützen
der Welt.

Das slawische Herz liegt zu Füßen der
Schönheit und sitzt
der Macht im Nacken.

Das slawische Herz erhältst du, wenn du dir
zuerst an die
Brust schlägst und dann an die Stirn.

Dann liegt es in deiner Hand, das slawische
Herz zu finden.

„Über das slawische Herz“ erschien zum ersten Mal in polnischer Übersetzung 1983 in der polnischen Exilzeitschrift „Archipelag“, Westberlin. Erstmals in deutsch in Mein Museum (Dresden: Hellerau Verlag, 1995)

 

PHILADELPHIA – LA GOREÉ

„Der letzte Blick“
heißt auf Französisch
auf der Sklaveninsel
LA GOREÈ
der leicht abfallende Gang
im Haus
hin zur Tür
dahinter nur noch Meer
und Amerika

30 Minuten Seeweg
vor Dakar im Senegal

hinter der Tür wartet das Schiff

26.11.2008

 

PHILADELPHIA PH–WERT

Wie ein Fernsehbild
unbegreiflich
im Fenster

Türme
bunten Lichts
deines restrooms Handtuchberge

Häuserhaufen Spitzen
rot und blau
ärmlich irrt der arme Mond

das 11. Stockwerk
im zu teuren Haus
irgendwo mußte

die Freiheit
verankert sein
bevor die Glocke sprang

das Unbegreifliche
nie begriffen
zum Greifen nah

16.11.2008

Philadelphia PH-Wert (2)

Das Rot und das Blau
der Lackmus-Test
im Hotelfenster:
wieviel Base Freiheit
wieviel Säure der Armut

der schwarze Hüne
am Morgen
auf dem Weg
zur Liberty-Hall
lag regungslos
hingestreckt
über dem Heizungsschacht

und schlief nicht

26.11.2008