Glossen 29

Michael G. Fritz

Der Riß

War da nicht etwas: ein Geräusch, als wenn jemand die Wohnungstür aufschließt oder zögernd über die knarrenden Dielen im Flur geht. Sie richtete sich auf, erschrocken und mit einemmal hellwach, und versuchte, durch die Ritzen ihrer Tür das Licht im Flur zu erkennen, das die Eltern eingeschaltet hätten. Aber dort war es ebenso dunkel wie in diesem Zimmer. Sie hielt die Luft an, um gespannt in den Flur zu lauschen -- nichts war mehr zu hören, ganz sicher nicht. Sie schob den Gedanken daran weg, daß ein Fremder in der Wohnung sein könnte; sie nahm es oft genug an, immer wenn die Eltern abends fort waren, nahm sie es an, und es hatte nie gestimmt. Aber sie konnte nicht wieder einschlafen. Vielleicht waren die beiden schon da. Sie rief, und als keine Antwort kam, stand sie auf, lief im Nachthemd über den Flur und öffnete die Tür zur Küche. Doch in dem Raum traf sie niemanden, ebenfalls nicht im Wohnzimmer.

Sie setzte sofort den Fernseher in Gang, wie gewohnt drückte sie auf den passenden Knopf. Alles wäre ihr recht gewesen, falls es nur noch etwas gegeben hätte, sogar Nachrichten. Manchmal sah sie in dieser Sendung jene Männer, die die gleiche Uniform trugen wie ihr Vater; diese Männer standen auf Plätzen vor Gebäuden oder am Straßenrand, sie blickten abweisend und verzogen keine Miene, und sie konnte nicht lassen, sein Gesicht zu suchen. Obwohl sie es noch nie gefunden hatte, gab sie nicht auf. Aber eigentlich war es unmöglich, das Gesicht des Vaters zu finden, weil er ein solches Gesicht nicht hatte: Sie vermochte nicht sich vorzustellen, daß er ein Gesicht haben könnte wie diese Männer. Die Uniform jedoch gehörte zum Vater, als wäre sie ein Teil von ihm. Trug er sie nicht, das feste Tuch mit glänzenden Knöpfen und Sternen auf den Schultern, die Stiefel machten ihn größer, viel größer als er ohnehin schon war, und mitsamt der Mütze schien er kaum durch die Tür zu passen -- trug er die Uniform nicht, wirkte er, als wäre er nicht richtig angezogen oder verkleidet. Sie reichte ihm bis zum Bauch, über den das Schloß ging, das den Ledergürtel zusammenhielt; wenn sie ihn anschaute, schaute sie auch auf das Schloß, wo ein Hammer und ein Zirkel abgebildet waren. Koppelschloß, sagte der Vater. Es glänzte, wie die Knöpfe glänzten.

Auf allen Programmen erschien das gleiche graue, flackernde Bild, begleitet von einem dumpfen Rauschen. Sie nahm im Sessel gegenüber Platz, zog die zusammengepreßten Knie ans Kinn und das Nachthemd straff. Es war Herbst, und es war schon kalt im Zimmer, aber sie fror nicht. Sie starrte auf das Bild.

Heute, am Samstag, waren sie wieder fort. Soweit sie zurück-denken konnte, gingen die Eltern samstags aus, und kamen sie in der Nacht vom Tanz heim -- Mutter nannte es Vergnügen; aber was war denn Vergnügen, wenn nicht Tanz? --, verströmten sie den anhaltenden Geruch von Zigarettenrauch und Bier, und nebenan im Bett lachten sie. Sie lachten gedämpft, schlüpften unter die Decke, bewegten sich jedoch so, daß die Decke hinunterrutschte und den Blick freigab auf ein merkwürdig zuckendes Knäuel, in dem sie Mühe hatte, ihre Eltern auseinander zu halten. Weshalb bloß mußten sie sich bewegen? Sie sahen immer wieder verstohlen zu ihr hinüber. Dann nicht mehr.

In der letzten Zeit zog er abends oft die Uniform an und ging. Etwas mußte geschehen sein, von dem sie nicht wußte, was es war, aber es mußte etwas Wichtiges sein, das ihn auch samstags holte, wodurch er nicht mit Mutter zum Tanz konnte. Sie hörte ihn auf das Rad steigen, hörte das helle Plink-Plink-Plink, das vom Pedal kam, das gegen Blech stieß: Plink-Plink-Plink, mit dem er sich allmählich entfernte, immer weiter entfernte.

