Glossen 29

Uwe Kolbe
Die liegende Kuh. Viel vom Schweigen und etwas vom Liegen

Viel vom Schweigen und etwas vom Liegen Man wiederholt sich nicht gerne, heißt es leichtsinnig im Redner-Deutsch. Dabei wissen wir von Gertrude Stein, wie es poetisch fruchtbar geht und von Barockdichtern, wie man damit die Schmerzgrenze erreicht. Ich werde mich hier vorsätzlich wiederholen. Und ich sehe einen Sinn darin, der meinetwegen an die Schmerzgrenze geht. Kommt darauf an, wem es weh tut.

Erste Wiederholung. Ich zitiere aus dem Nachwort zu einem Buch, das im Herbst 2009 erscheinen wird, zur Frankfurter Buchmesse. Deren Gastland heißt in diesem Jahr China. Das Buch enthält Gedichte und Essays des chinesischen Exil-Dichters Yang Lian unter dem Titel „Aufzeichnungen eines glückseligen Dämons“. Der Verlag kündigt das Nachwort nicht an, soweit ich informiert bin, wird es aber in dem Buch enthalten sein: „Bei der Begegnung mit dem chinesischen Exilanten [1991 ff.] kam auf den Punkt, was selten reflektiert wurde, doch schon zur Erfahrung eines Ostdeutschen gehören konnte: Rede mit einem polnischen Nachbarn, mit Osteuropäern, mit Ungarn, Russen, Georgiern, rede auch mit älteren Portugiesen, mit Flüchtlingen aus dem Iran des Schah und dem Irak Saddams, mit Exilanten aus Kuba – Menschen mit Diktatur-Erfahrung schauen auf überraschend ähnliche Weise Geschichte an. Das Fleisch wird vergleichbare Narben tragen, die verschiedenen Sprachen werden gleiche Worte ausspucken oder auslassen, denn vor allem erkennt ihr einander am Schweigen. Wie viele Mißverständnisse gab es dagegen mit gewohnheitsmäßigen Benutzern der demokratischen Hemisphäre, selbst wenn sie dem gleichen Sprachraum angehörten.

Unser Gespräch, das sich – horribile dictu, wenn man sich klar macht, was das bedeutet – auf dieser Basis rascher, vertrauter entwickelte, kreiste bald um das Schweigen. Wir begannen mit dem Schweigen der Generationen, das auf uns gekommen war, mit den Lügen, die darin lagen, deren Namen wir einander nicht sagen mußten, Lügen am Fuße des Kommunismus oder Sozialismus, Schweigen von vergangenen Schlächtereien, von Kriegen, von notdürftig begrabenen Toten. Es war ein steinernes oder gar eisernes Schweigen, wo Trauer verboten war, wo der neue Marsch den alten ersetzt hatte, die neuen Aufmarschplätze, die dem Umriß der alten folgten und Schädelstätten des Schweigens waren! Wir tauschten uns notwendig, doch kurz aus über das Schweigen der Macht, über die Leere im Zentrum der Herrschaft, wir streiften den Zynismus, auch den eigenen, naheliegenden, und wir erinnerten uns an schmerzliche Wege des Begreifens, an Umwege. Doch hielten wir uns auch dabei nicht auf. Wir gedachten der Utopie, wie sie regelmäßig auf dem Scheiterhaufen der Geschichte brennt, zischend mit dem brennenden Fleisch, funkensprühend mit den brennenden Knochen der Millionen Menschen, deren Opfer sie zwingend verlangt. Wir mußten nicht Abschied von ihr nehmen, wir waren in unserem Gespräch schon weiter gegangen. Wir wußten die Utopie an ihrem Platz und den Zynismus auf seinem. Wir wandten uns dem großen Schweigen zu und beschrieben seine facettierten Facetten, Abgründe und Spalten von Nichts und Wiedernichts. Wir wandten uns von dem gähnenden Schweigen der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ab und wandten uns dem Schweigen zu, das uns treibt. Wir vergegenwärtigten uns den Hintergrund von Schweigen, auf dem das Gedicht erscheint.“ Ende der ersten Wiederholung.

