Glossen 29

Die Literaten und die Auflösung Jugoslawiens: Noch einmal zu Handke und Gstrein
Jay Julian Rosellini

Seit der Bombardierung Serbiens sind zehn Jahre vergangen. Als ich vor fünf Jahren auf einer Tagung über Handke und Gstrein sprach[1] , spürte man noch die Nachwehen der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan, und der Zerfall Jugoslawiens war noch ein Thema in den Medien. Heute ist alles ganz anders. Slowenien hat den EU-Vorsitz innegehabt, Montenegro und Kosovo haben die Unabhängigkeit erlangt, Slobodan Milošević ist tot, und der Gefangene Radovan Karadžić bereitet sich auf seinen Prozess in Den Haag vor. Ab und zu stößt man auf eine Notiz zur angehenden Suche nach dem flüchtigen General Ratko Mladić, aber sonst kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die meisten Europäer eher für Balkonien als für den Balkan interessieren. (Der Artikel über Karadžićs schrullige Rollenspiele und Verkleidungen im New York Times Magazine vom letzten Sommer[2] weist darauf hin, dass historisch-politische Analysen keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. Der gegenwärtige Grenzstreit zwischen Slowenien und Kroatien erregt kaum die Aufmerksamkeit Unbeteiligter.)

Zwei Ausnahmen von dieser Regel sind die österreichischen Schriftsteller Peter Handke und Norbert Gstrein. Es handelt sich um zwei Gestalten aus verschiedenen Generationen, und die Art, wie sie jeweils literarisch bzw. publizistisch mit dem Thema Ex-Jugoslawien umgehen, weist sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede auf. Dies soll anhand von aktuellen Interviews und den beiden 2008 erschienenen Romanen Die Morawische Nacht[3] (Handke) und Die Winter im Süden[4](Gstrein) veranschaulicht werden. Beide Werke wurden 2008 für den Deutschen Buchpreis nominiert.[5]

Im Rahmen dieses Aufsatzes können die verschiedenen Handke-Kontroversen der 90er Jahre nicht rekapituliert werden, aber die Ereignisse der letzten Jahre sollte man sich zumindest kurz vergegenwärtigen: Peter Handke besuchte den Angeklagten Milošević in Den Haag und veröffentlichte 2005 einen Essay darüber (Die Tablas von Daimiel[6] ). Dies wurde mit Kopfschütteln bzw. Wut zur Kenntnis genommen. Zwei Beispiele: „Am Ende bleibt ein dürrer Bericht über den Monolog, den der prominenteste und wohl wichtigste Angeklagte des Tribunals mit dem Schriftsteller geführt hat.“[7] „Handke macht sich zum literarischen Sekundanten von Nationalismus, Faschismus, Vertreibung, Völkermord.“[8] (Letzteres erinnert mich an die Protokolle der stalinistischen Schauprozesse; in unserer Zeit haben solche Vorwürfe gegen Schriftsteller Seltenheitswert. Handke ist auf jeden Fall kein österreichischer Ezra Pound.) Handkes Teilnahme an Miloševićs Begräbnis im März 2006 trug auch kaum etwas zur Beruhigung der erhitzten Gemüter bei. In einer unerhörten Aktion stoppte die Comédie Française die geplante Inszenierung von Handkes Drama Das Spiel vom Fragen oder Die Reise ins sonore Land [9], und die Absetzung wurde von prominenten französischen Intellektuellen (unter ihnen Ariane Mnouchkine und Hélène Cixous) befürwortet.[10] Unterstützung bekam Handke nicht zuletzt von Elfriede Jelinek, deren eigene Einstellung zum Jugoslawien-Konflikt sie nicht davon abhielt, Folgendes zu sagen: „Ich muß meine politische Position nicht darlegen, um meine Besorgnis über die wachsende hysterische Hetze gegen einen Dichter artikulieren zu dürfen.“[11] Um diese Zeit wurde auch bekannt, dass Handke den Heine-Preis bekommen sollte. Dies empörte Politiker wie das christdemokratische Jurymitglied Christoph Stölzl und den Grünen Fritz Kuhn, die sonst kaum einer Meinung sein dürften.[12] Der Preis wurde aberkannt – nicht von der Jury, sondern vom Düsseldorfer Stadtrat.[13] Alt-Kritiker Marcel Reich-Ranicki verstieg sich sogar zu folgender Behauptung: „Die Auszeichnung Peter Handkes mit dem Heine-Preis ist eine empörende Beleidigung und Verhöhnung des Dichters Heine.“[14] (Die Toten kann man leider nicht fragen, inwiefern sie sich beleidigt fühlen.) Am Ende verzichtete Handke freiwillig auf den offiziellen Preis sowie auf den ‚inoffiziellen’, der von Künstlerkollegen initiiert worden war.[15]