Vor kurzem hatte das Fernsehen Männer in Vaters Uniform gezeigt, sie hatten diese Gesichter und schwangen Schlagstöcke, mit denen sie Leute über die Straße trieben. Sie konnte die atemlos wechselnden Bilder kaum verfolgen: Einzelne hielten Plakate hoch, denen sie entrissen wurden, eine Menschenmenge schrie, schrie immer das gleiche, das nicht zu verstehen war, dann kam Bewegung in die Leute, sie hörte wieder Schreie, wie man schreit, wenn man Schmerzen hat, und überall sah sie Männer in dieser Uniform. Vater war wohl nicht dabei, jedenfalls bemerkte sie ihn nicht, aber er hätte dabei sein können; er trug ja die gleiche Uniform wie die anderen, durch die er zu ihnen gehörte. Was tat er, sobald er abends mit dem Fahrrad zum Dienst aufgebrochen war, was war das eigentlich: Dienst? Dort, im Fernsehen, schlugen die Uniformierten auf Männer und Frauen ein, sie wehrten sich nicht, sie liefen nur fort. Was, sie fuhr bei dem Gedanken zusammen, was, wenn er doch dabei gewesen wäre? Die Leute wehrten sich nicht einmal.

Vater sprang hoch und schaltete den Apparat ab. Mit rotem Kopf stand er neben dem Fernseher und sagte, daß sie jetzt aber ins Bett müsse. Es ist Zeit, sagte er. Mutter saß im Sessel, sie sagte nichts.

Die grauen Punkte überzogen wie ein gleichförmiges Muster die Mattscheibe. Nach und nach verfärbte sich das Grau, als wenn Farbtropfen in ein mit Wasser gefülltes Glas fallen: Rot und Blau und Grün, die sich nicht vermischen; die Punkte begannen, sich zu Bildern zu ordnen, wodurch das Muster an den Rand gedrängt wurde, um schließlich zu verschwinden. Zuerst erkannte sie das Zimmer, in dem sie saß, den flachen Couchtisch, den Schrank, die Sessel. Auf dem Teppich lag ihre Puppe mit den gelben Haaren, die sich plötzlich zu einer Musik bewegte, deren Ursprung ihr verborgen blieb. Ob sie träumte? Woran merkt man, daß man nicht schläft? Ach, sie war doch wach. Dort sah sie ja ihre Puppe mit wehenden Haaren, wie Mutters Haar, dachte sie, ihr langes Haar.

Sie kämmte sich morgens vor dem Spiegel. Darauf zog sie das Nachthemd aus und betrachtete ihren Körper. Vater erschien hinter ihr. Mutter war nahezu genauso groß wie er. Er legte die Hände auf ihre Schultern, ließ sie über die Oberarme gleiten, er trat dicht, ganz dicht an sie heran. Da entzog sie sich ihm abrupt, als wehrte sie sich.

Wie in einer Höhle, in der man die Wände nach dem Ausgang abtastet: Nach der Decke hatte sie die Stiefel des Vaters vor sich, und obwohl es unter dem Tisch beinahe dunkel war, stellte sie fest, daß die Stiefel blank geputzt waren; sie fuhr mit der Hand sacht darüber: blank und glatt, ganz sacht, als könnte sie einen Fleck hinterlassen. Bald kam die Decke, wieder die dicke Plüschdecke. Auf einmal wippte an der Seite ein Fuß der Mutter, sie hatte die Beine übereinander geschlagen, und ein Pantoffel hing auf den Boden herab, der ihn immer dann berührte, wenn Mutter sprach.

Die Nachbarn, sagte sie, merkst du denn nichts? Sie grüßen kaum noch.

Ich doch nicht, ich nicht, sagte Vater.

Die Nachbarn, sagte sie. Mutters Stimme war schrill, der Pantoffel berührte aufgeregt den Boden.

Was soll ich denn machen, entgegnete er.

Die Stimmen wurden heftig, so heftig, daß sie sich die Ohren zuhalten mußte und in der Höhle nicht weiterkam.

Sie sah Mutter tanzen, ganz deutlich sah sie Mutter, sie lachte und drehte sich schneller im Kreis, nun war die Kapelle zu erkennen, die sich von einem Vorhang aus Samt abhob. Ein Musiker in schwarzem Anzug erhob sich und blies in die Trompete, seine Augen traten dabei hervor. Unversehens tanzte sie mit Vater in dem überfüllten Saal, die Eltern hielten einander in jener Art umschlungen, die alle anderen ausschloß, als hätten sie jeden um sich herum vergessen, auch sie, die vor dem Fernseher hockte und ihnen gebannt zuschaute. Sie winkte, und als das nicht half, rief sie, sie rief immer lauter. Endlich blickten die Eltern her. Sie lachten und drehten sich weiter im Kreis, sie winkten zurück. Sie sagten etwas, man konnte verfolgen, wie sich ihre Lippen bewegten. Sie kurbelte an den Knöpfen des Apparats, verstand aber nichts; die Eltern winkten und sagten ihr etwas, was?