Im Nachdenken über das chinesische Gedicht in seiner Tradition kann es nicht fehlen, dass wir uns des Dau versichern, welches das De hervorbringt, zugeschnitten auf unser Thema: das Schweigen, das Rede zeugt, und zwar aus sich. So ähnlich hat es sich verhalten in dem Gebilde, in dem Dreibuchstabenland, bevor es 1989 auf 1990 Abschied von seinem Gastauftritt in der Geschichte nahm. Der utopische Gedanke in seiner kommunistischen Version, ein Kind vieler Väter, französischer, angelsächsischer und deutscher, hatte sich einst als Kriegskrüppel in einem schwächlichen Russland etabliert als eine, weil nicht mehr utopische, nunmehr reale und auch sofort, auf die meisten Gedanken ihrer Erfinder bezogen, perverse und weniger Gesellschafts- als Herrschaftsform, als Organisationsform der Macht, als Art und Weise der Umverteilung zugunsten einer selbsternannten Elite mit deutlich, ökonomisch betrachtet, asiatischem Einschlag.

Nun hatte der deutsche Zivilisationsbruch mit dem Holocaust und dem 2. Weltkrieg den Einbruch genau dieser Real-Utopie (oder sagen wir: topischen Utopie?) in einen Teil des früheren deutschen Territoriums ermöglicht, vorbereitet, im Sinne einer bestimmten Lesart der Geschichte absolut notwendig gemacht. Etwa so: Der nationalsozialistische Ausstieg aus der Geschichte der zivilisierten Menschheit hat doch prächtig geklappt, hat sogar noch etwas übrig gelassen von der Potenz und Effizienz dieser Nation. Da versuchen wir doch gleich einmal den Ausstieg mit anderer, triftiger Begründung. Das vorher war notwendige Krönung des Kapitalismus in seiner imperialistischen Form, siehe Dimitroff. Dagegen hilft krönender Sozialismus, die Sache mit der Köchin, die den Staat regieren wird, frei nach Lenin. Natürlich keineswegs mit irgendeiner Freiheit für die Mehrheit, die nun nicht mehr mitspielte. Selbstverständlich nicht mit einer Köchin, sondern mit den Hilfsköchen, welche die stalinistische Negativ-Auslese überlebt hatten. Bei gewissem Druck, versteht sich – wie mit Panzern ausgeübt am 17. Juni 1953 – konnte man auf dieselbe Disziplin beim Volk bauen, mit der auch das Tausendjährige Reich in die Tat umgesetzt worden war. Diesmal führte es zum preußisch-sächsischen Sozialismus, dessen technische Höchstleistungen u. a. die Multispektralkamera fürs Weltall und die ausfallfreie Stromversorgung der Beleuchtung der Berliner Mauer waren. Das Experiment durchzuführen war logisch nach dieser Vorgeschichte. Eminent und evident logisch, großartig war es. Und viele Exilanten, jüdische und kommunistische und linksbürgerliche, endlich das Gute in die Tat umsetzen Wollende gingen da hin und taten mit. Sie hatten Gründe, starke, einleuchtende, historische wie existentielle, unabweisbare Gründe. So begannen Denker, Künstler usw. nun Sinn zu pumpen in das vor allem auf Machterhalt fixierte Zentrum des Systems. So schoß in das schweigende Loch, in das Loch aus lauter Schweigen ein, was Geist war in dem Teilland, wurde sinnvolle Rede provoziert vom Schweigen der Macht (oder wofür sollte man die neuen, ganz anderen Fackel-Aufmärsche halten, die so aussahen wie die alten, und die Militärparaden und die Losungen, die im „Neuen Deutschland“ standen und die Demonstrationen, zu denen das Volk genötigt oder überredet wurde, das Bejubeln der Parteibonzen, zu dem die Jugend gezwungen wurde – wofür sollte man das alles halten als dafür, was es war: ein großes Schweigen, ein Nichts als Antwort auf die Geschichte des utopischen Denkens, Hoffens, Sehnens der Menschheit, das seinerseits ja Antwort gewesen war auf vorangegangene, wirkliche Leiden und das dies, nebenbei bemerkt, immer bleiben wird?). Was immer an aufbauwilligem, zukunftswilligem, um das naheliegende Wort zu benutzen: kreativem Denken in der DDR zu haben war, in der Regel ließ es sich zum Produzieren, will sagen zur sinnvollen Rede verführen, so lange, wie der jeweilige Träger dieses Denkens das Pumpen von Sinn leisten konnte und die Vergeblichkeit mental, psychisch, auch physisch aushielt (man höre dazu die Stimmen von Günter Kunert oder Hans-Joachim Schädlich). Manche rannten lange in diesem Laufrad, manche bis zum Schluß. Es brauchte Privilegien, um wesentliche Stimmen bei der Stange zu halten, ja, gerade das kritische Denken in Dienst zu nehmen (dies meine kühne These), darunter das größte Privileg, das die DDR zu bieten hatte: ihr bei Bedarf den Rücken zuwenden zu dürfen, die Westreise.

