Glossen 29

"Ich möchte ein anderer werden als die anderen gewesen sind." Peter Handke: Don Juan (erzählt von ihm selbst) (2004)
Barbara Potthast

Die Kritik

Die sonst so lebhafte literaturwissenschaftliche Forschung zum Werk Peter Handkes hat seine im Jahr 2004 erschienene Erzählung Don Juan (erzählt von ihm selbst) mit bemerkenswerter Zurückhaltung aufgenommen. Neu erscheinenden Texten des produktiven Handke wird für gewöhnlich große Aufmerksamkeit zuteil – sowohl von akademischer wie von feuilletonistischer Seite. Die feuilletonistische Kritik in Tageszeitungen und Rezensionszeitschriften findet in diesem Fall durchweg lobende, nicht selten auch begeisterte Worte. Dagegen weiß die akademische Literaturwissenschaft offenbar wenig mit dieser Erzählung anzufangen, denn fünf Jahre nach der Veröffentlichung von Don Juan (erzählt von ihm selbst) liegt nur eine Einzeluntersuchung vor.[1] Die Erzählung steht ganz im Schatten von Handkes aufsehenerregenden literarischen Stellungnahmen zum Serbien-Konflikt, um die bis heute öffentliche Kontroversen geführt werden.

Der erwähnte literaturwissenschaftliche Beitrag stammt von Beatrix Müller-Kampel, einer der besten Kennerinnen der Geschichte des beinahe vierhundert Jahre alten Don Juan-Stoffes, der zu den machtvollsten der Weltliteratur gehört, in geschätzten dreitausend Variationen vorliegt und es zu einigen Bibliographien und einem eigenen, voluminösen Wörterbuch gebracht hat (Pierre Brunel: Dictionnaire de Don Juan. Paris 1999).[2] Müller-Kampel findet Handkes Erzählung „schal und banal“, wie sie bereits im Titel ihres Aufsatzes kundgibt.[3] Sie argumentiert mit der Wucht der weltliterarischen Tradition des Frauenverführers Don Juan, mit den großen Namen Tirso de Molina, Molière, Mozart/ Da Ponte, Baudelaire, Rilke, Benn, Kierkegaard, Camus, Shaw, Horváth, Anouilh etc. etc. Die Literaturwissenschaftlerin nimmt Handkes Text, wie sie selbst sagt, „im Licht der Tradition“ wahr und kommt zu dem Befund, dass es sich hier um nichts als eine Melange von bereits sattsam bekannten und verarbeiteten Motiven handelt. Als Souveränin der Stoffgeschichte kann sie für Handkes Prosabändchen nicht mehr als Verachtung aufbringen. Der Dichter erspare seinem Helden in der Erzählung zwar den üblichen strafenden Tod, für Müller-Kampel ist es aber „der Autor selber, der dem Don sein Grab gräbt.“ Am Ende ihrer Analyse bilanziert sie:

vom Leseertrag, Leseerlebnis, Lesegenuß her auch nichts, was nicht schon klüger und stärker, schöner und erotischer in früheren "Don-Juan"-Fassungen formuliert worden wäre. […] Das immer schon Banale an jedem Don Juan wird weder reflektiert noch komisiert und schon gar nicht kritisiert, sondern stelzt weise als Philosophie des machtvollen Schauens, des Gebots, der Flucht einher.[4]

Dass die Feuilletonkritik eine hierzu ganz entgegengesetzte Position einnimmt, ist interessant und womöglich mit der sprichwörtlichen Polarisierung, die seit seinem Princetoner Auftritt 1966 von Handke und seinem Werk ausgeht, nicht hinreichend zu erklären.

Die Literaturkritiker urteilen unbelastet von stoffgeschichtlicher Gelehrtheit, sie messen Handkes Erzählung zunächst an sich selbst -- mit einem erstaunlichen Ergebnis. Während der Text vom akademisch-gelehrten Standpunkt aus in der hochkarätigen Tradition der Don Juan-Figur offenbar unterzugehen und sich aufzulösen droht, mehr noch, mit seiner „Banalität“ die grandiose Stoffgeschichte geradezu zu beenden scheint, kehren die Literaturkritiker das Verhältnis zwischen Handkes Vorgängern und ihm selbst kurzerhand um. So schreibt Bernhard Setzwein 2004 im Passauer Pegasus, einer etablierten Zeitschrift für Literatur und Literaturkritik:

Um die Magie des Erzählens geht es auch in diesem Handke-Buch, Don Juan … oder genauer noch: die ungeheure Don-Juan-Rezeption war gewissermaßen nur eine Versuchsanordnung (läßt sich über Don Juan auch in Handke-Art erzählen?), und das Ergebnis wird zum Triumph für den Erzähl-Magier Handke. Er darf mit Recht, mit seinem! Recht behaupten: ‚Das ist, sage und schreibe, die endgültige und wahre Geschichte Don Juans.[5]

Iris Radisch schlägt in ihrer Lobeshymne auf Don Juan (erzählt von ihm selbst) vergleichbare Töne an; wie Setzwein versteht sie Handkes Don Juan-Erzählung als Gipfelpunkt aller bisherigen Versionen und Bearbeitungen, die sich an seinem Text messen müssen – nicht umgekehrt:

Aber wer glaubt, es könne Handke daran gelegen sein, eine Figur auf dem Schachbrett der Weltliteratur um ein paar Felder zu verrücken, unterschätzt seine Unbescheidenheit. […] Die Frage lautet nicht: Was fügt Handke der großen Don-Juan-Figur hinzu?, sondern: Was fügt Don Juan dem großen Erzählprojekt des Peter Handke hinzu?[6]

Dass Handkes Werke kontrovers aufgenommen werden und polarisierend wirken, ist -- wie gesagt -- nichts Neues und begleitet den Dichter seit seinen frühen Anfängen. Dennoch gibt die Rezeption seiner Don Juan-Erzählung Anlass zum Nachdenken und Nachfragen, und dies umso mehr, als bereits mit dem Titel Don Juan (erzählt von ihm selbst) ein neues Kapitel in der Rezeptionsgeschichte der Don Juan-Figur aufgeschlagen scheint. Bisher, so wird durch den zugleich rätselhaften und anmaßend scheinenden Titel unterstellt, wurde über Don Juan geschrieben und erzählt, nun spricht er endlich selbst.

Der Stoff

Die literarische Figur Don Juan steht für einen Typus, der älter ist als seine Stoffgeschichte. Skrupellose, unwiderstehliche Frauenverführer mit der ständigen Lust an neuen Eroberungen gab es seither, als Satyrn, Faune und Bewohner von Sodom und Gomorrha. Don Juan ist so alt wie die Menschheit und besitzt zeitlose Faszination. Obwohl die zahllosen Variationen des Stoffs ihn als geschlossenen Sinnzusammenhang zunächst in Frage zu stellen scheinen, bleibt doch durch die Epochen ein Grundmuster der Figur erhalten: in Don Juan verbindet sich Lust an Sexualität und Leben mit Zerstörungstrieb und Lebensangst – Angst vor dem göttlichen Gericht, vor bürgerlichen Moralkonventionen, vor Frauen, vor der eigenen, inneren Natur. Innerhalb dieses Rahmens entfaltet sich ein weites Spektrum von Deutungen und Projektionen: Don Juan erscheint als Sünder und Ordnungsstörer (de Molina), als zynischer Intellektueller (Molière), als Erotomane (Da Ponte/ Mozart), Dämon (Verlaine), Idealsucher (Grabbe, Horváth), Genie (Kierkegaard), Schwächling (Broch), als Psychopath, Sadist, als Anti-Tristan, Bruder des Faust oder Jedermann, als Blaubart, Dandy oder Playboy.[7]

Seinen Anfang nahm alles mit Tirso de Molinas El burlador de Sevilla y convidado de piedra,[8] einer im Spanien des Siglo de Oro beliebten, tragikomischen "Comedia de ruido", in der sich volkstümliche mit klassischen und religiösen Elementen verbinden. In diesem Stück betrügt Don Juan eine Frau nach der anderen, angetrieben nicht nur von erotischem Begehren, sondern auch von der Lust, gegen moralische und politische Ordnungen zu verstoßen, sie zu verlachen und zu verspotten (das spanische Wort "burlador" bedeutet "Spötter"). Daher wird sein Lebenswandel irgendwann zur Staatsaffäre, mit der sich niemand Geringeres als der König zu beschäftigen hat. Am Ende ereilt den Sünder, der in letzter Sekunde bereut und beichten will, die gerechte Höllenstrafe. Der Vater Doña Annas, einer von Don Juan getäuschten und entehrten Adligen, war vom Verführer seiner Tochter erstochen worden und erscheint nun als rächendes steinernes Standbild. Bei einem Gastmahl in der Grabkapelle reicht es dem Mörder die Hand, worauf Don Juan von einem höllischen Feuer verbrannt wird. Das göttliche Gericht bestätigt die absolutistische Weltordnung mit ihrer religiösen Moral – und doch bleibt am Ende des Stücks der Eindruck von der gewaltigen zerstörerischen Vitalität des bestraften Helden.