Der zeitweise äußerst reizbare Handke, der seit Jahren seinen Kritikern mit Trotz entgegengetreten war, muss eingesehen haben, dass er um eine öffentliche Klarstellung seines Standpunkts nicht herumkommen konnte. Zunächst reichte er die kurze Erklärung „Was ich nicht sagte“ bei der FAZ ein[16], und dann gab er ein ausführliches Interview, das im Juni 2006 bei der Neuen Zürcher Zeitung[17] erschien. Dieses Interview wird in Zukunft zweifellos als Schlüsseldokument zum Verständnis des ‚Handkeschen Weges’ betrachtet werden. In einer kurzen Einleitung weisen die beiden Interviewer darauf hin, dass die „Geschichte der jugoslawischen Auflösungskriege ... noch nicht zu Ende geschrieben“ sei, denn „zu vielfältig sind die Gründe, die zum blutigen Zerfall des jugoslawischen Staates führten“. Im Interview selbst wird diese Feststellung jedoch schnell vergessen: die Journalisten erheben schwere Vorwürfe gegen Serbien, und Handke verteidigt Serbien, „das verlorenste Land Europas“. Das heißt allerdings nicht, dass Handke ‚stur’ bleibt. Anders als früher bestreitet er nicht, dass ein Massaker in Srebrenica stattgefunden hat: „Es ist eine grausige Geschichte, was die Serben da gemacht haben, serbische Paramilitärs, die von jenseits der Drina kamen. Es ist fürchterlich, eine ewige Schande.“ Er betont auch, dass er mit „serbische[n] Nationalisten, die plötzlich orthodox werden“, nichts zu tun haben möchte. Den Prozess gegen Milošević findet er immer noch falsch, aber er ist nicht grundsätzlich gegen das Haager Tribunal: dort hätten „der fürchterliche Antisemit Tudjman“ und Izetbegović, der einen „islamischen Gottesstaat“ habe errichten wollen, vor Gericht stehen sollen. Was sich nicht ändert, ist sein sehr persönliches Gesamtbild der Region. Handke trauert dem „zweiten Jugoslawien“ nach, das sich selbst von den Nazis befreite („Die Partisanen, das war Jugoslawien.“) und nach dem Krieg einen unabhängigen Weg in der blockfreien Bewegung ging. Handke unterstützte Milošević vor allem deshalb, weil er „mit letzter Kraft“ Jugoslawien habe erhalten wollen. In seinen utopischen Träumen (die nicht wenige belächeln oder verspotten) bestand einst eine Alternative: „Gerade Jugoslawien war das Beispiel, wie Europa hätte anders sein können. Jetzt haben wir fast nur noch das Macht- und das Diktier-Europa und das Moralisierer-Europa. Jugoslawien war wirklich ein freies Land.“

Handke, der für die 68er nie viel übrig hatte, ist insofern einer von ihnen, als er einen ‚dritten Weg’ für Europa statt der Übernahme des US-Kapitalismus („Heuschrecken“ à la Müntefering) oder des sowjetischen Staatssozialismus wollte. Jetzt sieht er ein, „gegen den freien Markt ist nichts zu machen“, und die einzige politische Zukunft liegt in „einer liberalen Demokratie“. Von seiner Wahlheimat Slowenien, das sich so schnell wie möglich von Jugoslawien trennte, hat er sich inzwischen „verabschiedet“, nicht zuletzt deshalb, weil die „Dichter“ des Landes „einiges Unheil angerichtet“ haben, indem sie den Mythos von „Mitteleuropa“ als „Keule“ gegen Jugoslawien verwendet haben. Der „Abschied des Träumers vom Neunten Land“[18] , der 1991 begann, muss jetzt als abgeschlossen gelten.

Die morawische Nacht ist die literarische Verarbeitung dieses Abschieds, und die fast einhellige Begeisterung der Kritiker weist darauf hin, dass der Autor diesmal wirklich etwas ganz Ungewöhnliches geliefert hat. Der erste Satz ist ein Programm: “Jedes Land hat sein Samarkand und sein Numancia.“ (7) Gemeint sind damit die sagenumwobene Stadt an der Seidenstraße (nicht der heutige uzbekische Ort) und die iberische Siedlung, die im Jahr 123 v.u.Z. von römischen Truppen unter Scipio zerstört wurde. Die lange Reise, die Handke von einem „ehemaligen Autor“ und seinen Freunden schildern lässt, ist folgerichtig keine teleologische, sondern ein „Zickzackweg“. (224) Wie Samarkand und Numancia verschwindet am Ende das an der Morawa verankerte Boot des Erzählers, das Ausgangspunkt der Reise war. Wir befinden uns im Reich des Traums, das von den tagespolitischen Ereignissen denkbar weit entfernt ist. Ein Widerhall der Politik ist trotzdem zu vernehmen. Der Erzähler wünscht sich einerseits „weg von diesem Balkan, dem Balkan der tausend unsichtbaren, allesamt bösen und bitterfeindlichen Grenzen von Tal zu Tal, von Dorf zu Dorf …“, andererseits will er in „den anderen Balkan, wie er ihn in den Vorjahren immer wieder erlebt hatte, so tief wie keine Gegend auf Erden“. (113f.) Wie in den umstrittenen Serbien-Büchern stößt man immer wieder auf angeblich typische Details, wie z.B. die „Gastfreundschaft“ (15), „balkanesische Tabakblätter“ (31), die typisch balkanische „Sitzbank“ (62), ein „balkanesisches Hütchenspiel“ (85), das „balkankarierte Taschentuch“ (85), das Musizieren mit der „balkanischen Gusla“ (101), das Tränken der Erde mit Rotwein als Teil der Totengedenkens (520) und den altbekannten „erztrübe[n]“ Wein (544). Anders als früher muss der Ex-Autor jedoch einsehen, dass solche folkloristischen Aspekte bald der Vergangenheit angehören werden. Statt dessen trifft man auf die „verdammte neubalkanische Unzugänglichkeit, Verschlossenheit, Unansehnlichkeit“ (73). Im Radio hört man immer öfter „Wiener Walzer“, und im Karst, der Handkeschen Kernlandschaft, ist nun „alles Balkanische oder auch nur von ferne daran Erinnernde verfemt, von den Speisen über die Kleidung bis zur Musik“ (513). Der Begriff „heimzu“ (315) bezieht sich jetzt nicht nur auf den Balkan, sondern auch auf das Kärntner Dorf, wo Handke herkommt (369, 485).[19] Kann das lange vermiedene, gar beschimpfte Österreich als eigentliche Heimat – und damit Balkan-Ersatz – betrachtet werden?