Nach diesen Wiederholungen oder auch retrospektiven Invektiven, die mich selbst mitzutreffen gemeint sind, passt Wiederholung zwo. Das folgende Zitat stammt aus der Anthologie Grenzgänger, herausgegeben von Julia Franck bei S. Fischer im Frühjahr 2009. In meinem Beitrag geht es um den Beginn einer Reise am 20. April 1982, um den ersten Grenzübertritt nach Westberlin als Erwachsener, d. h. eines damals 25jährigen Kerls. Ich erzähle dort von dem Tabu, das dieser Grenzübertritt – im Nachhinein gesehen – berührte und zugleich umwarf, jenes, die andere Seite als überhaupt vorhanden zu denken und sich nicht ganz und gar zu binden, sich nicht für alle Zeit bereitwillig zuschanden machen zu wollen im und am Realsozialismus, ohne über den Rand von dessen Suppenschüssel hinauszuschauen. Es als Verrat zu empfinden, wenn einer sagte, er wollte nicht „hier kämpfen“, sondern lieber in den Uffizien von Florenz die Schönheit genießen oder im Cabrio die Kurven des Pacific Coast Highway No. 1.

„Der dramatische Effekt war bis eben weder zu beschreiben noch zu erklären. Es gab nur ein großes Wort dafür: Tabu. Ein Tabu war außer Kraft gesetzt, von dessen Existenz ich bis dato keine Ahnung gehabt hatte. Kein gesellschaftliches, versteht sich. Ein Tabu in mir. Wie es da hin kam, fragte ich erst heute, wo ich es beim Namen nannte. Wie es einen jungen, sich kritisch gebärdenden, hungrigen bis wilden Geist so austricksen konnte, sich so gut tarnen und einnisten konnte…, ein Virus quasi, ein stilles, lauerndes – mit einem Begriff aus dem Jahre 2001 gesagt – Schläfer-Tabu, das am 20. April 1982 zwischen 12 und 24 Uhr seine Zeit hatte, aufwachte, den Brief aus seinem Versteck nahm, der die letzten einundzwanzig Jahre, seit dem 13. August 1961, da gelegen hatte, ihn öffnete, las und sofort vernichtete und nun die Informationen umsetzte in Tat, in den Moment seines Triumphes, der selbstverständlich sein Fall war. Am West-S-Bahngleis des Bahnhofs Friedrichstraße stehend, spürte ich etwas verschwinden, von dessen vieljähriger Existenz, also Koexistenz mit meinem sonstigen Wissen, Denken, Sehnen […] ich keine Ahnung gehabt hatte.

Das Agar-agar, auf dem es hatte wachsen und mich durchdringen können, war das Schweigen in der Familie. […] Zeugen des 20. Jahrhunderts [wissen] mehr oder minder grob Bescheid, den Jüngeren wollte ich [wenigstens] die Stichpunkte sagen: Das Schweigen in den meisten deutschen Familien kam vom miterlebten, mitgetragenen Aufstieg und Fall Nazi-Deutschlands her. Es war grundsätzlich ein Schweigen über Gräbern. Es war die Anwesenheit von Mördern und von Ermordeten als Großväter, Großmütter, Väter, Nachbarinnen und Nachbarn. Es war die Anwesenheit eines gigantischen Schweigens zum Beispiel in der Stadt Berlin, der notorischen Hauptstadt Preußens und Deutschlands, in meinem Fall in Ost-Berlin, wo eine dicke Schicht Schweigens dazugekommen war, als die sozialistischen Panzerparaden brüllten. Während die Kinder der Nazis in der Sowjetischen Besatzungszone zu Sozialisten oder Mitläufern des Systems wurden, damals, in Hoffnungen und Ängsten und mitten im Furchteinflößenden nach dem Krieg, da ging in ihnen eine Grube auf, in die stopften sie ihre Muttersprache und ihre Vorstellungen vom Vaterland, dann schnappten die Verschlüsse, verschwand die Grube, dann bekamen sie Kinder, uns, für die sie keine vollständige, mütterliche Sprache mehr hatten, kein väterliches Vaterland. Was sie uns wiesen, manchmal – sah ich von heute aus - fast aggressiv vorwiesen, war Schweigen. Sie taten es hinweisend wie auf Offensichtliches – sagte ich heute –, das wir kleinen Kretins, wir Bastarde allerdings nicht wahrnehmen konnten mit den Augen, mit denen sie uns ausgestattet hatten. Wenn ich nur schon sicher wäre, ob das Schweigen nicht überhaupt ihr bestes war.“