Bereits in Molières etwa fünfzig Jahre später [9] im Théâtre du Palais Royal uraufgeführter Komödie Dom Juan ou Le festin de pierre zeigt sich deutlich die Modernität des ursprünglich religiösen Stoffes. Es ist nicht sicher, ob Molière diesen durch Tirso de Molinas Stück oder durch andere zeitgenössische Bearbeitungen kannte, in jedem Fall weicht das Lustspiel des Franzosen im Handlungsverlauf nur wenig von Molinas "comedia" ab. Dennoch ist die Aussage eine gänzlich andere. Molières Don Juan geht es noch weniger um den Liebesgenuss, ihn treibt der Reiz der immer wieder neuen Eroberung. „Et tout le plaisir de l’amour est dans le changement“,[10] sagt der zynische Libertin und vergleicht seinen Ehrgeiz nach Siegen und Eroberungen mit dem Alexanders des Großen. Er verführt raffiniert die Frauen, und auch Männern begegnet er mit Verstellung und Heuchelei, dabei wohl wissend, dass er damit den aristokratischen Verhaltensregeln seines Zeitalters folgt. Molières Held glaubt nicht an die Liebe und nicht an Gott, er ist rationalistisch und intellektuell: „Je crois que deux et deux sont quatre, Sganarelle, et que quatre et quatre sont huit.“[11] Am Ende fährt Don Juan, ohne zu bereuen, in die Hölle ein.

Auch die Dienerfigur gestaltet Molière komplexer und moderner als vorher. Seinem Herrn stellt er Sganarelle an die Seite, keinesfalls dümmer und weniger faszinierend als Don Juan, zerrissen zwischen Bewunderung, Hass, Angst und offener Kritik gegenüber seinem adligen Brotgeber. Ihm, dem Mann aus dem Volk, gehören die letzten Worte der Komödie, die dadurch eine politische Perspektive erhält, welche modern und tiefernst ist. Der Diener Sganarelle betrauert nach der Höllenfahrt Don Juans nicht dessen Verlust, sondern klagt als Repräsentant des ausgebeuteten Standes laut darüber, dass er nach dem Tod seines Herrn seinen Lohn nie mehr bekommen wird: „Ah! mes gages, mes gages! Voilà par sa mort un chacun satisfait […] Il n’y que moi seul de malheureux. Mes gages, mes gages, mes gages!“[12]

Bereits hier, bei den Don Juan-Dramen des 17. Jahrhunderts, zeigt sich die besondere Eigenart dieser Stoffgeschichte. Molière schließt eng an die bekannten Stücke an und schreibt damit die Tradition des Stoffes fort. Andererseits negiert er die Tradition, indem er sich mit seiner Bearbeitung gegen die staatstragende, moralisch-religiöse Aussage seiner Vorgänger stellt. Molières Dom Juan steht nicht für sich, sondern nimmt Bezug auf seine Vorläufer und erst durch diesen Bezug wird die Radikalität seines Stücks in ihrem ganzen Umfang verständlich. Die Zeitgenossen sahen das deutlich: Staat und Kirche gingen gegen die Komödie vor, die zu Lebzeiten ihres Verfassers nur wenige Male aufgeführt werden konnte.

Es ist nicht bloß die simple Geschichte von serieller Verführung, verzweifelten Frauen, vorwitzigem Diener, strafendem Komtur und finaler Höllenfahrt, die für die Faszination des Stoffes und der Figur verantwortlich zu machen ist. Zwar besitzt diese Konstellation von Figuren, Handlung und Problemen mythische Qualitäten wegen ihrer starken Affekte und elementaren Lebenssituationen wie Sexualität und Tod, auch bietet der einfache Schematismus vielfältige Möglichkeiten zur Variation. Doch die Figur des immer erfolgreichen und nie ermüdenden Verführers Don Juan bleibt bis ins 19. Jahrhundert eher schemenhaft und schematisch; ob sie allein den entscheidenden Grund für das bis heute nicht zum Stillstand gekommene Fortschreiben der Tradition darstellt, soll hier bezweifelt werden. Andererseits ist das hohe und höchste literarische Niveau vieler Don Juan-Dichtungen, das von Anfang an mit Molina und Molière da war, nicht zu übersehen. Es setzte sich fort mit Texten von Dichtern wie Flaubert, Balzac, Baudelaire, Rilke, Puschkin, Anouilh und zahlreichen weiteren. Der Reiz, sich als Dichter der Figur des Don Juan anzunehmen, ist daher nicht nur in der Auseinandersetzung mit einem weithin bekannten Typus und seiner Geschichte zu sehen, sondern er liegt auch in der Positionierung gegenüber einer immer länger werdenden Reihe von hochkarätigen Vorbildern. Wer über Don Juan schreibt, schreibt sich in ein Kapitel der Weltliteratur ein und muss die Folgen tragen.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. Es spricht einiges dafür, dass es sich hier um einen Stoff der Weltliteratur mit besonderem poetologischen Akzent handelt. Die literarische Don Juan-Tradition zeichnet sich, verglichen mit anderen großen Stoffen der Weltliteratur aus Mythologie, Religion, Historie, Volksbuch und Sage durch ein hohes Maß an Binnenreferenzen auf. Zum Schreiben über Don Juan gehört seither das Spiel mit Verweisen auf frühere literarische Texte, die von ihm handeln. Im einzelnen Text sind die vorangehenden häufig lesbar, freilich nur für den, der sie kennt und der mit der literarischen Tradition Don Juans vertraut ist. Je kunstvoller der Text, desto kunstvoller und subtiler auch die Anspielungen. So bildet sich der Don Juan-Stoff nach und nach nicht nur durch die Kontinuität seiner Figur und deren Geschichte zu einem (unabgeschlossenen) Ganzen, Kohärenz entsteht auch durch reiche, raffinierte Anspielungen auf frühere literarische Texte, durch Kommentare, Bezüge, Verweise. In diesem Sinn stellt Don Juan seinen Bearbeitern eine poetische und poetologische Aufgabe zugleich. Das Schreiben über Don Juan ist mit der Reflexion des poetischen Schreibens eng verbunden. Dieser theoretische Zug des Stoffes zeigt sich auch in einer Anzahl berühmter theoretisch-philosophischer Abhandlungen über die Figur -- von Stendhal, Kierkegaard, Ortega y Gasset, Shaw, Bloch, Camus u. a.

Dass zwischen den von Don Juan handelnden Dichtungen enge Binnenbezüge bestehen, zeigt sich auch in einer der Stoffgeschichte innewohnenden Tendenz zur Antithese. Bereits der bloße Stoff besitzt vielfältige Möglichkeiten der Verkehrung durch seine Polaritäten Mann - Frau, Diesseits - Jenseits, Schuld - Sühne, Lebenslust - Todesstrafe, Liebe - Hass, Adel - Volk etc. Die Entwicklung der Don Juan-Figur im Laufe von vier Jahrhunderten verdeutlicht allerdings noch etwas anderes: es ist auch die literarische Autorität vieler Bearbeitungen, welche die Nachfolger zum Widerspruch herausfordert. Ein poetisches Sich-Behaupten, ein Kräftemessen kann es nur geben, wenn die Vorbilder negiert und überwunden werden, freilich bei gleichzeitiger Akzeptanz oder sogar Bewunderung von deren Größe. Eine Tendenz zur Negation ist bei aller Variabilität und Vielgestaltigkeit des Stoffs in seiner Geschichte unverkennbar. Dies soll in einem kurzen historischen Längsschnitt gezeigt werden.

Die Frühe Neuzeit versteht Don Juan noch ganz als Frauenverführer und Gotteslästerer, gestaltet ihn als schematische Figur ohne Tiefe. So bleiben etwa die Gründe für seine große Verführungsleidenschaft unbekannt. In dieser Epoche ist die Figur im Konflikt mit Machtordnungen, moralischen, religiösen, politischen. Aktion und Handlungskonflikte dominieren, man favorisiert die Dramenform. Erst im 19. Jahrhundert wird die Figur einer Psychologisierung unterzogen: man differenziert und analysiert Don Juans Gefühle und Motivationen. Libido und Vitalität werden als Kehrseite von seelischen Nöten erkennbar, von Verdrängungen, Sublimierungen, Gewissensängsten und Selbstzweifeln. Indem sich das 19. Jahrhundert für Don Juans Denken und Fühlen interessiert und die innere Handlung nun die äußere dominiert, wählt man andere Gattungen wie Roman, Novelle und Gedicht. Der steinerne Gast als Repräsentant einer normativen Gerechtigkeit verschwindet in dieser Epoche, Don Juan wird, wie Beatrix Müller-Kampel schreibt, zum „Steinernen Gast seiner selbst“.[13] Im Fin-de-siècle avanciert Don Juan als Dandyfigur zum Modeideal – frivol und promiskuitiv, aber auch desillusioniert und lebensüberdrüssig. Die Krise der Männlichkeit im 20. Jahrhundert verschont auch ihn schließlich nicht, der Jäger der Frauen wird nun zu ihrer Beute. Ein Rollentausch findet statt, denn die Frauen, bisher von ihm ins Elend gebracht, stellen jetzt ihrerseits Don Juan nach, verführen und benutzen ihn. Er selbst ist nun von seiner alten Form und Potenz weit entfernt – als Kriegsheimkehrer (Horváth) oder Technokrat (Frisch).

