Glossen 29

Thomas Ferdinand
Die Blutmauer

Links, zwei, drei. Links, links, links zwo, drei marschierten wir zukünftigen Thälmannpioniere in unseren weißen, frisch gebügelten Blusen, kurzen Hosen -- die Mädchen natürlich in kurzen Röcken -- Kniestrümpfen und dunklen Schuhen von dem kleinen Hügel, auf dem unsere Schule stand, über die Siegfriedstraße in Richtung Knochenpark.

Niemand wusste genau, warum wir, aber auch unsere Eltern und Nachbarn ihn Knochenpark nannten. Einige meinten, dass dort einmal ein Friedhof gewesen sei. Andere wollten gehörten haben, dass unter dem gepflegten Rasen nach einem der letzten Luftangriffe auf Berlin die verbrannten, erschlagenen oder verkohlten Körper der Bombenopfer verscharrt worden waren. Aber wer von uns wusste schon, was stimmte.

Ich lief als Letzter in der dreireihigen Kolonne. Gitta marschierte ganz vorne, noch vor der ersten Reihe. Über ihrer rechten Schulter trug sie einen Speer, an dessen Spitze ein blauer Wimpel geknüpft war, der nun hinter ihr herunterhing. Genau vor mir versuchte Atze, der eigentlich Joachim hieß, sich dem Linkszwodrei-Rhythmus der kleinen Kolonne anzupassen. Aber seine Beine schienen ihm nicht richtig zu gehorchen. Er schritt zu weit aus, trat Klaus in die Hacken, wechselte hastig den Schritt und verhedderte sich deshalb um so mehr in den Beinen seines Vorgängers, Jürgen, dem die schwarzen Kniestrümpfe gerade auf Halbmast rutschten.

Iie h, kuckt mal, da kommt ne knöcherne Hand aus dem Blumenbeet.“ Das war Peter, unser Klassenclown, einer der Kleinsten in der 5a. „Halt die Schnauze Kleener“, rief Eberhard von Mitte links. „Die Knochen können gar nicht rauskucken. Die haben sie viel zu tief eingegraben.“ “Linkszwodrei." "Aufrücken im hinteren Glied”, rief es von vorne. Das war unser Gruppenführer Peter, der rechts außen in der ersten Reihe marschierte. Damit war ich gemeint. Peter war Peter-Alexander-Fan. Er lief mit durchgedrücktem Rücken, sein eigentlich welliges Haar mit einer Unmenge Haarcreme an den Kopf geklatscht. So ein fettiger Affe, dachte ich. Daß er so nahe hinter Gitta lief, ärgerte mich. Wie sie uns da voran marschierte, ihr langes, braunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, mit ihren glänzenden Augen, ihrer weißen Bluse, die auf Brusthöhe ein wenig abstand, dem blauen Rock und dem Speer über der Schulter, schien sie mir schöner als alle anderen Mädchen in der Klasse.

Links neben mir ging unsere Pioniergruppenleiterin, Frau Baum. Eigentlich war sie unsere Heimatkundelehrerin und eine Respektsperson, aber wir mussten sie Monika nennen, wenn sie in ihrer Funktion als Leiterin der Pioniergruppe Dienst hatte. Dienst hatte sie meist am Nachmittag. Mit ihrer blauen FDJ-Bluse, dem schwarzen Rock und ihrer schwarz umrahmten Brille sah sie an diesen Tagen immer besonders streng aus. Und heute Nachmittag hatte sie Dienst. “Klaus, aufschließen”, munterte sie mich mit leicht erhobener Stimme auf. Schnell schloß ich auf, trat aber dafür Atze in die Hacken, der nun vollends verwirrt war, plötzlich mit einem Schritt aus der Reihe ausscherte und sich auf einem Bein hüpfend an den linken Hacken faßte. „Joachim, zurück in die Reihe“, rief Monika. Ich schämte mich für ihn und für mich.