Belassen wir es dabei. Ich schließe diese Collage mit der Beschreibung eines Moments der zweiten Westreise, die ich als erwachsener DDR-Bürger, mit knapp dreißig Jahren, unternehmen durfte. Der Mann, der auch die erste – jene 12 Stunden Westberlin – schon massiv unterstützt hatte, erlebte die Realisierung der zweiten leider nicht mehr: Die Anekdote wird wie manches sonst auch erzählt in memoriam Franz Fühmann.

Meinem DDR-Paß entnehme ich das korrekte Datum, obwohl es mich verwirrt. Am 28. Oktober 1986 verließ der Neunundzwanzigjährige Berlin-Hauptstadt am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße, um am 29. Oktober in die Schweiz einzureisen, lt. Stempel via Basel Badischer Bahnhof. Ich muß also mit dem Nachtzug gefahren sein. Was ein alter Paß so weiß. Ich bin also in der Nacht im Transitzug durch die DDR gefahren. Und es wurde – wer es je getan hat, weiß, wovon die Rede ist – eine lange Fahrt mit vielen interessanten, klarer gesagt: unangenehmen, einprägsamen Geräuschen ähnlich jenen, die Andrej Tarkovskij in seinem Film „Stalker“ benutzt beim illegalen Eindringen in das Gebiet, das dort „die Zone“ heißt. Voller solcher Geräusche also war die Nacht. Doch dann war das Warten an einem der Grenzbahnhöfe Richtung Westdeutschland vorbei, war das überstanden. Naturgemäß war es nun morgen, denn die Transitzüge wurden in einem Procedere durch die DDR geschleust, zu dem ich gerne einmal die Unterlagen der Stasi, sprich der Deutschen Reichsbahn einsehen würde… Es dauerte endlos.

Der Morgen brach an, ein Morgen, an dem ein Zug mit mir darin durch Westdeutschland rollte. Ich hatte keine Ahnung von den Bundesländern, durch die es ging. Quer über die Landkarte in meinem ersten Schulatlas hatte immerhin noch Westdeutschland gestanden, das mit den drei Buchstaben hatte erst der saarländische SED-Chef durchgesetzt. Der vorher obwaltende Sachse hatte trotz Mauerbau an der gesamtdeutschen (selbstverständlich gesamt-sozialistischen) Idee festgehalten, weshalb das Ruhrgebiet, der Teutoburger Wald, die Elbemündung und der Kölner Dom in der Wilhelm-Pieck-Schule Berlin-Pankow noch eine Rolle hatten spielen dürfen.

Nun sah ich also viel Kunstlicht in der Morgendämmerung, und zwar anderes Licht. Ob es von einer Tankstelle stammte oder von einem Baumarkt, von einem Schrottplatz oder einer Kneipe, es war anders. Nicht, dass seine Quellen stärker waren, es waren nur mehr, und sie tauchten das da draußen in das Licht einer Unwirklichkeit. Ich klebte staunend am Fenster. Am meisten jedoch staunte ich darüber, dass die Wiesen und Weiden grüner waren. Kaum zwei Jahre zuvor hatte ich einmal einen Bekannten aus meiner Hinterhausbude geschmissen, der behauptet hatte, in Westberlin wäre die Luft besser als in Ostberlin. Ich hatte ihn angeschrien, für wie blöd er mich hielte, ob etwa die Mauer unsichtbar in die Luft aufragte und auch das Wetter trennte. Die Erfahrung, dass er einfach recht hatte, stand mir zu diesem Zeitpunkt noch zwei Wochen bevor.