Erzähler, Zuhörer und Erzähler

Dass Peter Handke sich für den großen Verführer und Prominenten der Weltliteratur interessieren könnte, erscheint zunächst wenig naheliegend. Handkes Helden umgibt für gewöhnlich weniger Glanz, es sind nachdenkliche Figuren des Alltags, Monteure, Mütter, Hausierer, Lehrer, manchmal handlungsgehemmt und nicht selten auf der Suche. Eines von Handkes ersten Theaterstücken stellt allerdings eine aus Historie und Literatur bekannte Figur ins Zentrum, Kaspar Hauser. Handkes Kaspar, uraufgeführt 1968, bricht mit den Erwartungen an das, was aus Quellen und Darstellungen über die Figur bekannt ist. Die Vorrede beginnt mit folgendem Satz: „Das Stück Kaspar zeigt nicht, wie ES WIRKLICH IST oder WIRKLICH WAR mit Kaspar Hauser. Es zeigt, was MÖGLICH IST mit jemandem.“[14] In Kaspar geht es nicht um die überlieferte Handlung, das Stück ist nicht illusionistisch, es wird kein Geschehen vorgeführt. Im Zentrum steht die Frage nach der Identität Kaspars, bezeichnenderweise aber ohne Bezug auf seine Lebensgeschichte, in welcher die Identität ja auch rätselhaft bleibt. Gezeigt wird ein experimentelles theatralisches Spiel, in dem unsichtbare Einsager Kaspar durch Sprache manipulieren. Seine Suchbewegung nach einer Identität wird durch die Ordnungshierarchien der Sprache gelenkt. Dass damit nicht nur die Rede der erzieherischen Einsager gemeint ist, sondern zugleich die kulturelle Tradition, die der Sprache zugrundeliegt, wird von Anfang an deutlich. Handke läßt Kaspar nach einigen unsicheren Bewegungsversuchen einen ersten Satz sprechen, der historisch belegt ist: „Ich möcht ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist.“ Er wiederholt diesen Satz endlose Male mit unterschiedlichem Ausdruck und richtet ihn auch an Gegenstände auf der Bühne, bis schließlich die Stimmen der Einsager auf ihn einzureden beginnen. Handkes Kaspar transzendiert seine konkrete Vorgeschichte. Das Stück fragt in einer Versuchsanordnung nach dem Verhältnis von persönlicher Identität zu Sprache, Kultur und Geschichte in ihren Herrschaftsfunktionen. Gerade deshalb bleiben die Erzählungen über Kaspar Hauser außen vor. Interessant ist die historische Figur für Handke in ihren bloßen Umrissen, nur so kann ein experimentelles Spiel über Möglichkeiten von Identität stattfinden. Gleichzeitig ist die Begrenztheit der Möglichkeiten von Anfang an deutlich, denn die Spielfigur Kaspar ist von ihren Vorbildern und Vorgängern nicht zu lösen, will sein „wie einmal ein andrer gewesen ist“.

Dass auch die wesentlich später entstandene Erzählung die Frage nach der Identität ihres berühmten Helden stellt, legt bereits der eingeklammerte Zusatz zum titelgebenden Namen nahe: „(erzählt von ihm selbst)“. Wie bei Kaspar Hauser geht es auch bei Don Juan von Anfang an um die Möglichkeiten einer bekannten Figur jenseits von Festschreibungen, seien sie nun historisch oder literarisch-fiktiv. Ist Kaspar Hauser für einen derartigen Versuch prädestiniert, weil seine Herkunft unbekannt und er ohne kulturelle Prägung ist, so qualifiziert sich die schillernde Don Juan-Figur umgekehrt durch ihre zahllosen, auch widersprüchlichen Gesichter aus einer überreichen Stofftradition. In beiden Fällen gehört für Handke zum literarischen Erproben solcher Möglichkeiten der Vorbehalt gegenüber Handlung.

Auch in seinem Prosastück über Don Juan ist die äußere Handlung gegenüber inneren Vorgängen zurückgestellt. „Bemerkenswert vielleicht“, schreibt der Erzähler, „daß Don Juan, wenn in seiner Geschichte überhaupt Aktionen vorkamen, von ihnen bloß schnell Bericht erstattete, während er zu den inneren Begebenheiten und Verwicklungen immer wieder ziemlich ausführlich Luft holte.“[15] Die amourösen Abenteuer Don Juans stehen keinesfalls im Zentrum, vielmehr werden sie von Mal zu Mal kürzer und beiläufiger behandelt.[16] In der Begegnung mit den Frauen sind die inneren Erfahrungen und Erlebnisse der Beteiligten wichtig, kaum jedoch das, was getan wird. Immer wieder fehlen in Don Juans Geschichte Einzelheiten oder die Abschlüsse von Episoden; Aktionen, insbesondere die des Helden, werden ausgelassen oder in verneinter Form beschrieben.[17] Statt der Erzählung von Handlung ist der Vorgang des Erzählens wichtig, wie bereits der erste Satz des Textes andeutet: „Don Juan war schon immer auf der Suche nach einem Zuhörer gewesen.“[18]

Die Erzählung des Helden wird mehrfach vermittelt, was die Aufmerksamkeit auf das Erzählen selbst lenkt. Dazu gehört auch, dass Don Juans Zuhörer die Geschichte vorträgt und so – anders als der Titel von Handkes Prosatext erwarten läßt -- zum eigentlichen Erzähler wird. Darüber hinaus hatte Don Juan seinem Zuhörer die eigene Geschichte vorher nicht in der Ich-Form, sondern in der dritten Person erzählt, was auch zu seiner Distanzierung vom Erzählten beiträgt. Dasselbe gilt für die Verwendung des Pronomens „man“ statt „ich“, die sein Zuhörer als Ausdruck der selbstverständlichen Allgemeingültigkeit von Don Juans Erleben deutet.[19] Er, der Zuhörer, spricht in der Ich-Form und erhebt dabei nicht den Anspruch, Don Juans Rede authentisch wiederzugeben. Er stellt sich vielmehr als Mit-Erzähler neben Don Juan, wenn er über die Vermittlung von dessen Geschichte bemerkt: „So kommt sie mir jetzt jedenfalls in den Sinn.“[20] Doch der Zuhörer ist nicht nur ein Alter Ego Don Juans: indem er namenlos bleibt, stellt er auch eine Art Antagonist von demjenigen dar, dessen Name seit Jahrhunderten in aller Munde ist.

Der Zuhörer des großen Verführers ist ein Wirt und Koch, der früher eine Gaststätte und Herberge im Pförtnerhaus der Ruinen des Klosters von Port Royal des Champs südwestlich von Versailles betrieb.[21] Als er dort Don Juan begegnet, ist er in einer schwierigen Phase seines Lebens. Seit längerem bleiben ihm die Gäste aus, er bewohnt nun selbst die wenigen Gästezimmer der Herberge und lebt zurückgezogen von seinen Nachbarn. Er meint, als Geschäftsmann und Nachbar versagt zu haben, pflegt Küche, Haus und Garten nicht mehr, geht stattdessen spazieren und betrachtet das Wachsen und Verkümmern um ihn herum. Auch das ein Leben lang betriebene Lesen bedeutet ihm in dieser Zeit nicht mehr viel.

An einem klaren Tag im Mai stürmt der fliehende Don Juan über die Mauer in den Garten des Portierhauses. Bereits das erste Erscheinen des Helden bringt der Koch in seiner Erinnerung in enge Verbindung zum Lesen und zur schönen Literatur. Dessen Kommen, so bemerkt er nämlich, „ersetzte mir mein Lesen.“[22] Wie das „selige Lesen“ so sei die Ankunft Don Juans für ihn etwas gewesen, welches das Innere erweitere und entgrenze. Den Ankömmling vergleicht er mit anderen Helden der Weltliteratur, mit so verschiedenen Figuren wie Raskolnikoff, Kommissar Maigret und Lanzelot, deren Geschichten in unterschiedlicher Weise von Liebe, Schuld und Verbrechen handeln. Als letzten in der Aufzählung nennt der Koch Fürst Myschkin, Dostojewskis aufrichtigen, gutherzigen "Idioten", der nicht anders kann als in der Welt unschuldig schuldig zu werden – ein ungewöhnlicher Vergleich mit dem Erzbetrüger und Mörder Don Juan. Der scheint von Anfang an weniger für seine individuelle Geschichte als für das Lesen und für Literatur schlechthin zu stehen; deshalb braucht er einen Rezipienten (Zuhörer),[23] deshalb erzählt er episch in der dritten Person und nicht wie der beichtende Sünder oder Memoirenschreiber in der Ich-Form. Besonders auch im Fehlen der "pikanten Einzelheiten" sieht Don Juans Zuhörer die überindividuelle Bedeutung von dessen Erlebnissen.[24] Sein Kommen formuliert der Koch nicht wie das eines Menschen, sondern wie das Erscheinen eines Buches oder Textes: „Schon daß es um 'Don Juan' ging, […] empfand ich als einen befreienden Luftstoß.“[25]

Zeit und Raum

Die Geschichte von Don Juan ist Teil der Erzählung des Kochs und verbindet sich eng mit ihr, ja sie geht in ihr auf. Diese Synthese wird unterstützt durch ein spezifisches Verhältnis des Erzählens zu Raum und Zeit. Der Raum, durch den sich die Figuren in der Erzählung oder erzählend bewegen, ist aufs engste mit Zeitphänomenen verbunden. Es beginnt mit der bloßen Disposition: Don Juan fängt am Abend des ersten Tages damit an, seinem Zuhörer von seinen Erlebnissen zu berichten, des ersten Tages einer Woche, die er als Gast in dessen Herberge verbringt. Er bleibt sieben Tage in Port Royal und erzählt an jedem Tag von dem eine Woche zurückliegenden Tag. Diesem strengen Zeitrhythmus entspricht ein Bewegungsrhythmus, denn an den sieben vergangenen Tagen, von denen der reisende Held berichtet, war er an sieben verschiedenen Orten, jeden Tag an einem anderen. Don Juan zieht durch die Welt, vom Kaukasus nach Syrien, Nordafrika und Europa. Erzählt wird nur von den Stationen selbst, wie er dorthin reist und die Entfernungen bewältigt, bleibt ohne Erwähnung. Merkwürdig ist, dass alle sechs Landschaften, die er Tag für Tag nach seiner Ankunft in Tiflis wahrnimmt, der Landschaft dort „auf die eine und die andere Weise“[26] gleichen: hügeliges, zerklüftetes Vorgebirgsland, sandige Dünenlandschaft mit kräftigem Wind. Deshalb beschreibt Don Juan diese Gegend nur am ersten Tag, danach nicht mehr. Überhaupt wird auf die weiteren Orte – ein Dorf im Südkaukasus, eine Abrissgegend hinter der Großen Moschee von Damaskus, die Zitadelle und die Fährstation von Ceüta, ein norwegischer Fjord, eine holländische Düne und eine Gracht – zunehmend weniger Aufmerksamkeit gelegt. Die siebte Station der Reise bleibt ebenso namenlos wie die letzte, sechste Frau, die Don Juan dort trifft (und von der er nicht genau zu sagen vermag, ob es die sechste oder die siebte ist). Am siebten Tag weiß er nicht, wo er ist und auch nicht, wie er dorthin kam.