In einem längeren Passus skizziert der Erzähler rückblickend sein Verhältnis zu Österreich. Er muss feststellen, dass er „schon seit langem“ kein Verhältnis – nicht einmal ein feindseliges – zu seinem Geburtsland hat, und das wird ihm „von Zeit zu Zeit beinahe unheimlich“. (306) Mit anderen Worten: Eine derartige Entfremdung kann er nicht mehr akzeptieren. Es stimmt zwar immer noch, dass er keinesfalls die Rolle des „Nationaldichter[s]“ (307) spielen möchte, aber ein wiederkehrender „Geburtsorttraum“ (308) lässt ihn nicht los.[20] Beim Flanieren durch Wien, eine Stadt, die ihm (dem „Dorfmenschen“) in jungen Jahren fremd und einschüchternd vorgekommen war, glaubt er, eine neue „Weltoffenheit“ zu entdecken, und das Land erscheint ihm „nicht mehr so klein“. (318) (Man erinnere sich: Es war einst u.a. die Weite Jugoslawiens, die Handke angezogen hatte.) Das neue oder zumindest als neu empfundene Österreich werde sich „nie mehr zu einem Imperium ausarten“ (318), das heißt: die einstige Größe war ausbeuterisch und zugleich provinziell, die neue dagegen, vertreten durch die junge Generation, neugierig und tolerant. Handke als neuartiger Heimatdichter? Nicht ganz, aber er ist jetzt imstande, im Roman ein solches Bild zu malen: Auf dem „Weltjahrestreffen“ der Maultrommelspieler [Maultrommel = Judenharfe] erspäht er zu seiner eigenen Überraschung Landsleute: „Wer würde einsetzen, mit dem Maultrommeln anfangen? Doch wohl nicht die zwei Österreicher mit den braunen Trachtenanzügen und den Hirschbeinknöpfen, den am Revers totenkopfförmigen? Aber warum nicht?” (342) In der Tat: Warum sollte der Erzähler/Autor den Österreichern nicht genauso unvoreingenommen begegnen wie allen anderen Mitmenschen? Das „Hauptziel“ der mühsamen Reise war von vornherein das „tief[e] Österreich“ (207). Das ließe sich aus meiner Sicht ohne weiteres als „Handkes tiefenpsychologische Beziehung zu Österreich“ (oder aber zu seiner Sozialisation)[21] übersetzen. Im Heimatdorf besucht der Erzähler das Grab seiner Vorfahren; er schläft im alten Haus der Familie, das noch von seinem Bruder bewohnt wird, und bei einem ‚Gespräch’ mit der toten Mutter hört er aus ihrem Mund, dass er „unschuldig“ sei (501). Lange Verdrängtes taucht wieder auf, z.B. der Narzissmus des angehenden Schriftstellers, der das Familienleben „möglicherweise ... zerstört“ hatte (497). In diesem Roman wird überhaupt viel Selbstkritik geübt, ein Novum bei Handke.

Was bleibt? Handke hat sich anscheinend mit seinem „Stammland“ (167) versöhnt, aber er will, wie der ehemalige Autor in der Morawischen Nacht, nicht dort leben. Bei aller Liebe zu seinen slowenischen Wurzeln – die Fabian Hafner in einer äußerst eindrucksvollen Studie beleuchtet hat[22] – hat er mittlerweile eingesehen, dass seine dortige Enklave keine Alternative mehr bietet, und dass es darüber hinaus keine Enklave im geographischen Sinne geben kann:

Wo hatte er begonnen, sein und unser Balkan? Schon lange vor der geographischen und morphologischen Grenzlinie. Balkan, das war zum Beispiel augenblicksweise die Steppe um das verschwundene Numancia in Altkastilien gewesen ... (523) [23]

Was bleibt, ist die „Geographie der Träume“ (557). (Nicht umsonst schrieb der 25jährige: „Die Literatur ist romantisch.“[24] ) Der „ehemalige Autor“ im Roman ringt sich zu einer Erkenntnis durch:

Ein Irrtum, das ging ihm jetzt auf, war dann seine Suche nach den weiten Horizonten gewesen. ... Wie hätte er vergessen können, das der Große Horizont sich, nie von außen, draußen dort, und sei es in noch so ferner Ferne, sehen ließ? Und schon gar nie mit Absicht? (58)

Könnte man daraus Schlüsse ziehen für das ‚Alterswerk’ des Unermüdlichen? Ich für meinen Teil würde damit rechnen, dass sich Handke weiter zu den ‚Tagesthemen’ äußern wird, aber eher mittels öffentlicher Stellungnahmen als in seinen literarischen Werken.

Norbert Gstrein (geb. 1961) ist eher ein Skeptiker als ein Träumer, aber er bemüht sich um eine differenzierte Einschätzung seines älteren Kollegen Handke. Einerseits stellt er fest, beide hätten den gleichen Ausgangspunkt, nämlich „das Beharren auf einem genauen Blick und einer genauen Sprache.“[25] Andererseits glaubt er bei Handke (und übrigens auch bei dessen Kritikern) einen „Irrtum“ zu entdecken, den „Glauben an die Schöpfungskraft der Sprache“, der ihn zu der Vorstellung verleitet habe, „die Dinge erst benennen bzw. ins Wort setzen zu müssen, bevor sie ‚wirklich’ existieren ...“ Man habe nicht gesehen oder aber nicht sehen wollen, dass Handke nicht von der „nackte[n] Wirklichkeit der Wirklichkeit“ erzählen wollte.[26] Handkes Skepsis den Medien gegenüber teilt Gstrein, aber jener habe diese Skepsis „so weit getrieben, dass er nicht weit von einer Verkehrung der Tatsachen entfernt war.“ Handkes „Sympathie für die serbische Sache“ sei „mehr als nur ein wenig penetrant“, aber er sei „in keinem Augenblick eine Gefahr gewesen“[27] , und seine Gegner hätten nicht nur „Moralismus“, sondern auch „Scheinmoral“ gegen ihn eingesetzt. Gstrein bemängelt allerdings, dass die serbische Führung aus Handkes verschiedenen Auftritten und Schriften „symbolisches Kapital“ schlagen könnte: „Gerade weil ich ihn als Schriftsteller schätze, sehe ich Handke ungern bei Milošević in Den Haag oder bei dessen Begräbnis in Požarevac, ich sehe ihn ungern bei Karadžić in Pale mit einem Orden der Republika Srpska an der Brust.“[28]