Heute war ein besonderer Tag für uns Zwölf aus der 5a. Es war der Tag, der von der Schule ausersehen war, aus uns Thälmannpioniere zu machen, ein äußeres Zeichen, daß wir älter geworden waren. Und das waren wir ja auch. Immerhin würden wir bald in der sechsten Klasse sein. „Linkszweidrei“, wir liefen auf der rechten Seite des Sandwegs. Links standen in Abständen von etwa zwanzig Metern braun gestrichene Holzbänke, auf denen alte Frauen, manchmal auch ein älterer Mann, saßen, die Tauben mit kleinngeschnittenen Brotwürfeln fütterten, miteinander sprachen, aber verstummten, als wir an ihnen vorbeimarschierten, und uns teils erschrocken, teils verwundert nachschauten. Warum eigentlich? Ich konnte es mir nicht erklären, wurde aber auch gleich wieder abgelenkt, so dass zum Überlegen keine Zeit mehr war.

Die Kastanienbäume trugen ihre ersten hellgrünen Blätter. Bienen taumelten von Blüte zu Blüte auf den wilden Rosen in den frisch geharkten Blumenbeeten. Ein schneller Blick auf die Beete; keine Knochenhand daneben, stellte ich beruhigt fest. Linkszweidrei, unsere Kolonne bog dem Weg folgend nach rechts ab. Links tauchte nun eine verfallene Mauer aus rotem Backstein auf, an der ich schon oft mit meinen Eltern vorbeigegangen war, wenn wir von der S- oder U-Bahn-Haltestelle Frankfurter Allee kommend durch den Park nach Hause liefen.

Monika lief auf einmal nach vorne, flüsterte schnell etwas zu Peter, und stellte sich dann wieder neben mich. Da rief Peter mit hoher Stimme: “Abteilung halt!“, worauf ein „Pioniere, links um” folgte, das aber auf einmal ganz krächzend, dann tief aus seinem Mund kam. Ich mußte lachen, schämte mich aber sofort wieder, drehte mich rechts um, merkte meinen Fehler, stolperte und drehte mich hastig nach links, wobei ich mich an Atze ausrichtete. Jetzt war Monikas Blauhemd genau vor mir. Sie ging dann aber schnell vor unseren Trupp und rief mit lauter Stimme: “Pioniere, heute ist ein wichtiger Tag in eurem Leben. Eure Entscheidung, euch in die Reihen der Thälmannpioniere einzuordnen, zeugt von eurem hohen politischen Bewußtsein. Ich bin sicher, ihr seid euch der hohen Ehre, die damit verbunden ist, bewußt. An der Seite der sowjetischen Pioniere gehört ihr nach der Ableistung eures Pionierschwurs zum Friedensaufgebot unserer Partei, der Partei der Arbeiterklasse." Mit euren guten Taten, den vorbildlichen Altstoffsammlungen und euren guten Leistungen in der Schule und im Sport beweist ihr den Bonner Ultras, daß ihre kriegstreibende, Deutschland spaltende Politik keine Chance hat." Unwillkürlich wischte ich meine feuchten Hände an meinen Hosen ab. "Was war bloß ein Bonner Ultra? Und warum wollten die Krieg?" Monikas Worte schienen nun aus weiter Ferne zu kommen. "Bevor ich euch das rote Halstuch und das Abzeichen der Thälmannpionier verleihe, werdet ihr den Schwur der Thälmannpioniere leisten. Euer Schwur hat an dieser Stelle eine besondere Bedeutung, denn ihr leistet ihn vor der Blutmauer, der Mauer an der im Jahre 1918 drei Spartakisten von der Soldateska des Sozialdemokraten Noske erschossen wurden. Bitte sprecht mir nach.“ Sie holte ein kleines Büchlein hervor und las, nach dem Ende jedes Satzes ein „Ja, das gelobe ich“ erwartend:

„Ernst Thälmann ist unser Vorbild. Als Thälmannpioniere geloben wir, so zu leben, zu lernen und zu kämpfen, wie es Ernst Thälmann lehrt. Getreu unserem Gruß sind wir für Frieden und Sozialismus immer bereit.“

„Ja, das geloben wir!“

„Wir Thälmannpioniere lieben unser sozialistisches Vaterland, die Deutsche Demokratische Republik.“