Während Don Juan seinem Zuhörer, dem Koch, von seinen Erfahrungen und Erlebnissen an sieben verschiedenen Orten der Welt erzählt, halten sich beide nicht immer in Haus und Garten auf: „Tagsüber durchstreiften wir die Gegend, bewaldete Bachtäler und Neustädteplateau.“[27] Sie unternehmen Wanderungen und Ausflüge durch die Gegend um Port Royal, eine zerklüftete Ebene, von Wasseradern durchzogen, aber auch von einem dichten Straßennetz. Don Juan läuft dabei rückwärts. Die Bachtäler sind bewaldet, die Höhen des Plateaus bebaut mit Siedlungen, Büro- und Industrieanlagen, darunter auch das Atomzentrum von Saclay. Don Juans Gastgeber empfindet eine enge Verbindung zwischen der Landschaft um seinen Wohnort und der Geschichte, die ihm Don Juan berichtet, mehr noch, die Landschaft um seinen Wohnort erscheint ihm der richtige, angemessene, naheliegende Ort für die Erzählung seines Gastes:

Ich hole hier nicht nur deswegen so weit aus, weil mir das Gefilde im Umkreis des Port-Royal-Trümmerhaufens ans Herz gewachsen ist, sondern auch, weil ich mir in ihm die richtige oder mögliche, jedenfalls die sich aufdrängende Örtlichkeit für die Geschichte jetzt, für etwas von jetzt oder überhaupt für jetzt einbilde, so wie das vielleicht einmal die verlassenen Mauern der italienischen Fabrikvorstädte für die Filme Antonionis waren und die sandstrahlbenagten Inselberge des amerikanischen Monument Valley für die Western von John Ford.[28]

In verschiedene Richtungen unternehmen die beiden ihre Wanderungen und Ausflüge. Nicht immer führt sie ihr Weg über Land, so besuchen sie in Trappes ein Kino und schauen sich einen Liebesfilm an. Auf ihren Touren nehmen die beiden Männer die Region um Port Royal als einen Raum wahr, der von moderner Schnelligkeit und Technologie ebenso geprägt ist wie von den langsamen, fast zeitlos scheinenden Abläufen der Natur. Beides ist in dieser Landschaft in unmittelbarem Nebeneinander zu erfahren:

An einem zweiten Tag wanderten wir in die Gegenrichtung ostwärts, zum Plateau von Saclay, wo wir das Atomzentrum dort von Polizei-, Feuerwehr- und Ambulanzwagen umlagert fanden, bei ständigem plateauweiten Alarmschrillen. Zugleich schauten wir zu, wie in einem Erdloch zu unseren Füßen zwei Eidechsen sich reglos paarten, und darüber in der Luft zwei Eintagsfliegen, ineinander verhakt, im Taumelflug. [29]

Die taumelnden Eintagsfliegen kontrastieren mit der dauerhaften Zerstörungskraft der Atomtechnologie und stehen – unmittelbar neben dem Sinnbild modernen technologischen Fortschritts -- für ein anderes Zeitsystem, ein Zeitsystem des Innehaltens, des Stillstehens und der Gegenwärtigkeit. Zugleich verweisen Eidechsen- und Eintagsfliegenpaar in diesem Moment, als die Zeit still zu stehen scheint, auf Don Juan und seine Erfahrungen mit Frauen, denn auch mit ihnen tritt der Held in eine andere Zeitdimension ein. Don Juan ist mit jeder Frau, die er trifft, gleichzeitig. Er und die Frau haben, sind sie zusammen, einen übereinstimmenden Zeitsinn, sind immer simultan, und zwar in Handlungen, Gebärden und Wendungen. „Die Frau [traf] ihren Zeitgenossen“, so formuliert es der erzählende Koch. Die Zeit mit den Frauen, die Frauenzeit, erlebt Don Juan darüber hinaus – wie die Eintagsfliegen -- als ein Innehalten. Es gibt dann kein Zählen mehr, keine Zahlen und nichts, was in Zahlen ausgedrückt werden könnte. Deshalb sind die Entfernungen der bereisten Orte für Don Juan ebenso bedeutungslos wie deren Anzahl oder die Anzahl der Frauen, deshalb ist sein Unterwegssein „ein ständiges Ankommen“. Der Zustand des Innehaltens ist für den Helden wie ein Schutz:

Frauenzeit hieß wieder und wieder: Man hatte Zeit. War in der Zeit. Eingespielt in die Zeit. Sie spielte einem in einem fort auf, auch im Schlaf. Und man spürte sie pulsen und einem einheizen bis in die Fußballen und in die Fingerkuppen. Nicht bloß geschützt wußte man sich von jener Art Zeit, vielmehr darüber hinaus von ihr getragen und in der Folge, statt gezählt, von ihr erzählt. Für solche Zeit lang erlebte man sich aufgehoben und weitergegeben im Erzähltwerden.[30]

Zählen und Erzählen

Wenn man „in der Zeit ist“, ist man geschützt vor dem Gezähltwerden. Vielmehr „wird man erzählt“, „von der Zeit erzählt“. Das Erzählen schafft eben jenen Zustand des Innehaltens, der auch in der Liebesbegegnung herrscht. Handkes Don Juan ist auf der Suche nach diesem Zustand; er läßt sich auf die Frauen ein, um in ihn zu geraten. Über der Affinität zu den Frauen steht der Drang Don Juans nach einem anderen Zeiterlebnis als dem der gezählten, gemessenen, rationalisierten Zeit: Augenblicke statt Sekunden.[31] Schon früh im Text bemerkt der Koch, als er auf Don Juan zu sprechen kommt, dass dessen erklärtes Ziel darin lag, Herr seiner Zeit zu sein. An späterer Stelle heißt es: „Und die Zeit war für Don Juan ein Problem, das Problem.“[32] Wenn er nicht Herr seiner Zeit ist, was von einem Augenblick zum anderen geschehen kann, verfällt er in eine wohlbekannte Unruhe und ins Zählen:

Und er zählte dann nicht nur die Sekunden, sondern alles, und zwar mechanisch oder automatisch, was ihm vor sein Automatenzählwerk – er bestand jetzt nur noch aus diesem – kam, die Sitzreihen im Flugzeug, die Schuhbandlöcher in seinen Schuhen, die Brauenhärchen der Sitznachbar.[33]

Sobald sich Don Juan mit einer Frau zusammentut und nicht mehr allein ist, hört dieses Zählen auf. In der zurückliegenden Woche mit den Frauen, von der er dem Koch berichtet, herrschte also diese Zeit des Innehaltens und Stillstehens. Sie herrscht aber auch, als er dem Koch von dieser Woche erzählt, indem sich beide Zeit nehmen, wandernd, betrachtend, erzählend, kochend. Erstaunt bemerkt der Koch, dass es ihm Vergnügen macht, mit dem Gast gemeinsam zu kochen und dass der in der Lage ist, mit Händen und Armen gegenläufige Arbeitsbewegungen auszuführen.[34] Diese Fähigkeit, die an die Simultaneität Don Juans mit den Frauen erinnert, verliert sich am Ende der sieben Tage in der Herberge. Der Verführer wird ungeschickt, greift neben Dinge, läßt sie fallen. Und gleichzeitig wird er wieder „vom Zählzwang befallen“.[35] Er zählt seine Schritte, Knöpfe, die Autos und die Schwalben am Himmel und fragt beständig nach der Uhrzeit, ist in Zeitnot. Die Momente und Dinge hängen nun nicht mehr zusammen, sondern zerfallen in viele einzelne. „Jeder Moment – jedes Ding – stach hervor, die Zeit war in den Moment eines zweiten, eines dritten Dings oder Menschen zerfallen. Statt des Zusammenhangs, der das Zeitgefühl ausmachte, nur noch Einzelheiten, nein, Vereinzelungen.“[36]

Begehren und Verführung

Peter Handke läßt den großen Verführer in der Begegnung mit den Frauen Erfahrungen machen, die weit entfernt sind vom üblichen Repertoire aus Triebhaftigkeit, Lebensgier und Verzweiflung. Handkes Don Juan erfährt Momente des Innehaltens und des Zusammenspiels und zwar nicht nur, wenn er mit den Frauen ist, sondern auch, wenn er seinem Zuhörer, dem Koch, eine Woche später davon erzählt. Der Sieben-Tage-Rhythmus seiner Erlebnisse sowie der anschließenden Erzählung unterstreicht, dass in beiden dasselbe Zeitsystem herrscht. Ausdrücklich bemerkt der Koch: „Don Juan war kein Verführer. Er hatte noch nie eine Frau verführt.“[37] Alles andere sei Nachrede, Phantasie oder Verwirrtheit.