Gstreins 2003 erschienener Roman Das Handwerk des Tötens [29]war u.a. ein Versuch, dem Leser klarzumachen, dass man Kriege nicht beschreiben kann.[30] Nicht um sein Bild der Jugoslawienkriege entbrannte ein Streit, sondern um seine Verwendung der Biographie des im Kosovo ermordeten Stern-Photographen Gabriel Grüner als ‚Vorlage’ für sein eigenes Werk. Er sah sich gezwungen, seine Methode ausführlich zu erklären, und zwar in dem Band Wem gehört eine Geschichte?[31] In diesem Essay versucht Gstrein, eine Art Mittelweg zu finden zwischen einer am Rande des Kitschs operierenden ‚realistischen’ Schreibweise und einer Literatur, die für sich in Anspruch nimmt, völlig souverän zu agieren. Dagegen setzt er ein Erzählen, das „sowohl gegen ein schieres Diktat des Faktischen als auch gegen eine Abgehobenheit und Unverbindlichkeit der Literatur“ steht. (84) Im Rahmen dieser Ausführungen ist die Motivation hinter Gstreins angehender Beschäftigung mit dem Balkan wichtiger. Anders als bei Handke steht kein familiengeschichtlicher Bezugspunkt dahinter: „ ... es war nicht mein Land, und es war meine Geschichte nur, soweit ich sie dazu machte ...“ (88) Inwiefern handelt es sich dann um ‚seine’ Geschichte? Offensichtlich hat Gstrein gewisse Parallelen zwischen seiner Kindheit im ländlichen Tirol und gewissen Jugo-Zuständen entdeckt, und das nennt er den „Effekt des Wiedererkennens“. (31) Im Handwerk des Tötens wollte er einen Teil seiner „Herkunftsgeschichte“ (31) erzählen, was nicht zuletzt bedeutet, dass er die Grausamkeiten in den jugoslawischen Kriegen nicht als etwas Regional- oder Volksbedingtes darstellen wollte (was er als den „Goldhagen-Fehler“ bezeichnet.[32] ) Zu Hause und südlich der Karawanken seien „die gleiche Ärmlichkeit ..., die gleichen ‚patriarchalischen Strukturen’, die gleichen Männerfiguren ..., die man sich als Krieger vorstellen könnte“ (32) zu finden. Dies ist das Milieu, dem Gstrein – der schon länger in Hamburg lebt – unbedingt entkommen wollte (wie viele aus der Provinz stammende österreichische Schriftsteller).

Das Merkwürdige dabei ist, dass Gstrein in Die Winter im Süden erneut den Kriegsschauplatz Balkan aufgesucht hat, obwohl er betont, dass er diesen Roman „nicht hauptsächlich als einen weiteren Roman zum Thema Jugoslawien“ sieht.[33] Statt dessen dreht sich die Handlung um „drei eintscheidende Daten des vergangenen Jahrhunderts“ (ebd.), nämlich 1945, 1968 und 1989 bzw. 1991. Der Stellenwert Jugoslawiens hänge damit zusammen, dass „dort die letzten Ausläufer der beiden großen Totalitarismen ... noch einmal blutig aufeinandergeprallt“ seien. (ebd.) (Diese Sichtweise weicht von der Betonung des ethnischen Elements ab.[34] ) Es sind drei Hauptfiguren, mittels derer die Darstellung dieser Thematik zur Gestaltung kommt: ein kroatischer Antikommunist, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Argentinien geflohen ist (er heißt einfach „der Alte“), seine Tochter Marija, die ihn seit der frühesten Kindheit nicht mehr gesehen hat, und deren Ehemann Albert, ein ehemaliger Linksradikaler, der inzwischen ein berühmter Wiener Journalist geworden ist. Wie in Das Handwerk des Tötens passiert viel außerhalb Jugoslawiens.

Marija ist zwar in Zagreb, als die Handlung im Herbst 1991 beginnt – die Nachricht, dass ihr Vater lebt, hat ihr „das eigene Leben für immer fremd“ gemacht (9) –, aber dieser Erzählstrang weicht sofort einem Porträt der zerrütteten Ehe von Marija und Albert. Das Geschilderte ist ein banaler Schnappschuss aus dem bürgerlichen Alltag in Wien, abgesehen davon, dass Albert in seiner Jugend ein ‚Revoluzzer’ war, der von radikalen Theorien faselte und seine damalige Freundin Marija nach Strich und Faden heruntermachte, um sie als brauchbare Genossin wieder aufzubauen. Dieser Macho, der seine kleinen Affären nur notdürftig kaschiert, ist so unappetitlich, dass es dem Leser schwer fällt, hinter der rabiaten Demontage eines 68ers einen Menschen zu entdecken. Offensichtlich begleicht Gstrein hier alte Rechnungen (und dies nicht zum ersten Mal). Albert ist der Prototyp des „Fernfuchtlers“ (so hat Handke einst die besserwisserischen Journalisten getauft, die alles wissen, ohne etwas mit eigenen Augen gesehen zu haben)[35] , der das Jugoslawien der Partisanen romantisiert, um später vor einer Wiederkehr des Faschismus zu warnen. Albert hat keine Verbrechen auf dem Gewissen (über „das Sandkastenspiel eines Wirrkopfs“ ging er nie hinaus) aber beim „Alten“ ist es anders.

