Glossen 29

In memoriam A.E. (20.9.1930 - 2.8.2009)
Gerrit-Jan Berendse

Mit den Tod Adolf Endlers hat Deutschland einen seiner letzten Surrealisten verloren. Wie einst André Breton und René Char nahm auch er das real Existierende immer überraschend neu wahr, verzerrte es, um unsere Sinne für dasjenige zu schärfen, was nicht direkt sichtbar ist. Wie seine Vorgänger war er aber ebenfalls in der Lage, die Kulturwelt zu seinen Lebzeiten neu zu gestalten. Seine Welt war die DDR, und dort gelang es ihm von den 1960er bis 1980er Jahren – allerdings ohne Manifeste, Großkundgebungen oder sonstige Events – Schriftstellerkollegen und -kolleginnen zusammenzutrommeln, um mit ihnen zusammen damals unerhörte Töne zu Gehör zu bringen. Adolf Endler hatte nämlich die Fähigkeit, seine auch in den Texten ausgestellte unversöhnliche Haltung gegen jegliche Art von Autorität zu verbreiten und gleichzeitig stärkte er den Glauben an die eigene literarische Stimme. Diese missionarische Arbeit setzte er auch nach der Wende fort und leitete von 1991 bis 1998 mit seiner Frau Brigitte Schreier-Endler den Berliner Verein zur Beförderung der Literatur Orplid & Co im Café Clara. 2001 wurde ihm für den Einsatz in der (insbesondere jungen ost-) deutschen Literaturszene das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Davor, also vor der 1989 eingeläuteten Wende, hatte Adolf Endler es bereits geschafft, zum Mentor der "angry young men and women" zu werden, die sich am Prenzlauer Berg einquartiert hatten – unter anderen Bert Papenfuß, Frank-Wolf Matthies, Gabriele Stötzer, Barbara Köhler, Katja Lange-Müller, Andreas Koziol und nicht zu vergessen: Sascha Anderson. Auf diese Weise befreite er viele junge Dichter von der Anonymität, in die die DDR-Kulturpolitik sie treiben wollte. Gemeinsam mit Gerhard Wolfs unzerstörbarem Drang, ihnen Veröffentlichungsmöglichkeiten zu verschaffen, hat Endler wahre kulturelle Rettungsarbeit geleistet. Aber schon viel früher, Anfang der 1960er Jahre, baute er Brücken zwischen verschiedenen, manchmal gar unharmonischen Stimmlagen, zwischen jenen Lyrikern, die sich in oder an der Peripherie des Leipziger Johannes R. Becher-Instituts für Literatur befanden, wo der Lyriker und Dozent Georg Maurer das Maß einer neuen, sprich: modernen Lyriksprache angab.

In keiner anderen Epoche der zeitgenössischen deutschen Kulturgeschichte wechselten sich Schreiben und Polemik, Lob und Verriss, Eigensinn und Feindseligkeit in solch schwindelerregendem Tempo ab wie in den 1960er Jahren auf dem ostdeutschen „Kampffeld Poesie“, auf dem sich Adolf Endler nach seiner Einreise 1955 in die DDR aufhielt. Die meisten Dichter erfuhren diese Zeit der Verhärtung der kulturpolitischen Linie paradoxerweise als eine produktive Zeit. So auch Endler, der nicht nur ein wichtiger Vertreter der damaligen Dichtergeneration war und zusammen mit Karl Mickel als Herausgeber der Anthologie In diesem besseren Land (1966) den neuen Ton angab, sondern gleichzeitig auch ihr produktivster Öffentlichkeitsarbeiter wurde. Er nahm jede Gelegenheit wahr, den innovativen lyrischen Stimmen eine größere Öffentlichkeit zu verschaffen, auch während der sporadischen Reisen ins westliche Ausland, etwa in die Niederlande, wo wichtige Literaturvermittler wie Alexander von Bormann und Gregor Laschen für weitere Verbreitung sorgten. Endler profilierte sich nicht nur als Dichter, sondern spezialisierte sich ebenfalls darauf, die heterogenen Diskurse in den literarischen Modernisierungsprozessen zu ordnen.