Handkes Don Juan fehlt der altbekannte Ehrgeiz sich die Frauen eine nach der anderen ergeben zu machen. Das heißt aber nicht, dass er deshalb weniger Gewalt über Frauen besitzen würde oder ein schwächerer Mann wäre als seine leidenschaftlich-potenten Vorgänger der Weltliteratur. Es ist vielmehr umgekehrt, wie seine Begegnung mit einer Art weiblichem Don Juan in der Fährstationsbar von Ceüta zeigt. Für diese Frau zählen nur Männer; von Kindheit an verspürt sie Lust daran, sich an ihnen zu rächen, obwohl sie keinen Grund dazu hat: „Nur die Männer, jetzt der, dann der, dann noch einer, und wieder einer, kamen für sie in Frage. […] Der jeweilige Mann, wer auch immer, war herumzukriegen, zu schaffen und dann fertigzumachen.“[38] Im Moment der Vereinigung sind ihre sexuelle Lust wie ihre Lust zur Rache befriedigt, danach wird der jeweilige Liebhaber von ihr abserviert und bloßgestellt, um den nächsten an die Reihe zu nehmen. Dieser Frau, einer weiblichen Verführerin nach männlicher Tradition, ist der Held von Handkes Erzählung durch sein Wesen unendlich überlegen. Als sie ihn bemerkt, flieht sie, um ihm nie mehr in die Augen zu kommen, denn sie hat in ihm ihren Richter und Vollstrecker erkannt.

Die Macht Don Juans liegt nicht in der aktiven, raffinierten Verführung, sondern in seinem Blick, der Begehren ausdrückt und das Begehren der Frau weckt. Das gegenseitige Blicken ist ernst, „es ging um mehr als bloß den Augenblick, oder eine Nacht.“[39] Zwischen dem Verführer und der Frau finden zunächst keine Handlungen statt, vielmehr ist es der Blick, der handelt und der bewirkt, dass die Frau angezogen wird. Im Liebesakt wird die Simultaneität zwischen Mann und Frau schließlich sichtbar in den spiegelgleichen Bewegungen der Körper; ein minimales Verfehlen ist erlaubt und bringt zum Lachen. Was Don Juan mit den Frauen erlebt, ist also nicht Befriedigung von Libido oder Rache, sondern gemeinsame Freude an ihren Körpern. Trennt sich Don Juan von der einen Frau, freut er sich schon auf das nächste Land, die nächste Frau und den nächsten Körper. Er habe Lebensfreude, so sagt er in seinem Schlussmonolog, an den vorbeigehenden Ärschen der Frauen. Wie einem selbstverständlichen Gesetz oder einer Spielregel überläßt er sich dem Wiederholen. Doch während er sich immer wieder enthusiastisch trennt, ist die Frau mit dem Auseinandergehen nie einverstanden, weshalb er jedes Mal zu fliehen gezwungen ist. Fest steht, dass das, was von Don Juan ausgeht und was er mit den Frauen teilt, etwas anderes und viel mehr ist als sogenannte „Liebe“. Mit diesem Wort würden die Vorgänge nur abgeschwächt, so der Koch. Was zwischen Don Juan und den Frauen passiert und die Zeit stillstehen läßt, ist vielmehr höchste Gewalt.[40]

Fürsorge und Aufmerksamkeit

Indem Don Juan die Frau ansieht, wird sie sich ihrer bisherigen Einsamkeit bewusst. Dabei weiß sie nicht, dass der Mann, dem sie gerade begegnet, mit einer Trauer lebt. Er hat seinen nächsten Menschen, sein Kind, verloren. Wenn er von Frau zu Frau zieht, freut er sich auf jeden neuen Ort und jede neue Frau und zieht zugleich seiner Untröstlichkeit nach. Die Macht von Handkes Don Juan vereint Gegensätze, in ihr verbinden sich Freude und Trauer, Fliehen und Ruhigwerden. Und sein Blick wirkt nicht nur auf Frauen, sondern – in den Jahren vor seiner Siebentagereise – auch auf Alte und Kinder:

Umso inständiger hielt Don Juan täglich Ausschau nach einem so oder so Hinfälligen und/oder Schutzlosen. Deren Bemerken und eines Anblicks Würdigen bedeutete ihm mehr und anderes als sich zu versenken in gleichwelche Natur. Und umgekehrt gab das Gewürdigtwerden mit einem Blick fast verläßlich diesen Greisen und Zwerggestalten etwas wie einen Auflebensblitz. Und seltsam, daß die Uralten, sooft sie den, einmal von einem aufgenommen, ausstrahlten, unversehens kindhaft wirkten, während die Klein- und die Kleinstkinder auf einmal wenn nicht alt, so doch gesetzt und geradezu weltweise aussahen – je kleiner, desto gesetzter und weltweiser.[41]

Wie bei den Frauen herrscht auch in der Begegnung mit den Kindern und Alten ein anderes Zeitsystem: die Zeit hält inne, Greise sehen kindlich aus, Kinder reif und gesetzt. Und nicht nur Menschen, auch Tiere sind Don Juans Anziehungskraft unterworfen. Seit er in Port Royal zu Besuch ist, halten sich Tiere im Herbergsgarten auf, Katzen, ein Hund, eine Ziege. Käfer und Schmetterlinge umschwärmen den Helden auf den Spaziergängen durch die Umgebung. Feindlich werden die Tiere erst, als die sieben Tage des Erzählens vorüber sind. Beim Spazierengehen attackieren ihn die Insekten und die Vierbeiner legen sich in seinen Weg, als er aufbrechen will.

Dabei ist Don Juans Anziehung auf Tiere nicht nur durch seine rätselhafte Ausstrahlung – „das Phänomen der eigentümlichen Vertrautheit, welches so oft zwischen Don Juan und Unbekannten […] auf der Stelle zum Leuchten kam“[42] - zu erklären, sie ist auch begründet in konkretem fürsorglichem Tun: „In einem Kiefernwald zieht Don Juan dem Hund, der immer noch mit ihm ist, einen Dorn aus einem der Fußballen und beschneidet dem Tier dann auf der Promenade mit einem Taschenmesser die Zehenkrallen, damit die beim Laufen auf dem Asphalt nicht so laut werden.“[43] Diese väterliche Fürsorge bringt Don Juan auch Menschen entgegen, so schleppt er auf der Überfahrt von Ceüta nach Europa das schwere Reisegepäck seines Dieners auf das Schiff, findet für ihn den besten Platz, leistet ihm Gesellschaft und beschützt ihn. Am Ende seiner Erzählung sagt der Koch über seinen Gast: „Ich kann es bezeugen: Don Juan ist ein anderer. Ich sah ihn als einen, der treu war – die Treue in Person. Und er war mir auch etwas noch anderes als bloß freundlich – er war aufmerksam.“[44]

Erzählen gegen Konventionen

Handkes Art zu erzählen widerspricht elementaren Gattungskonventionen und Denkordnungen. Zeit, Raum, Erzähler, Figuren, Episoden und Fiktionalität bilden in seinem Text offene, vieldeutige Strukturen, tendieren zur Auflösung. Handlung fehlt oder wird negiert. Der Held strebt nach einer Identität außerhalb der vorgegebenen gedanklichen Möglichkeiten von Logik, Rationalität, Ökonomie. Solchem Erzählen kommt die Figur des Don Juan entgegen, wenn deren große Tradition als Reservoir von Denkkonventionen begriffen wird. Am Ende seines Buches läßt Handke den Koch ausdrücklich sagen, dass dieser Don Juan ein anderer sein soll als alle seine Vorgänger der Weltliteratur:

Während der sieben Tage bei mir im Garten waren noch andere Don Juans aufgetreten, im Nachtprogramm des Fernsehens, in der Oper, im Theater, und ebenso in der sogenannt primären Realität, in Fleisch und Blut. Doch durch das, was mein Don Juan mir von sich selber erzählte, habe ich erfahren: Das waren allesamt die falschen Don Juans – auch der von Molière; auch der von Mozart. Ich kann es bezeugen: Don Juan ist ein anderer.[45]

Während Handkes Kaspar den Satz „Ich möcht ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist“ bis zur Sinnlosigkeit zerredet, scheint sein Don Juan auf der entsprechenden positiven Behauptung zu bestehen: ich möchte ein anderer werden als die andern gewesen sind.

Wie er sind die meisten Helden in Handkes späterer Prosa Wanderer oder Passanten,[46] die eine nie zu Ende gehende kontemplative Bewegung vollziehen. Wie in dem hier untersuchten Prosastück fehlt in den Erzählungen nach Langsame Heimkehr (1979) konventionelle Handlungslogik, auch dort werden Bewusstseinserlebnisse gestaltet in einer Geste, bei der Gehen und Erzählen zusammenfallen. Landschaft ist wichtig, sie steht seit Langsame Heimkehr im Mittelpunkt von Handkes Prosa. Von einer ästhetischen Position aus treten die Helden in einen Widerstand gegen die zweckrationale Welt, sie tragen ihn aus durch Aufmerksamkeit, Langsamkeit und Geduld, durch Wahrnehmung der scheinbar beiläufigen Natur.[47]