Durch den ganzen Roman hindurch arbeitet Gstrein – so scheint es zumindest - am Porträt eines Bilderbuchfaschisten. Mit Hilfe des Vatikans entkommt der „Alte“ den Partisanen, und in Argentinien beginnt er ein neues Leben – nachdem er die Lüge verbreitet hat, Frau und Tochter seien im Weltkrieg umgekommen. Die erste argentinische Ehefrau kann er dank guten Beziehungen zu den Militärs verschwinden lassen, und die zweite schlägt er. Aus den beiden Töchtern mit der zweiten argentinischen Frau will er unbedingt Kroatinnen machen (er nennt sie „Töchter der Adria“ – 127), und seine beiden Schäferhunde nennt er “Capitán” und “El Teniente” [der Leutnant] (38). Die Beschreibung seines Äußeren lässt auch keine Klischees aus:

Sein Gesicht war braungebrannt, das millimeterkurze Haar in scharfem Kontrast dazu weiß, die Augen von klarem Blau ..., dieses bullig Gedrungene ..., diese Ungebrochenheit der Ausstrahlung mit siebzig Jahren ..., diese erschreckende Klarheit eines Mannes mit Prinzipien ... (37)

Als Neu-Einwanderer hat er anstrengende Bergtouren gemacht und ist in einem „eiskalten“ See geschwommen (53), um sich für den kommenden Kampf in der alten Heimat abzuhärten. Er ist ein ausgezeichneter Schütze, der öfter am Schießstand im Keller seines Hauses übt. Nach der Übung trinkt er mit Kumpanen „eine Flasche Slibowitz auf die erschossenen Genossen“ (139). Der Leser, der das alles weiß, rechnet wohl damit, dass der „Alte“ gleich bei Ausbruch der jugoslawischen Kriege mit einem Sturmgewehr an die Front eilen wird – aber weit gefehlt. Er fährt zwar nach Kroatien, doch an den Kämpfen nimmt er nicht Teil. Stattdessen beschäftigt er sich mit der eigenen Vergangenheit sowie mit der Suche nach der Tochter Marija. Beide Projekte scheitern, denn der „Alte“ wird von einer jungen Frau – der Tochter einer Kommunistin – erschossen, weil er sie als Hure missbrauchen will. Man erfährt sogar, dass er in den 40er Jahren ein „Feigling“ (249) war. Der eigentliche Faschist – und „pathologisch[e] Antisemit“ (89) ist der kroatische Priester Don Filip, der im Argentinien der Junta als Folterknecht („Spezialist für schwere Fälle und Sonderaufgaben“) und „Beichtvater“ dient (79), und, so wird gemunkelt, schon in Kroatien Wächter in einem Lager war. Er bleibt aber eine Randfigur.

Albert und der „Alte“ sind Gestalten, die mit einer Maske durchs Leben gehen. Bei Marija ist das nicht der Fall, denn sie ist diejenige, die jahrelang versucht, herauszubekommen, wer sie eigentlich ist. Es ist diese Art von weniger festgelegter Figur, die Gstrein bevorzugt.[37] Marija ist irgendwie Wienerin geworden – sie lehrt serbokroatisch (eine Sprache, die es offiziell nicht mehr gibt) an der dortigen Universität – aber Kroatien betrachtet sie immer noch als die Hauptquelle ihrer Identität. Sie fährt immer wieder hin, und auch der Ausbruch der Kriege hindert sie nicht daran: „Immerhin war es ihre Heimat ...“ (14)[38] (Sie sagt das mit einer Selbstverständlichkeit, die bei keiner österreichischen Gestalt zu vorzufinden wäre.) Leider entschied sich Gstrein, ihre Identitätssuche vor allem im Bett stattfinden zu lassen: Marija verliebt sich in einen viel jüngeren kroatischen Soldaten namens Angelo (ihr rettender Engel etwa?), der sie an ihren Vater erinnert (auf den alten Fotos trägt Letzterer als Fallschirmjäger auch Uniform). Angelo kennt keine Hemmungen, und Marija durchlebt eine Art Rauschzustand (“Das war nichts, was sie ihren Freundinnen hätte erzählen können …” – 116).[39] Dieser Angelo ist nicht nur ein erfahrener Liebhaber, sondern auch ein gewiefter Kommentator des Kriegsgeschehens, der à la Handke die westlichen Berichterstatter (u.a. Marijas Mann Albert) als ahnungslos geißelt (109). Obwohl er nicht besonders patriotisch ist, geht er nach mehrfacher Verwundung wieder an die Front, und er nennt Marija eine “groteske Romantikerin, die ihr Schicksal unnötig herausfordert“ (269). Angelo entspricht also keinesfalls der Schablone des kroatischen Schlägertyps in der Nachfolge der Ustascha-Faschisten aus den 40er Jahren. Der Leser ist aber verblüfft, als er erfährt, dass Marija diese Schlüsselfigur in ihrem Leben schlicht und einfach vergisst. In Wien liest sie in der Zeitung, dass die Stadt Vukovar inzwischen gefallen ist, “[o]hne sich auch nur einen Gedanken über das Schicksal von Angelo [der dort an der Front kämpfte] zu machen“ (281). Hat dieser Angelo wirklich existiert? Gab es tatsächlich diese Liebesgeschichte? Im Text des Romans fehlen einschlägige Hinweise. Hat Gstrein in erster Linie versucht, vor der balkanischen Kulisse den Beweis zu erbringen, dass unsere Wahrnehmung notwendigerweise verzerrt ist, auch wenn uns gesagt wird, etwas sei schwarz-weiß, im Krieg oder sonst?