Die vielen Essays zur DDR-Lyrik hatten eine Doppelfunktion: sie sollten PR-Arbeit leisten für diejenigen, die noch keine eigene Stimme hatten; gleichzeitig schrieben sie eine alternative Geschichte der durch die Offizialästhetik zu erstarren drohenden DDR-Kultur in der Spätphase des Ulbricht-Regimes. 1978 charakterisierte er das Wirken vieler seiner Kollegen und Freunde – unter anderen von Elke Erb, Sarah Kirsch, Rainer Kirsch, Heinz Czechowski, Richard Leising, B.K. Tragelehn, Karl Mickel und Volker Braun – als kollektives Bemühen, wenigstens im Gedicht den freien Meinungsaustausch auszuleben. Als Bezeichnung dieser der Dialogizität verschriebenen Formation führte er den Terminus der „Dresdner, besser: Sächsischen Dichterschule“ ein. Endlers provokanter Paukenschlag fand allerdings in einer Zeit statt, in der, wie er in seiner 2005 erschienenen Autobiografie Nebbich. Eine deutsche Karriere schreibt, diese Gruppe in Folge des Biermann-Eklats im wesentlichen auseinandergelaufen war oder anfing auseinanderzulaufen.

Weshalb Endler 1955 in die DDR einreiste, ist nicht einmal von ihm selbst ausreichend erklärt worden. Er hat verschiedene Gründe für seine Einwanderung in die DDR angegeben. Einer war das Angebot eines Ostberliner Verlags, er könne eine Anthologie westdeutscher Lyrik herausgeben – ein Unternehmen, das nie realisiert wurde. Ein weiterer Grund war seine Sympathie für die westdeutsche KPD und dadurch die Drohung einer Klage wegen „Staatsgefährdung“ durch die bundesdeutsche Justiz. Im neuen Deutschland hoffte er, ein neues Leben aufzubauen, wollte, wie er einst selbstironisch zugab, zum ostdeutschen Majakowski aufsteigen. Was ihn aber erwartete, war der Einsatz in einem Landgewinnungsprojekt, worüber er im 1960 veröffentlichten Prosaband Weg in die Wische schrieb. 1955 wurde ihm ein Studienplatz am Leipziger Literaturinstitut (später Johannes R. Becher) angeboten, 1967 heiratete er die Lyrikerin Elke Elb, mit der er bis 1978 zusammen war, 1971 wurde Sohn Konrad geboren. In dieser Zeit machte er sich vor allem einen Namen als Dichter und Übersetzer. Die Nachdichtungen aus dem Georgischen, Russischen und Französischen haben Lesern nicht nur fremde Kulturen eröffnet, sondern damit reifte vor allem sein eigenes Schreiben. Nach ein paar, seines Erachtens, misslungenen Produkten seines lyrischen Schaffens erschien 1974 der eigentlich erste ernstzunehmende Gedichtband Das Sandkorn. In diesen Gedichten entfernte er sich zunehmend von verordneten ästhetischen Vorstellungen in der DDR. Diese Devianz machte sich in den über mehrere Lyrikbände verstreuten surrealistischen Gedichten über den „irren Fürsten“ bemerkbar, so wie auch in seinem Selbstporträt aus dem Jahr 1976, das er als Kriminalakte und gleichzeitig ironisch als Kaderakte vorlegte:

1

Wäscht sich oft nicht Zahnausfall Stinkt stark aus dem Rachen/
Auch Schweißfuß Liest die Tageszeitungen auf dem Klo / Aus-
schließlich Hat niemals einen Schwarzen Anzug besessen / Neigt zu
Alleingängen einsamer Pilzsucher Säuft / Wäscht sich nur flüchtig
wenn überhaupt Und (zahlreiche Zeugen) / Hält sich noch nicht
einmal wenn er wieder rumhuren / Zieht (wöchentlich bis zu sieben
Mal) und volltrunken dann / Vor ganz häßlichen Worten über unse-
ren Johannes R / Becher zurück und vor allem dessen Sonettkunst