Daher sind auch Blick und Anschauung für das spätere Erzählverfahren Handkes, das sich in einem langsamen Prosarhythmus umsetzt, zentral. Sehen im emphatischen Sinn eröffnet einen neuen Zugang zur Wirklichkeit, die nicht mehr von subjektiven Bewusstseinsprozessen getrennt ist. Als Organ der Teilnahme ermöglicht das Auge dem Menschen Momente glückhafter Symbiose mit anderen und deren Handlungen, nicht zuletzt im Liebesblick, den auch Don Juan beherrscht.[48] Dem Prinzip der Anschauung sind aber nicht nur die Figuren unterworfen, der gesamte Prosatext ist von dort her organisiert. Seit Die Lehre von Sainte-Victoire (1980), die von allen Schriften Handkes einer Poetik am nächsten steht, verfolgt er beim Erzählen das Ziel eines bildhaften Nebeneinander. Skizze und Notizbuch sind hierfür wichtige Vorbilder, und von besonderer Bedeutung ist die Malerei. Aus Cézannes Bildern von der Montagne Sainte-Victoire leitet Handke ein Prinzip des Sehens ab, das er auf das Schreiben überträgt. Für Cézanne waren seine Malereien keine Abbildungen der Natur, sondern Konstruktionen in Parallelität und Harmonie zu ihr. Ein Anspruch auf Sinngebung oder Deutung in Bezug auf das Abgebildete bestand dabei nicht; Cézanne ging es um Berg und Landschaft an sich, die er ihrerseits bereits – wie Kunstwerke – als vom Menschen gestaltet und geformt betrachtete. Wie Cézanne in seinen Bildern von der Montagne Sainte-Victoire beschäftigt auch Handke in seiner späteren Prosa die Frage der Zusammenhänge, der Komposition zu einem Ganzen. In einer Technik freier Variation komponiert der Dichter Einzelelemente und Momentaufnahmen mit dem Ziel, bereits bestehende, bekannte Muster und Schablonen zu vermeiden. Handkes Ideal ist eine offene, locker gefügte Erzählweise, offen für eine Pluralität von Möglichkeiten wie das freie Einfließen von Gedanken. Diesem Erzählen soll ein absichtsloses, anschauendes, aber genaues Lesen entsprechen.[49]

Literatur und Subjektivität

Hinter dieser offenen ästhetischen Konzeption steht Handkes tiefe Aversion gegen schematisierte Artikulationen und gewohnte, selbstverständlich scheinende Denkstrukturen, Gefühls- und Handlungsmuster, Redegewohnheiten und Lebensformen. Diese Aversion bestimmt seine Arbeit von Anfang an, seit seinem Auftritt in Princeton. Sein umfangreiches Werk steht, bei aller Vielgestaltigkeit und inneren Entwicklung, im Dienst einer unermüdlichen Destruktion und Entlarvung von unreflektierten Konventionen, Dogmen, Leitfiguren und Ordnungsvorstellungen, denen der Dichter tiefes Misstrauen und Ideologieverdacht entgegenbringt. Die immer wieder bewiesene Unmöglichkeit, Handke für politische oder literarische Gruppierungen zu vereinnamen, hat hier ihre Ursache.

Gleichzeitig sind Handkes Forderungen an Kunst und Literatur aufs engste mit einem Anspruch an Subjektivität verbunden. Unter der Voraussetzung, dass vorgegebene künstlerische Formen und Muster ihren Gehalt schematisieren, begrenzen sie, so Handke, auch die Möglichkeiten des Subjekts, zu sein. Umgekehrt gesprochen: wird der Anspruch einer autonomen Subjektivität erhoben, die Forderung gestellt, selbst- statt fremdbestimmt zu empfinden, zu denken und zu handeln und herrschaftsfrei miteinander umzugehen, so muss die Literatur sich immer wieder aufs Neue auf ihre Ideologie-Resistenz befragen lassen und sich ständig verändern. Handke ist davon überzeugt, dass die Literatur einer ständigen Erneuerung der Form bedarf, deshalb sucht er selbst permanent nach neuen Möglichkeiten des Schreibens und löst sich immer wieder aufs Neue von literarischen Vorbildern und Einflüssen.[50] In dem Essay Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) macht er deutlich, dass die Möglichkeit der Poesie, die Wirklichkeit und sich selbst zu überschreiten, mit den Möglichkeiten des Subjekts untrennbar verbunden sind; hier wird erkennbar, wie stark sein künstlerisches Anliegen mit einem Konzept von Ich und Welt, von konkreten Lebensmodi verknüpft ist.

Von der im Elfenbeinturm-Essay formulierten Leitlinie, dass die Literatur als selbstreflexive Kunst radikale Subjektivität zu ermöglichen hat, ist Handke bis heute nicht abgewichen. Und bis heute werden dadurch diejenigen provoziert, die Literatur als poesie engagée in den Dienst einer Idee oder Absicht stellen und auch alle, die von Literatur „Realismus“ erwarten. Für Handke geht es – wie für Cézanne – in der Kunst nicht um die Auseinandersetzung mit Wirklichkeit, die selbst ein Konstrukt ist, sondern um das ideale Konstrukt des literarischen Textes, der selbst ein Kosmos sein soll, in dem sich das Subjekt spiegeln kann. Die Wirklichkeit ist für Handke zufällig und rätselhaft, erst die Phantasie ordnet sie zu einem Ganzen, erst das poetische Erzählen stiftet ihre Form. Im poetischen Bild, in der Momentaufnahme liegt die Wahrheit, nicht in Realismus, Fiktion, Begriff oder Abstraktion. Über die Möglichkeiten der Subjektivität in Relation zur Wirklichkeit und zu Weltbildern heißt es in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms:

Ich erwarte von einem literarischen Werk eine Neuigkeit für mich, etwas, das mich, wenn auch geringfügig, ändert, etwas, das mir eine noch nicht gedachte, noch nicht bewußte Möglichkeit der Wirklichkeit bewußt macht, eine neue Möglichkeit zu sehen, zu sprechen, zu denken, zu existieren. Seitdem ich erkannt habe, daß ich selber mich durch die Literatur habe ändern können, daß mich die Literatur zu einem andern gemacht hat, erwarte ich immer wieder von der Literatur eine neue Möglichkeit, mich zu ändern, weil ich mich nicht für schon endgültig halte. Ich erwarte von der Literatur ein Zerbrechen aller endgültig scheinenden Weltbilder. […] Ich habe keine Themen, über die ich schreiben möchte, ich habe nur ein Thema: über mich selbst klar, klarer zu werden, mich kennenzulernen oder nicht kennenzulernen, zu lernen, was ich falsch mache, was ich falsch denke, was ich unbedacht denke, was ich unbedacht spreche, was ich automatisch spreche, was auch andere unbedacht tun, denken, sprechen: aufmerksam zu werden und aufmerksam zu machen: sensibler, empfindlicher, genauer zu machen und zu werden, damit ich und andere auch genauer und sensibler existieren können, damit ich mich mit anderen besser verständigen und mit ihnen besser umgehen kann.[51]

Alte Muster – neue Möglichkeiten?

Don Juan gilt als eine der faszinierendsten Gestalten der Weltliteratur, seit Jahrhunderten setzen sich Dichter mit seinem Wesen und seiner Identität auseinander. Trotz seiner zahllosen Variationen blieben die Konturen eines Typus erhalten, da man sich immer wieder auf frühere Auffassungen der Figur bezog, sie modernisierte und neu akzentuierte, wodurch eine Art Diskurs über die Eigenart und Beschaffenheit der Figur entstand. Es ist diese Konstellation, die Handkes experimentellem Spiel mit den Möglichkeiten von Identität entgegenkommt.

Bereits seine Erzählerinstanz entzieht sich den üblichen Kategorisierungen, ist doch der wirkliche Erzähler genau genommen der Zuhörer des eigentlichen Erzählers Don Juan, der wiederum seine Erfahrungen und Erlebnisse ins Allgemeingültige rückt, indem er von sich als „er“ oder „man“ spricht. Komplementär dazu sehen die vom Helden bereisten Landschaften alle gleich aus, weil sie Schauplatz seiner Geschichte sind und sein Blick auf sie fällt. Außenwelt und Innenleben der erzählenden Figur sind nicht voneinander zu trennen; für ihr Erleben ist nur eine einzige Landschaft denk- und wahrnehmbar, die zugleich Spiegel ihrer inneren Landschaft ist. Obwohl Don Juan sich im Raum bewegt, bleibt er immer bei sich. Dass die Gesetze der äußeren Welt vom Subjekt nur scheinbar unabhängig sind, zeigt sich auch daran, dass Don Juan auf seiner Reise durch die Welt immer wieder dieselben Menschen begegnen:

Und: der eine Krebskranke auf der Fähre, mit dem ausgefallenen Haar, war schon bei der Hochzeit im kaukasischen Dorf dabeigewesen. Und: ebenso hatte der örtliche Idiot, der mit Riesenschritten durch die leeren Festungsgassen kreuzte, schon in Damaskus der Menge so herrscherlich nach links und nach rechts zugewinkt. Und: das Motorradpaar der Ile de France, vor welchem er zuletzt zu mir nach Port Royal flüchtete, war ihm umgekehrt bereits drüben dort in Nordafrika begegnet.[52]

Deutlich wird hier auch, wie die Fiktionsebenen ineinanderfließen. Der erzählende Zuhörer gibt sich keine Mühe, das von Don Juan Gehörte authentisch wiederzugeben – im Gegenteil. Don Juan überlässt Teile seiner Geschichte der Vorstellung seines Zuhörers, dem Erzähler, dem schnell klar ist, wie es weitergehen wird. Von da an sieht er die Dinge vor sich, ohne dass sie ihm berichtet werden müssen,[53] was Folgen für ihn und die Erzählung hat. Zwischen beiden besteht ebenso eine Identität wie zwischen den Rollen des Erzählers und des Zuhörers, in dem die Erzählung erst durch die Nähe und Anwesenheit Don Juans, des ursprünglichen Erzählers, entsteht. Hier verwirren sich, wie bei den Landschaften, äußere und innere Welt.

Auch die subjektive Zeitwahrnehmung des Helden widerspricht den gewohnten Verhältnissen. Wenn es heißt, dass die Zeit für Don Juan das Problem war, dann ist damit seine Aversion gegen die Rationalität der Zeit gemeint. Er sucht Momente, in denen diese außer Kraft gesetzt ist, in denen der Drang zum Zählen, dem auch er unterworfen ist, aufhört. Das Zählen hört auf in der Liebesbegegnung zwischen Mann und Frau, aber auch beim Er-zählen. Es sind diese Momente des Innehaltens, in denen das Ich bei sich ist und beschützt vor der Bedrohung durch moderne Schnelligkeit, Rationalität und Quantifizierung. Solches sind Augenblicke (statt Sekunden) des intensiven, pulsierenden Lebens.