Wäre das der Fall, so könnte man Die Winter im Süden in der Tat nicht als ‚Jugoslawien-Roman’ etikettieren. Dabei ist Gstrein wirklich gut informiert, und er hat mehrere Balkan-Reisen (teilweise den Spuren Handkes folgend) hinter sich. Warum also überhaupt Jugoslawien? Eine mögliche Antwort auf diese Frage lässt sich in einem Interview finden. Da geht es um die Figur des „Alten“, der sowohl Opfer als auch Täter gewesen ist und „nach einem halben Jahrhundert in der Hoffnung wieder auftaucht, seine verstiegenen Ideen in einer neuen politischen Situation in die Tat umsetzen zu können“.[40] So eine Konstellation könne man mit österreichischen oder deutschen Figuren nicht machen, denn „die letzten alten Nazis in Argentinien und anderswo ..., das sind lebende Tote“.[41] Mit dieser Aussage distanziert sich Gstrein bewusst von vielen linken SchreibkollegInnen in Österreich, die ständig vor einer Neuauflage des Nationalsozialismus warnen. Hierin ist er sich mit dem ‚späten’ Peter Handke einig.

Endnoten

1 Aus dem Vortrag wurde ein Aufsatz, der in dieser Zeitschrift erschien: "’Das Handwerk des Berichtens’: Die Medienkritiker Handke und Gstrein als Balkan-Kundschafter”, in Glossen 21 (2005). URL: >http://www.dickinson.edu/glossen/heft21/rosellini.html<

2 Jack Hitt, “Radovan Karadzic’s New-Age Adventure,” New York Times Magazine, July 26, 2009, 24-29, 44.

3 Peter Handke, Die Morawische Nacht. Erzählung (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008). 561 S. Seitenangaben aus dieser Ausgabe im Text dieses Aufsatzes.

4 Norbert Gstrein, Die Winter im Süden (München: Carl Hanser Verlag, 2008). 284 S. Seitenangaben aus dieser Ausgabe im Text dieses Aufsatzes.

5 Keines der beiden Werke wurde für die “Shortlist” ausgewählt. Preisträger wurde Uwe Tellkamp mit seinem DDR-Panorama Der Turm. Handke verzichtete auf die Nominierung „zugunsten der anderen Gelisteten, vor allem der jüngeren“. Vgl. „Deutscher Buchpreis. Handke verzichtet auf Nominierung“, Frankfurter Rundschau, 4. April 2008.

6 Peter Handke, Die Tablas von Daimiel: ein Umwegzeugenbericht zum Prozess gegen Slobodan Milošević (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006). Erstdruck in der Zeitschrift Literaturen, Heft 7/8, 2005, 84-103. Laut Sigrid Löffler, Herausgeberin von Literaturen, ist der Essay „halb Reiseerzählung, halb Medien- und Prozesskritik“. Vgl. „Neuer Jugoslawien-Text Handkes“, APA-Meldung in Der Standard, 21. Juni 2005. In den Tablas erfährt man, dass Handke eher ein stummer Zeuge als ein Gesprächspartner war, als er mit Milošević zusammenkam: Einen „ganzen Vormittag lang“ redete der Gefangene von den Anfängen der Sezessionskriege. Ein derartig intensives Politisieren war aber nicht unbedingt das, was der Besucher im Kopf hatte: „Zwischendurch wünschte ich, es käme auch einmal auf anderes, Nebensächliches, ja Nichtiges die Rede, und flüchtete mich, mitten im konzentrierten Zuhören, immer wieder in die Betrachtung des einzelnen, in der Tat sehr einzelnen Grashalms, wie er am Fuß der Mauer dicht hinter dem Bürofenster kaum schwankte, während rund um das Gefängnis doch ein wüster Nordseesturm herrschte ...“ (36)

7 Matthias Rüb, “Besuch bei Slobodan,” Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Juni 2005. Zu diesem „Monolog“ bemerkt Handke: „Daß ich dabei kaum zu Wort kam, war mir nur recht. Trotzdem hätte ich ab und zu gern etwas gefragt – nicht etwa zum Problem, sondern zu etwas ganz und gar anderem, vor allem Unproblematischem – etwas, was mit dem Fall oder Prozeß nichts zu schaffen hatte.“ Die Tablas von Daimiel, a.a.O., 40.

8Mateo Taibon, “Verehrung für Nationalismus und Völkermord: Peter Handkes Besuch bei Milosevic", pogrom – bedrohte völker 232, 4/2005. URL: >http://www.gfbv.it/3dossier/bosnia/handke.html<

9 Dass gerade dieses Stück (Uraufführung 1990 am Wiener Burgtheater: Regie Claus Peymann) von der Bühne verbannt wurde, hatte kultur- und theaterpolitisch keinen Sinn: „Handke eröffnet einen archaischen Raum traumhafter Existenz, versucht die Topographie der Gegenwart jenseits der konkreten Historie an archetypische Gestalten anzuschließen.“ Aus: Franziska Schößler, Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre (Tübingen: Gunter Narr Verlag, Forum Modernes Theater Schriftenreihe, Bd. 33, 2004), 193. Bereits die Widmung ist von einer politischen Aussage weit entfernt („für Ferdinand Raimund, Anton Tschechow, John Ford und all die anderen“), und dem eigentlichen Text ist ein Zitat aus Dantes Vita Nova vorangestellt. Vgl. Peter Handke, Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989), 5 und 7.