2

EtceteraetceteraMenschetcetera
Eine Anthologie zweibändig nichts als Bedenken
Ergo das Ganze so etwas wie Pornographie
Und wirklich nur für die privilegiertesten Leser
Charaktere die absolut nichts mehr umschmeißt

Endler wurde 1979 zusammen mit Stefan Heym, Kurt Bartsch, Klaus Schlesinger, Karl-Heinz Jakobs, Klaus Poche, Rolf Schneider, Dieter Schubert und Joachim Seyppel wegen „Devisenvergehens“ aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen – der wirkliche Grund waren ihre Protestschreiben an Erich Honecker. Nach dem Ausschluss ließ Endler sich in den Leipziger, später Ostberliner Subkulturen nieder und konzentrierte sich auf die surrealistische Alternative. 1981 wurde der Sammelband Akte Endler im Leipziger Reclam Verlag veröffentlicht, der 1988 erweitert und neuaufgelegt wurde. Leider erschienen in dieser Zeit zu den DDR-Büchern keine Rezensionen. Weiterhin publizierte er seine Texte in den vielen Kleinzeitschriften, die jede ernstzunehmende Großstadt in der DDR vorzeigen konnte.

„In jenen Jahren war mir die Anthologie des Schwarzen Humors von André Breton zur täglichen Bibel geworden.“ Endler, u.a. als Übersetzer von Breton-Texten und Mitwirkender an der äußerst wichtigen, 1986 von Karlheinz Barck herausgegebenen und im Reclam Verlag erschienenen Anthologie Surrealismus in Paris, nimmt den Surrealismus als alternative Denkwelt an. Durch die Kritik an der Starre des ideologischen bzw. rationalisierten und technokratischen ostdeutschen Alltags bekommen die surrealistischen Motive und Schreibweisen in Endlers Prosa einen gesellschaftspolitischen Impetus. Sie erheben den Untergrund bzw. das Untergründige zwar nicht zur letzten Instanz, wohl aber eröffnen sie wunderbare Welten, die sich in den Zwischenräumen von erfahrener und geträumter Realität situieren. Dort verfremden Wahnvorstellungen und Wahnsinn die festgeschriebenen Ideen und die Vernunft. In der DDR war Endler ein Außenseiter, und das blieb er auch nach der Wiedervereinigung: Er paßte sich keiner Konvention oder Mode an. Die Randexistenz, die er in der DDR führte, wurde aber allmählich eine fiktive, denn alsbald umwarben ihn Verlage wie Suhrkamp und Wallstein, wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen. Jedoch in der Literatur blieb er seiner Außenseiter-Fantasiewelt treu. Darin richtete er sich mit fiktiven Kumpanen wie Bobbi „Bumke“ Bergermann und Bubi Blazezak ungemütlich ein. Das Aussteigen aus den von ihm verhaßten gesellschaftlichen Verhältnissen demonstrierte er mit dem Ausblenden seines eigenen Namens. Die Selbstverleugnung nimmt in seinen späteren Prosatexten groteske Formen an, wenn sein Name sich in Eddi "Pferdefuß" Endler, A.E. verwandelt, und mündet mit Ole Erdfladn, Roald D’Enfer, Dore Elfland, Alfred Nolde und Lea Nordfeld schlussendlich in totaler Travestie. Der Name des Autors, anagrammatisch gebeugt und somit ausgeblendet, ermöglicht eine Vielfalt von neuen Beziehungen zwischen Dichter, Dichterwelt und den real existierenden Verhältnissen. In mehreren Zeitungsinterviews hat der Dichter sich über die Ver- und Zerstümmelung seines Eigennamens ausgelassen: Dass er den Vornamen zum Verschwinden bringen wolle, sei wohl klar, aber „auch noch Endler, was an Endsieg und Ähnliches erinnert“.