Peter Handke bricht in seiner Erzählung über Don Juan nicht nur mit den Grundelementen der Stofftradition, er löst sich auch von konventionellen Vorstellungen und literarischen Darstellungsverfahren von Identität. Bereits der Anspruch, Wahrheiten über die Identität des berühmten Don Juan auszusagen, wird von Handke nicht erhoben -- ein Anspruch, an dem sich die Weltliteratur abarbeitet. Insofern steht Handke unter allen literarischen Vorläufern womöglich Mozart und da Ponte am nächsten, deren Don Giovanni mit den Worten „indarno gridi; chi son io tu non saprai“[54] die Bühne betritt (und dabei ständig versucht sein Gesicht zu verbergen). Ausdrücklich sagt Handkes Erzähler – wohl nicht ohne eine gewisse Ironie --, dass die Don Juans „in der sogenannt primären Realität“ allesamt die falschen sind „-- auch der von Molière; auch der von Mozart“.[55]

Durch seine offene, vieldeutige, die üblichen Relationen verkehrende Erzählweise stellt sich Handkes Text gegen die jahrhundertelang unternommenen Versuche der Festschreibung Don Juans. Wo die anderen herauszufinden versuchen, wer die Figur war oder sein könnte, will Handke das gerade nicht. In diesem Sinn ist der anmaßend scheinende Satz des Kochs zu verstehen, der zu Anfang bemerkt: „Ich hatte Don Juan vor mir; und nicht »einen« Don Juan, nein, ihn, Don Juan“.[56] Der Anspruch, von dem eigentlichen Don Juan zu erzählen – wie ihn auch der Untertitel des Textes „(erzählt von ihm selbst)“ nahelegt --, ist dann nicht anmaßend, wenn die Identität der dargestellten Figur eine Pluralität von Möglichkeiten zuläßt. Die kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Erzähler am Ende konstatiert: „Don Juans Geschichte kann kein Ende haben, und das ist, sage und schreibe, die endgültige und wahre Geschichte Don Juans.“[57] Die alten Versuche um die Figur sind damit nicht negiert, werden aber in ihrer Begrenztheit und ihrem Schematismus erkennbar. Dies wird verstärkt dadurch, dass Handke seine offene, vieldeutige Subjektkonstitution mit großer Anziehungskraft umgibt, quasi mit der alten erotischen Aura der Don Juan-Figur. Handkes Don Juan ist von magnetischer Anziehung auf alle Kreaturen, ihm wird sofort Vertrauen entgegengebracht, er erscheint einem unmittelbar vertraut.[58] Seine Wirkung auf Frauen ist nur eine Spielart seiner Attraktion für Mensch und Tier. Nicht bloß die Weiblichkeit, Don Juans ganze Umgebung einschließlich Flora und Fauna ist von ihm in sinnlich-erotischer Art und Weise angezogen.[59] Und diejenigen, die ihm begegnen, werden durch ihn verändert.

So ist der vereinsamte Koch nach den sieben Tagen mit seinem Gast wie ins Leben zurückgekehrt: es macht ihm wieder Freude Speisen zuzubereiten, er glaubt durch Don Juan wieder an die Idee der Gastlichkeit und der Nachbarschaft, die er beide aufgegeben hatte. Nach den sieben Tagen mit ihm hat sich auch die Umgebung verändert: die Nachbarn erscheinen dem Koch verjüngt, Ausländer, deren Zuzug er sich immer gewünscht hatte, haben sich angesiedelt. Fremde und Eingesessene sammeln ringsum wilde Kirschen und Erdbeeren. Der Koch kann sich vorstellen, sein altes Geschäft, die Gastwirtschaft, wieder aufzunehmen. Auch für die Frauen verändert die Begegnung mit Don Juan ihr Leben, er beendet ihre Einsamkeit. Mit dem Abschied Nehmen sind sie nie einverstanden, denn sie fühlen sich von ihm „gemeint und gewürdigt“.[60] Weil sie bei ihm bleiben wollen, muss Don Juan immer wieder fliehen.[61]

Handkes Don Juan beansprucht, sich von der großen Vielfalt seiner Vorgänger zu unterscheiden; gerade diese besondere Einzigartigkeit – und nicht sein erotisches Air -- ist es, die seine Anziehungskraft ausmacht. Im Vergleich mit ihm werden die Einseitigkeiten, womöglich auch die Defizite der früheren Figuren erkennbar; es werden andere Möglichkeiten zu denken, zu empfinden, wahrzunehmen, zu existieren deutlich. Deshalb kommen die literarischen Verweise bei Handke spärlicher vor als üblich und sind Ausdruck der Abgrenzung und der eigenen Besonderheit. Nicht nur sprachlich, auch gedanklich bricht Handkes Text mit Gewohntem und verweist auf kulturelle Konventionen für das Subjekt und seine Darstellung -- in der unkonventionellen Verbindung von Trauer und Lust, von Eros und Agape, Treue und Promiskuität, von Liebhaber- und Vaterrolle. Allein der Umstand, dass Handke die Relevanz von Moral, Macht, Sexualität und Psychologie, die dem Stoff affine Probleme darstellen, bis zur Negation herunterspielt, sind als Abkehr von der Tradition zu betrachten. Von ihr übernimmt Handke kaum Voraussetzungen; die kulturellen und literarischen Standards werden von ihm so weit hinterfragt, dass selbst das Verhältnis von Identität und eigener Geschichte neu zur Disposition steht.

Zentral ist dabei das Verhältnis der Figur zur Zeit. Don Juan will sich moderner Zeitökonomie widersetzen; mit seiner Langsamkeit und Aufmerksamkeit für das Beiläufige steht er jenseits moderner Rationalität. Am Ende gelingt ihm die erhoffte Behauptung gegen den Zählzwang:

Als Don Juan sich statt meiner in der Mauerluke zeigte, vertiefte sich das Düster in den Augen der sechs oder sieben Frauen, nur war das nun ein anderes Düster. Die Fratzen, die sie jetzt zogen: rührten die nicht eher von dem Pappelflauschkitzel? Eine Woche danach sehe ich sie im übrigen nicht mehr als Zahl. Wäre jetzt die Frage: Zahl oder Schrift?, so würde ich antworten: Schrift. Dazu trägt auch bei, daß Don Juan die Lippen bewegt, wie jemand, der buchstabiert. Obwohl es »Zeit war«, ließ er sich Zeit.[62]

Pointenhaft wird hier deutlich, dass dieser Don Juan für ein Ideal-Subjekt steht, denn an die Stelle des modernen Zeitsystems treten nun Schrift und Literatur. Die anderen Möglichkeiten zu existieren, von denen hier erzählt wird, erscheinen zunächst in der auf neue unbekannte Weise geordneten Erzählung. In Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms beschreibt Handke sein spezifisches Verhältnis zu Innovation, Tradition und Variation:

Jetzt, als Autor wie als Leser, genügen mir die bekannten Möglichkeiten, die Welt darzustellen, nicht mehr. Eine Möglichkeit besteht für mich jeweils nur einmal. Die Nachahmung dieser Möglichkeit ist dann schon unmöglich. Ein Modell der Darstellung, ein zweites Mal angewendet, ergibt keine Neuigkeit mehr, höchstens eine Variation. Ein Darstellungsmodell, beim ersten Mal auf die Wirklichkeit angewendet, kann realistisch sein, beim zweiten Mal schon ist es eine Manier, ist irreal, auch wenn es sich wieder als realistisch bezeichnen mag.[63]

Auch der Sieben-Tage-Zyklus der Erzählung mag darauf hindeuten, dass hier eine neue Welt und ein neuer Mensch geschaffen werden, dem das Kloster Port Royal, wie in alter Zeit, Asyl vor Verfolgern gewährt. Zu diesen Verfolgern gehören, wie wir gesehen haben, auch die Anwälte der Stofftradition. Die Provokation, die Handkes kleine Erzählung für sie bedeutet, zeigt, dass kulturelle Modernisierungsprozesse in engen Bahnen verlaufen, die nur schwer zu erkennen sind.[64] Das Verhältnis von moderner Identität und kultureller Tradition folgt strengen Regeln; im aufmerksamen Hinweis darauf -- in nicht mehr und nicht weniger -- liegt die Bedeutung von Peter Handkes schwebend-leichtem Prosatext.

Anmerkungen

1 Nach unserem Kenntnisstand.

2 Beatrix Müller-Kampel: Dämon – Schwärmer – Biedermann. Don Juan in der deutschen Literatur bis 1918. Berlin 1993 [Philologische Studien und Quellen 126]; dies. (Hg.): Mythos Don Juan. Zur Entwicklung eines männlichen Konzepts. Leipzig 1999.

3 Beatrix Müller-Kampel: "Schal und banal oder Ein Ex-Koch gräbt dem Don ein Grab." Peter Handkes Don Juan (erzählt von ihm selbst). Gerda E. Moser, Katharina Herzmansky, Friedbert Aspetsberger (Hg.): Klug und stark, schön und erotisch. Idyllen und Ideologien des Glücks in der Literatur und in anderen Medien. Innsbruck u. a. 2006 [Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde Band 17], S. 121-140.

4 Ebd., S. 137f.

5 Bernhard Setzwein: "Peter Handke: Don Juan (erzählt von ihm selbst) [Rezension]." Passauer Pegasus 2004, S. 89-91; S. 91.

6 Iris Radisch: "Ein Blick, der glücklich macht. Peter Handke schreibt über Don Juan und ist bewundernswert romantisch und unzeitgemäß." Die Zeit 12.08.2004, Nr. 34.