10 Vgl. J.A., “Peter Handke. Heilige Allianz,” Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Mai 2006.

11 Elfriede Jelinek, “Aus gegebenem Anlaß, aber ich habe ihn nicht gegeben, ich habe ja nichts zu geben, und ich habe nichts zuzugeben (Handke/Heine)“, Text auf ihrer Homepage >http://www.elfriedejelinek.com/< vom 30. Mai 2006. Nachdruck in Der Standard, 1. Juni 2006.

12 Vgl. “Erneut heftige Handke-Kritik“, dpa-Meldung in Der Standard, 29. Mai 2006.

13 Stölzl verkündete, er “bedauere” diese Entscheidung persönlich, glaube aber, dass die Politiker wegen der Preisbestimmungen so handeln mussten: „Auszeichnungswürdig sind demnach Persönlichkeiten, die sich den Grundrechten des Menschen, dem sozialen und politischen Fortschritt, der Völkerverständigung und der Zusammengehörigkeit aller Menschen verpflichtet fühlen.“ Wer die aufgelisteten Begriffe definieren darf, sagte er nicht. Vgl. „Handke wehrt sich“, Die Zeit, 04/2006. Im Internet stellte die FAZ ein Dossier zur Kontroverse zur Verfügung. URL: >http://www.faz.net/s/Rub1DA1FB848C1E44858CB87A0FE6AD1B68/Doc~E81EAD6B1BC2644BDBB66F5D89B32F08A~ATpl~Ecommon~Sspezial.html< Im Jahr 2009 gab es eine ähnliche Auseinandersetzung um den Hessischen Kulturpreis. In diesem Fall hing der Konflikt allerdings nicht mit dem Balkan, sondern mit dem Nahen Osten zusammen. Vgl. dazu Christina Tilmann, „Hessischer Staatspreis: Über Kreuz“, Der Tagesspiegel, 15. Mai 2009.

14 Zitiert nach Hubert Spiegel, “Heine wird verhöhnt“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Mai 2006.

15 Das gesammelte Geld wurde einer serbischen Enklave im Kosovo übergeben. Vgl. „Serbien: Peter Handke unterstützt Nationalisten“, Süddeutsche Zeitung, 23. Januar 2008.

16 Peter Handke, “Was ich nicht sagte”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Mai 2006. In der Süddeutschen Zeitung vom 31. Mai 2006 veröffentlichte er unter dem Titel „Am Ende ist fast nichts mehr zu verstehen“ eine [so die Redaktion] „vom Autor bearbeitete, veränderte und ergänzte Fassung zweier Artikel, die in der französischen Tageszeitung Libération erschienen sind“. Darin heißt es u.a.: „Lernen wir die Kunst des Fragens, reisen wir ins sonore Land, im Namen Jugoslawiens, im Namen eines anderen Europas.“

17 Martin Meyer und Andreas Breitenstein, “Der lange Abschied von Jugoslawien,” Neue Zürcher Zeitung, 17. Juni 2006. Eine Übersetzung ins Englische bietet signandsight.com unter dem Titel „A Long Farewell to Yugoslavia“ (>http://www.signandsight.com/features/819.html<), 22. Juni 2006.

18 Vgl. Peter Handke, Abschied des Träumers vom Neunten Land: eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerung an Slowenien (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991). Darin heißt es: „Ein ‚Slowene’ wurde ich nie, ... trotzdem habe ich mich in meinem Leben nirgends auf der Welt als Fremder so zu Hause gefühlt wie in dem Land Slowenien.“ (11)

19 Handke ist im Kärntnerschen Griffen geboren, aber hier spricht er von „Stara Vas“ (Altendorf), das eigentlich ein Ortsteil der Gemeinde Sittersdorf ist. Stara Vas wird auch mit dem legendären Samarkand in Verbinung gebracht, was eine Mythologisierung impliziert. (559)

20 Ein “Zwischenfrager” behauptet, der Erzähler träume inzwischen “von ganz Österreich“. (311) Dies legt nahe, dass es sich nicht nur um nostalgische Kindheitserinnerungen handelt.

21 Dies gilt auch für Deutschland: Der Erzähler besucht auch den Harz, wo sein Vater herkam, und bemerkt: „Ein friedlicheres Land als dieses sollte er nicht durchwandert haben, weder vorher noch nachher.“ (291)

22 Fabian Hafner, Peter Handke. Unterwegs ins Neunte Land (Wien: Paul Zsolnay, 2008).

23 Vgl. dazu Hafner (Anm. 22): “Handke selbst hat mit seinem Abschied von Slowenien auch auf seine (re-)konstruierte Herkunft verzichtet: ein Befreiungsakt ...” (141) Der österreichische Autor und Journalist Karl-Markus Gauß hat den ‚Träumer’ Handke m.E. treffend charakterisiert: „Ich glaube, Handke hat eine große und humane Sehnsucht nach einer Welt, in der nicht alle Dinge des Lebens, nicht alle Beziehungen der Menschen vom Geld, vom ökonomischen Verwertungszusammenhang verunstaltet sind. Dass die Welt eine andere sein könnte, ist ein Traum, den die Literatur nicht aufhören darf zu träumen. Heikel ist es aber, wenn man diese Utopie an einem bestimmten Ort oder gar in einem bestimmten Staat erkennen möchte, ob dieser Staat nun Serbien oder sonst wie heißt.” Vgl. Harald Klauhs und Norbert Mayer, “Interview [mit K-M Gauß]: Das Gemeine an der Weltgeschichte”, Die Presse, 6. März 2007.