Ich staunte das Grün an da draußen. Das war schon phänomenal. Und nun schlug es dreizehn. Auf einer Westweide mit West-Kühen, mit diesen nicht schwarzweiß gefleckten, DDR-typischen von der Rasse Schwarzbunt, sondern mit so milkawerbungs-hellbraunen und hellbraun-weiß gefleckten lag eine Kuh, um genau zu sein, ein Kalb, es lag. Weiter hinten lag noch eine Kuh. Im ganzen lagen drei Kühe. Ich rieb mir die Augen. Im Westen war das Gras grüner, und die kapitalistischen Kühe durften liegen. Es war wohl das preußische Kämmerlein in meinem Herzen, das da einen Moment streikte. Was ich eben gesehen hatte, schien mir verboten. Einige Viehweiden später hatte ich mich wieder ein. Ich sah es nun immer öfter, einen ganzen Vormittag, einen Tag lang. Bevor ich von anderen Phänomenen abgelenkt war, z. B. davon, dass die Donau nicht behäbig unter einer Brücke zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn, von Berlin aus gesehen an der zweiten Grenze fließt, sondern mitten in diesem Land hier, in diesem West-Deutschland als ein mittlerer Bach. Zu realisieren, dass ich nun in Deutschland war, es war einer weiteren Zugfahrt eine Woche später vorbehalten, der ersten Reise nach Tübingen. Ich fuhr ja erst einmal in die Schweiz, um dort weiterzustaunen. Ich rationalisierte das Liegen der Kühe. Ich meinte nicht, das hätten sie uns im Osten glatt verschwiegen, dass die Kühe im Westen lägen (beispielsweise auf ihrem fetten Euter: tat das nicht weh?). Ich war mir bewusst, dass ich es bei den vielen Bahnfahrten oder auch Landpartien seit meiner Kindheit immer wieder übersehen hatte, dass es mir entgangen sein musste. Nach dem Grund dafür fragte ich mich schon. Es musste mit der Wahrnehmung zu tun haben, genauer mit dem Fokus. Das Liegen von Kühen hatte mir also gar nichts bedeutet. Aber – und jetzt wiederhole ich und übertreibe und übertreibe in der Wiederholung zum Schluß: Auch dies war ein Tabu. In einer Welt, in der wir für den – wie wir ganz genau wussten – wahren oder richtigen gegen den herrschenden, den sog. realen Sozialismus (auch so eine Abgrenzungsvokabel aus dem Geiste Honeckers und seines Braintrusts, der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED) stritten, meine protestantischen Freunde und ich, meine anarchistischen und krypto-kommunistischen und sonstwie –kommunistischen Freunde und ich, da war allein der Gedanke, eine Kuh könnte liegen, verboten. Die LPG und ihre Felder waren wie der sozialistische Betrieb, der Volker-Braunsche Tagebau, die Neubau-Wüstenei von Leipzig-Grünau oder Berlin-Marzahn, auch unsere Hinterhof- und sonstigen Gründerzeit-Buden und sogar die Betten darin - das alles war doch nicht zum Liegen gemacht. Wir lagen nicht, nein: wir kämpften ja für etwas. Wir liebten nicht, sondern wir standen mit der Liebe gegen diesen spießigen, wie wir sagten: sogenannten Sozialismus. Wir fuhren durch das Land und soffen und versicherten uns unserer Lage und soffen und schwankten (rein körperlich, versteht sich), aber… wir lagen doch nicht. Wir waren doch keine hedonistischen Schweine. Wir standen für das utopische Potential in der grauen Wirklichkeit. Wir hatten uns die Möglichkeit zu liegen, diese Alternative gegenseitig verschwiegen. Und wenn wir es einmal leichtsinnig doch taten, wenn es aus Versehen, etwa in einer heuduftenden Scheune an einem wunderbaren Ostersonntag bei einem Ort mit dem bezeichnenden Namen Schönefeld, wenn es da also zum Liegen kam (oh eines solchen warmen Sommers Mitte der 70er Jahre), dann stellte die ganz automatisch anrückende Volkspolizei zum Beispiel fest, dass da vorhin einer beim Pinkeln den grenznahen Raum verletzt hatte – und schwupp! standen wir den restlichen Sonntag in der Polizeibaracke beim S-Bahnhof Schönefeld herum bzw. saßen bei der Vernehmung. Liegen also, liegen war weder in unserem noch im Sinne derjenigen, die uns zeigten, wo es lang ging mit der ortsgebundenen Utopie. Liegen, das lernte ich am 29. Oktober 1985, das taten die Kühe im Westen. Seither habe ich es mir auch etwas angewöhnt.

Collagiert für meinen Freund Thomas Wild auf den 20. Juni 2009