„Ja, das geloben wir.“

Nach dem zweiten „Ja das geloben wir“ merkte ich, wie mein Hemd an den Achselhöhlen zu kleben begann. Zu gern wollte ich mich nach der roten Mauer hinter mir umdrehen, weil ich wenigstens die Namen der erschossenen Spartakisten auf der Plaquette herausfinden wollte und auch brennend gern gewußt hätte, wie alt sie geworden waren. Doch dann wurde ich abgelenkt, weil ich auf einmal ganz nötig auf die Toilette mußte -- auch das noch --, was aber in dieser feierlichen Situation unmöglich schien. Außerdem gab es da sowieso keine, und einfach hinter einem Baum verschwinden, war auch nicht drin. So unauffällig wie möglich trat ich von einem Bein auf das andere, wobei ich Monikas Sätze kaum noch verstand, weil ihre Worte irgendwie aus ihrem Satzzusammenhang zu fallen schienen. „In Wort und Tat, Arbeiter- und Bauernmacht, stolz, rotes Halstuch, enge Verbundenheit, mit Walter Ulbricht an der Spitze…“

Trotzdem, "ja, das geloben wir", hörte ich mich wieder und wieder sagen.

Mir wurde heiß und schwummrig. Könnte ich mich wie die Spartakisten an der Mauer für die "gute Sache" opfern? Meinte ich dieses: „Ja, das gelobe ich", fühlte ich die Verpflichtung so ernsthaft, wie sie gemeint war, konnte ich den Anforderungen, die dieser Schwur an mich stellte, gerecht werden? Galt der Schwur nun für immer? Glücklicherweise ließ nun der Druck in meiner Blase nach.

Dann fragte ich mich aus Gründen, die ich schon auf dem Marsch zurück in die Schule nicht mehr verstand, ob wir diesen Schwur eventuell mit Blut unterzeichnen müßten. Unwahrscheinlich, aber möglich schien es mir schon. Schließlich hatten Heinz und ich das auch tun müssen, als wir uns Blutsbrüderschaft schworen. Die Idee dazu kam aus Mark Twains Tom Sawyer, wo Huck und Tom sich den Arm mit einem alten Nagel aufritzten und ihr Blut miteinander vermischten. Heinz’ älterer Bruder hatte uns diese Stelle vorgelesen, als wir noch in der zweiten Klasse waren, und uns dann feierlich einen eben solchen Nagel gegeben, mit dem wir unsere mageren Oberarme zum Bluten brachten, das Blut vermischten und damit unsere Namen in Rot auf ein Stück Papier schrieben. Würde Monika mit einem Nagel kommen?

Sie kam nicht. Aber sie band jedem Einzelnen von uns das rote Halstuch um und steckte uns das Abzeichen der Thälmannpioniere an die Bluse, links dort, wo die Brusttasche war und unter der wir das Herz vermuteten. Bei Gitta schien sie besonders vorsichtig zu sein. Ich war stolz auf das rote Halstuch, und doch war es mir auch irgendwie peinlich, denn ständig kamen Leute an uns vorbei, die, so fühlte ich es jedenfalls, das Zeremoniell störten. Die Hastigen waren kein Problem, die liefen nach Hause und beachteten uns nicht, aber die langsamen Spaziergänger machten einen Bogen um uns und sahen uns, wie die alten Leute auf der Bank, merkwürdig an.

Ich aber war endlich einer von denen, die sich wie sowjetische Pioniere in unserem Lehrbuch im Großen Vaterländischen Krieg vor ein Maschinengewehr der Faschisten warfen oder wichtige Nachrichten an Partisaneneinheiten überbrachten. Es war als hätte ich eine neue Welt betreten. „Thählmannpioniere, rechts um. Im Gleichschritt marsch!“, befahl uns Peter. Und stolz auf unseren neuen Status, stolz auf unser neues rotes Halstuch, marschierten wir zur Schule zurück. Ich war mir sicher, daß ich es vorerst nicht abnehmen würde, auch wenn mich einige der weniger klassenbewußten Schüler hänseln würden und ich mir auch selbst ein wenig komisch vorkam.