Sie drückte ihr Gesicht an die Fensterscheibe, die Stirn, die Nase an die Scheibe, um Vater beobachten zu können, der am Fahrrad hantierte: die flinken Bewegungen seiner Hände, die breiten Finger, die das Werkzeug hielten, fortwährend pfiff er vor sich hin. Aber sie durfte nicht hinaus. Es ist zu kalt, sagte Mutter, deshalb. Aber so kalt war es gar nicht. Und die anderen Kinder spielten auf dem Hof. Am Klettergerüst machten sie Überschläge, einen und noch einen, und wieder einen, bis ihnen schwindlig wurde. Weshalb durfte sie nicht hinaus?

Er hockte sich hin, schraubte und schlug kurz gegen Blech. Der Hammer erinnerte sie an das Schloß: Hammer und Zirkel, Koppelschloß, sagte Vater. Wenn er dabei gewesen wäre, hätten seine Finger den Schlagstock gehalten. Obwohl sie sich dagegen sträubte, mußte sie es doch denken: statt des Hammers den Schlagstock. Er gehörte zu denen. Vater schlug abermals gegen Blech. Genauso hätte er geschlagen. Die Leute wehrten sich nicht einmal. Und es waren seine breiten Finger, mit denen er über ihre Wangen gestrichen hatte, kehrte er vom Dienst zurück, strich er zur Begrüßung über ihre Wangen. Er blickte nicht hoch. Mutter schob sich neben sie, öffnete das Fenster einen Spalt breit, rief: Mittagessen. Er blickte nicht hoch, richtete sich indes behäbig auf. Und am Abend war erneut das Plink-Plink-Plink zu hören, mit dem er sich entfernte.

Bald nachdem Vater fortgefahren war, verließ auch Mutter die Wohnung, natürlich Mutter: Wer sonst sollte die Tür ins Schloß ziehen? Sie wurde jedesmal wach, wenn Mutter heimkam und ausgiebig duschte, bevor sie schlafen ging: Erst fiel das Licht ein, ein schmaler Streifen Licht, der eine Gestalt ins Zimmer zu schieben schien, von der sie wußte, daß es Mutter war, die sich über sie beugte, um ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu nehmen. Sie roch stark nach Seife, daneben jedoch auf eine unbestimmte Art fremd, als wäre außerdem jemand im Raum.

Sie tanzten immer noch und winkten. Aber plötzlich wirkte der Saal merkwürdig groß. Vielleicht lag es daran, daß sie allein in ihm waren. Wo befanden sich die anderen? Die beiden jedenfalls drehten sich weiter, obwohl nun auch die Musik aussetzte. Jedes Wort war klar zu verstehen. Dann standen sie sich gegenüber, als hätten sie nicht eben noch ausgelassen miteinander getanzt, und stritten sich. Sie stritten sich wieder.

Da war Mutters schrille Stimme. Und das, das war doch Vaters Hand, er hob sie hoch, wie er sie mit einem Schlagstock hochgehoben hätte. Sie sah die Finger, mit denen er über ihre Wangen gestrichen hatte. Die Wangen fühlten sich schmutzig an. Sie rubbelte mit den Ärmeln des Nachthemdes darüber, bis sie brannten. Aber sie blieben schmutzig. Er hielt unvermittelt inne und ließ die Hand sinken. Also doch, sagte Mutter, sie werden schon recht haben, die Nachbarn. Wenn du das tust.

Er stand ihr gegenüber, mit rotem Kopf.

Sie preßte die Handflächen gegen die Ohren, es nutzte nichts: Sie hörte jedes Wort. Wenn du das tust, ist es endgültig aus. Darauf drückte sie hastig den Knopf zum Abstellen, und nach einander die anderen, doch es blieb dasselbe Bild mit den lauten erregten Stimmen: endgültig aus. -- Nein, nicht diese Bilder. Sie wischte über das Glas der Mattscheibe. Die Bilder ließen sich nicht fortwischen. Mit einer ruhigen Handbewegung erfaßte sie den Apparat und wandte alle Kraft, zu der sie fähig war, auf und schob ihn über den Rand des Tisches. Es ging ganz einfach, sie hätte nie gedacht, wie einfach es ging, den Fernseher hinunter zu schieben. Sie sprang zurück, als das Glas auf dem Boden splitterte; es ergab ein kleines, unbedeutendes Geräusch, als der Kasten zerbrach und seinen Inhalt über den Teppich verstreute.

Am Morgen entdeckte der Vater, der, im Schlafanzug das Wohnzimmer betrat, im Bildschirm des Fernsehers einen unerklärlichen Riß, nicht breiter als ein Haar, aber auch nicht zu übersehen.