Nachdem sich Mitte der 1960er Jahre herausstellte, dass das Projekt, sich mit dem neuen, „kunstfreundlicheren“ Deutschland anzufreunden, gescheitert war und die vielen von ihm angezettelten Diskussionen, wie 1972 in der Akademiezeitschrift Sinn und Form, ausgingen wie das Hornberger Schießen, entstand eine neue Identität, die jetzt in meist phantasmagorische Realitäten aufgesplittert wurde – die offizielle Welt machte Platz für eigens geschaffene, skurrile Dichterwelten an der Peripherie der „Literaturgesellschaft“, in denen Bergermann, Blazezak und die vielen Alter egos ihr Unwesen treiben. Diese Flaneure, die die Stadtbezirke Mitte und Prenzlauer Berg durchquerten, sahen die Stadt als Lustgarten. Der Wechsel zwischen den erkundeten Zwischenräumen, zwischen dem real bzw. ideal existierenden Sozialismus und den Alltäglichkeiten in der Subkultur macht Endlers Prosa einmalig. Endlers originale Prosa, die in den Bänden Tarzan am Prenzlauer Berg (1984), Schichtenflotz (1987) und Vorbildlich schleimlösend (1990) nachzulesen sind, bieten ein Wechselbad aus Tristesse und Karneval. Diese Symbiose lobte Wolfgang Hilbig 1995 mit den Worten: „Jedesmal, wenn man was von Dir liest, glaubt man, man müsse sich augenblicklich totlachen. Doch dann merkt man plötzlich, daß man schon tot war und daß man sich wieder lebendig gelacht hat.“

1999 krönte der Suhrkamp Verlag und sein Lektor Thorsten Ahrend Endlers deutsche Karriere mit der Veröffentlichung des Bandes Der Pudding der Apokalypse, in dem sein gesamtes lyrisches Œuvre gesammelt wurde. Unter Lyrikern aus Ost und West wurde ihm ein Ehrenplatz in der Galerie deutscher Dichter eingerichtet: Angesichts der Fülle lyrischer Endler-Porträts kann sich der Lyriker nicht über Ignoranz beklagen.

Endlers eigene Porträt- und Widmungsgedichte galten nicht nur der Gilde der "Sächsischen Dichterschule", sondern ebenfalls später der von ihm einst so genannten „Prenzlauer Berg connection“. Im offensichtlichen Drang, die mehrstimmigen Minoritäten in der „Literaturgesellschaft“ zu erkunden, verheimlicht er nicht seine Favoriten. Die letzte Strophe in "Nachruf für N.N.", ein Gedicht, das ursprünglich Uwe Greßmann galt, ist exemplarisch, weil sie den lyrischen Dialog mit Kollegen, lebenden oder toten, als Endlers größte Qualität unterstreicht:

Soll ich verschweigen
Daß ich ihn vermiß?
Und verberg rasch die Urne
Ich hab was gesehn
Die Urne hat einen Riß


Anfang des 21. Jahrhunderts wird "Die Urne" erneut besungen, die jetzt aber den Namen des Dichters trägt. Endler strebt Unsterblichkeit an und bekennt sich zur Fortsetzung eines lyrischen Dialogs, den er einst selber initiiert hat. Der „Riß“ schließt sich so bald nicht.

Grüß’ Gott!, rief ich, Tach!,
Als ich sie herbeitorkeln sah,
Die aparte graugelbe Urne „A.E.“;
Und, wie jeder sich denken kann,
Nicht ganz ohne mißlichen Riß
Dieses Dings –
„You’re welcome!“



Zuerst erschienen am 4.8.2009 in der Berliner Zeitung und im Neuen Deutschland.