24 Peter Handke, “Die Literatur ist romantisch” (1967) in ders., Meine Ortstafeln, meine Zeittafeln 1967-2007 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007), 53-63. In der Morawischen Nacht sagt der Journalist und Schriftsteller Melchior (sein „Todfeind“ – 474) zum Ex-Autor: „Den ernstzunehmenden Autoren brannten die Probleme der Gegenwart auf den Nägeln – und er? Er kaute höchstens ratlos an denen herum. Schicksale, Charaktere, Aktionen: nichts für ihn. Der Klimawandel; das Ozonloch; die Erotik; … für ihn kein Thema. Nirgends zeigte er ein Herz für seine Zeitgenossen.“ (536)

25 “Eine Figur, die sich verrannt hat” [Gunther Nickel interviewt Norbert Gstrein], VOLLTEXT Online, 2008. URL >http://volltext.net/magazin/magazindetail/article/4492/<.

26 Dies erinnert an Adalbert Stifters Umgang mit der “Wirklichkeit”. [Für diesen Hinweis bin ich Peter Pfeiffer dankbar.]

27 Das bemerkt Handke selbst: “Als ich meine erste Reiseerzählung geschrieben habe, die „Winterliche Reise“, dachte ich noch, ich könnte etwas ausrichten. Im Grund habe ich freilich gar nichts ausgerichtet, außer dass ich in ein Bombenhornissennest stach mit Worten.“ Aus: Peter Handke / Peter Hamm, Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo (Göttingen: Wallstein Verlag, 2006), 182f.

28 Harald Klauhs, „Die toten Augen auf dem Tisch. Ein Gespräch mit Norbert Gstrein über Radovan Karadzic und Peter Handke, über Krieg, Faschismus und Fehden – und über seinen neuen Roman, Die Winter im Süden“, Die Presse, 15. August 2008.

29 Norbert Gstrein, Das Handwerk des Tötens (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003).

30 Damals formulierte er das in einem Essay folgermaßen: „Es kann kein gelingendes Schreiben über den Krieg geben. Ein Schreiben über den Krieg muss das Schreiben selbst, das Misslingen des Schreibens über den Krieg thematisieren.“ Aus: N.G., „Ich werde bei jeder Berührung mit der Wirklichkeit beklommen,“ Süddeutsche Zeitung, 28. April 2004.

31 Norbert Gstrein, Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen die Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens (Frankfurt am Main: Suhrkampf, 2004).

32 Aus dem VOLLTEXT-Interview (Anm. 25): „Man macht übrigens einen großen Fehler, den Goldhagen-Fehler, wenn man meint, der Faschismus sei etwas geradezu genetisch Bedingtes, und der Fehler ist gemacht worden, als man glaubte, der Gegensatz ‚faschistisch, antifaschistisch’ würde sich genauso sauber in der ethnischen Trennung ‚kroatisch, serbisch’ widerspiegeln.“

33 VOLLTEXT-Interview, s. Anm. 25.

34 Dazu Gstrein in einem Interview: „Ich glaube auch nicht, dass das in Jugoslawien wirklich ein ethnischer Konflikt gewesen ist, sondern dass die ethnischen Differenzen nur von Politikern instrumentalisiert worden sind, sowohl auf serbischer wie auf kroatischer Seite, also von Milošević und Tudjman.“ Aus: Harald Klauhs, „Die toten Augen auf dem Tisch“ (s. Anm. 28).

35 In Handkes Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996) heißt es wörtlich: “ Nichts gegen so manchen – mehr als aufdeckerischen – entdeckerischen Journalisten, vor Ort …, hoch diese anderen Feldforscher! Aber doch einiges gegen die Rotten der Fernfuchtler [meine Betonung], welche ihren Schreiberberuf mit dem eines Richters oder gar mit der Rolle eines Demagogen verwechseln, und, über die Jahre immer in dieselbe Wort- und Bildkerbe dreschend, von ihrem Auslandshochsitz aus auf ihre Weise genauso arge Kriegshunde sind wie jene im Kampfgebiet.” (122f.) Gstrein bezieht sich auf den Terminus “Fernfuchtler” im VOLLTEXT-Interview (s. Anm. 25).

36 So Gstrein im VOLLTEXT-Interview (s. Anm. 25).

37 Der Wiener (eigentlich: Wien-Hütteldorfer) Ex-Polizist Ludwig, der in Argentinien (und zuletzt Kroatien) zeitweise für den “Alten” arbeitet, ist auch so eine Figur. Er verarbeitet die Ermordung seiner Kollegin/Geliebten Nina (den Mörder hat er selbst erschossen), indem er aus dem „finsteren, barbarischen Kontinent namens Europa“ flieht (144). Als Geschiedener hat er kaum noch Kontakt zu seiner Tochter in Graz, und ausgerechnet mit Claudia, der Ehefrau des „Alten“, hat er eine Affäre. Die politischen Machenschaften des „Alten“ (er sei „ein bißchen irr“, aber „harmlos“ – 62) bagatellisiert er. Er quittiert seinen merkwürdigen ‚Dienst’ bei ihm, wird aber später „noch einmal anfällig für sein Werben“ (165). Sein Leben ist dominiert von dem „Gefühl einer alles umfassenden Unwirklichkeit“ (218).

38 Im Gegensatz dazu sehnt sich der “Alte” nach Argentinien, nachdem er in Zagreb angekommen ist (225). Eine solche Zerrissenheit ist Marija fremd.

39 Interessanterweise weigert sich Angelo, Marija zu schlagen: “Versuchen Sie es einmal mit einem richtigen Barbaren.” (114)

40 VOLLTEXT-Interview (s. Anm. 25).

41 ebenda.