7 Nach wie vor maßgeblich ist Brigitte Wittmann (Hg.): Don Juan. Darstellung und Deutung. Darmstadt 1976 [Wege der Forschung Band 282].

8 Der Spötter von Sevilla und der steinerne Gast; erste bekannte Aufführung 1613, Erstdruck 1630.

9 Am 15. 2. 1665.

10 Molière: Dom Juan ou Le Festin de Pierre. Édition présentée, établie et annotée par Georges Couton. Paris 1999 [Collection Folio Classique], S.38.

11 Ebd., S. 94.

12 Ebd., S. 158.

13 Müller-Kampel, "Schal und banal", S. 128.

14 Peter Handke: Kaspar. Frankfurt am Main 1968, S. 7.

15 Peter Handke: Don Juan (erzählt von ihm selbst). Frankfurt am Main 2004, S. 78f.

16 "'Pikante Einzelheiten' waren nicht zu erzählen. Ja, es gab sie gar nicht.“ Ebd., S. 42.

17 Vgl. ebd., S. 77.

18 Ebd., S. 7.

19 Vgl. ebd., S. 60.

20 Ebd.

21 Port Royal des Champs war im 17. Jahrhundert ein bedeutendes Zentrum des Jansenismus, das Intellektuelle wie Blaise Pascal und Jean Racine anzog. Als die Kirche nach 1700 immer mehr Druck auf die Jansenisten ausübte und sich die Nonnen von Port Royal widersetzten, ließ Ludwig XIV. das Kloster 1710 bis auf die Grundmauern zerstören.

22 Ebd., S. 10.

23 Dabei geht es mehr um den Zuhörer als Instanz denn um seine Individualität, denn der Koch bemerkt am Ende: „Er schaute mich während unserer gemeinsamen Zeit nie wirklich an, sondern, besonders deutlich bei seinem Erzählen, an mir vorbei oder durch mich durch.“ Ebd., S. 158.

24 Vgl. ebd., S. 41.

25 Ebd., S. 10.

26 Ebd., S. 57.

27 Ebd., S. 45.

28 Ebd., S. 30f.

29 Ebd., S. 45.

30 Ebd., S. 125f.

31 Vgl. ebd., S. 54.

32 Ebd., S. 37.

33 Ebd., S. 54.

34 „[…] mit der einen Hand, sagen wir, eine Zwiebel schneiden und daneben mit der andern, sagen wir, einen Teig auszuwalzen: kein Problem. Desgleichen geschahen bei ihm Rollen zur einen Hand und Tupfen zur andern Hand, Durchstechen und Abrunden, Aushöhlen und Füllen, Werfen und Auffangen, Ausschütten und Eingießen, wie in einer einzigen zusammengehörigen Bewegung. Während die Rechte aufrauhte, strich die Linke glatt. Während er zupfte, schlug er. Während er ausholte, zerquetschte er. Während er sägte, schraubte er. Während er zerrte, tätschelte er. Während er umblätterte, nagelte er.“ Ebd., S. 139.

35 Ebd., S. 140.

36 Ebd., S. 140f.

37 Ebd., S. 73.

38 Ebd., S. 116.

39 Ebd., S. 75.

40 Vgl. ebd., S. 109.

41 Ebd., S. 60f.

42 Ebd., S. 53.

43 Ebd., S. 132.

44 Ebd., S. 157f.

45 Ebd., S. 157.

46 In Phantasien der Wiederholung (Frankfurt am Main 1983) schreibt Handke: „Kann nicht auch jemand wie ich so ausführliche und enthusiastische Beschreibungen von Menschen geben wie Balzac? – nur eben nicht von ihnen als von 'Personen der Handlung‘, sondern als von 'Passanten': und das wäre die uns heute entsprechende Epik? – Es gäbe da keine Verwicklungen mehr, nur die Beschreibung einer Mehrzahl von Passanten, und diese Beschreibung stünde für sich und leuchtete?“ (S. 62).

47 Vgl. hierzu Michael Braun: "Die Sehnsucht nach dem idealen Erzähler. Peter Handkes romantische Utopie." Text + Kritik 24. München 1999, 6. Auflage: Neufassung, S. 73-81 und Hugo Dittberner: "Der heroische Kampf um die Erzählung. Anmerkungen zum gegenwärtigen Peter Handke." Ebd., S. 28-35.

48 Gerhard Melzer: „Lebendigkeit: ein Blick genügt.“ Zur Phänomenologie des Schauens bei Peter Handke. In: Ders., Jale Tükel (Hg.): Peter Handke. Die Arbeit am Glück. Königstein/ Ts. 1985, S. 126-152 und Christoph Parry: „Das sind jetzt die richtigen Bilder. Zu Peter Handkes erzählerischem und polemischem Umgang mit Bildern". Dieter Heimböckel, Uwe Werlein (Hg.): Der Bilderhunger der Literatur. Festschrift für Gunter E. Grimm. Würzburg 2005, S. 359-370.

49 Vgl. Christoph Parry: "Peter Handkes Schriftlandschaften. Eine Lehre und ihre Anwendung." Text + Kritik 24. München 1999, 6. Auflage: Neufassung, S. 59-65 und Dieter Hensing: "Peter Handke auf der Suche nach der gültigen Form." Anke Bosse, Leopold Decloedt (Hg.): Hinter den Bergen eine andere Welt. Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Amsterdam, New York 2004 [Duitse kroniek 53], S. 235-254.

50 Vgl. hierzu Otto Lorenz: "Literatur als Widerspruch. Konstanten in Peter Handkes Schriftstellerkarriere." Text+Kritik 24: Peter Handke. München 1989, 5. Auflage (Neufassung), S. 8-16.

51 Peter Handke: "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms." Ders.: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln 1967-2007. Frankfurt am Main 2007, S. 37f., 44.

52 Handke, Don Juan, S. 124.

53 „Ich stellte mir das jedenfalls so vor, ohne daß er es vor mir ausführte.“ Ebd., S. 126; „Don Juan brauchte mir davon nicht einmal mehr die Stichworte zu geben. Ich sah es, indem er es aussparte, mit der Zeit umso klarer vor mir.“ S. 136.

54 Wolfgang Amadeus Mozart: Don Giovanni. In der Originalsprache (Italienisch mit deutscher Übersetzung). Herausgegeben von Kurt Pahlen und Rosemarie König. München 1981, S. 19.

55 Handke, Don Juan, S. 157.

56 Ebd., S. 14.

57 Ebd., S. 159.

58 So sagt der Koch: „Und obwohl wir zwei so zum ersten Mal aufeinandertrafen, erschien mir dieser Eindringling da augenblicklich vertraut.“ Ebd., S. 14; vgl. a. S. 53.

59 „Keinmal hatte diese fremde Katze bei ihrem täglichen Vorbeischauen, wie ich es mit der Zeit doch fast bitter erwartete und einfordern wollte, mich gehörig begrüßt. Ich war für sie nicht vorhanden. An Don Juan dagegen rieb sie sich jetzt und drängte sich ihm fortwährend zwischen die Beine, von vorn, von hinten, undsoweiter. Ebenso umflatterten den Neuankömmling da unversehens Heerscharen verschiedenartiger und –farbiger Schmetterlinge, ein einziges, miniaturhaftes Fähnchen-, Wimpel- und Standartenschwenken; und nicht wenige der Falter hockten auch still auf ihm, auf den Handknöcheln vor allem, auf den Brauen, auf den Ohrmuscheln, nippend – der immerzu und jetzt im nachhinein, im Ausruhen, umso ergiebiger dem Mann entquellende Fluchtschweiß diente ihnen als eine Tränke. Und die Bisamratte, die in dem planvoll verrottenden Gartengerümpel hauste, kein scheueres Wesen ist mir je begegnet, sah ich mit wie sorglos hängenden Barthaaren augenblicks an seinen Zehen schnuppern. Und sowie ich mit dem Speisetablett ins Freie trat, flog gerade ein Riesenrabe über das Anwesen, vorne im Schnabel etwas wie einen Tennisball, den er zugleich auch schon fallen ließ, eine Passionsfrucht, geraubt wohl von einem Marktstand – war nicht Markttag im nicht so fernen Rambouillet? --, in Reichweite jetzt da auf dem Boden.“ Ebd., S. 23-25.

60 Ebd., S. 75.

61 An seinem letzten Abend in der Herberge kommen die „sechs oder sieben“ Frauen – die Zahl bleibt unbestimmt – und belagern Haus und Garten. Selbst der Koch, der mit Frauen abgeschlossen hatte, ist von ihrer Schönheit ergriffen: „Und schön waren die sage und schreibe; Don Juan hatte nicht übertrieben mit dem Ausdruck: 'unbeschreiblich schön'. Sogar ich, der, was Frauen anging, mich längst als ausgezählt ansah, dachte trotz all der Düstermienen auf der Stelle: 'Zählt mich neu dazu.' Mit diesen Frauen da war noch etwas zu erleben – Gott weiß was. Und noch einmal an jenem Tag spielte in meinen Augen der Himmel mit herein: 'Ah, all die Frauen da unter dem Himmel. Mochten sie dem Anschein nach auch auf Böses sinnen: ich war von ihnen ergriffen.'“ Ebd., S. 153f.

62 Ebd., S. 156.

63 Handke, "Elfenbeinturm," S. 38.

64 Vgl. zum Problem von Handkes Modernität: Cornelia Blasberg: "Peter Handke und die ewige Wiederkehr des Neuen." Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 38 (1997), S. 185-204 und Peter Strasser: "Sich mit dem Salbei freuen. Das Subjekt der Dichtung bei Peter Handke." Klaus Kastberger, Konrad Paul Liessmann (Hg.): Die Dichter und das Denken. Wechselspiele zwischen Literatur und Philosophie. Wien 2004 [Profile 7.11], S. 117-138.