Glossen 29

Undine Materni
teilung

wir werden uns wieder anziehen
danach unter den fußtritten
der pferde am brandenburger tor
und die tür die ins schloss fällt
fällt nicht ins schloss sie pendelt
ein wenig uns nach
veränderung sagst du die welt
ist größer geworden und vielleicht
gibt es paris wirklich die welt ist
da mein mund ist rund und hat ein
hundert dm gefrühstückt ich suche
mit der zungenspitze noch fasern
in den schadhaften zähen in meinem ohr
ring hängt ein bananenschale und
duftet unwirklich süß ich setze mir
den blauen pass auf den kopf weil
es regnet er ist größer geworden wie
alles und wind wirbelt blätter auf
dreck papier dreck und ein winziges
rotes fähnchen von einer sparkasse
das hebe ich auf und lasse es
fallen ein man ruft seinen gruß
in unsere zerrauften haargärten
er trifft gerade noch neben die schläfe
als er sich umwendet und ein sektglas
hinter sich wirft wünscht euch was
ruft er verzweifelt auf einem
lindenblatt suche ich eine spur
ich kaufe eine orange und will
ein herz in die schale ritzen weil
ich dich liebe aber
das messer rutscht in den finger
du lachst sicher werden wir
auf dem heimweg erschossen sagst du
und zeigst mir das kind das ein
plastegewehr auf uns richtet unsere
fahrkarte hat bereit einen durchschuss
wohin wohin murmle ich leise und stecke
den finger doch in den mund es
schmeckt bitter und süß
aus deiner hosentasche ziehst du
einen würfel zucker
für die pferde auf dem brandenburger tor
damit sie nicht auch noch
davonlaufen wie vater vor jahren
oder einer der carsten hieß oder
andreas der dein kletterseil mitnahm
und sich erhängte vielleicht auf
jeden fall einfach weg war
seither wohnte die amsel in deinem
briefkasten und fraß alle nachrichten
aus der welt die so groß plötzlich ist
einfach auf –

komm lass uns auf einem radiergummi
nach hause fahren wir sagen der amsel
bescheid dass der süden kein land ist –

1989/1990

teilung (kommentiert mit einer trügerischen weisheit zwanzig jahre später)

wir werden uns wieder anziehen

(das ist ja eine seltsame vorstellung, so nackt unterm Brandenburger Tor herumzulaufen, nur weil Helmut Kohl den beseren anzug getragen hat, und irgendwie ist ja auch von einem danach die rede, so beiläufig und ohne genaueren bezug. da mag so mancher an vereinigung im sinne des wortes denken, er erkannte sie und umgekehrt; die autorin hatte damals wohl wenig sinn für sinnlichkeit, schade eigentlich …)

danach unter den fußtritten
der pferde am brandenburger tor
und die tür die ins schloss fällt
fällt nicht ins schloss sie pendelt
ein wenig uns nach

((das geht ja drunter und drüber, zu dem die autorin für die pferde am Brandenburger Tor nie allzu viel übrig gehabt hat, naja, nicht unbedingt für die pferde, aber wenn man bedenkt, dass sie statt Eirene, der friedensgöttin, Victoria, die siegesgöttin durch die lüfte ziehen, da wäre es vielleicht doch besser gewesen, Napoleon hätte das gespann behalten und sich auf seine art daran erfreut … na, und die tür als melancholische metapher? sie soll wohl auf diese unbeholfene weise dafür herhalten, dass wir damals doch noch alles für möglich hielten, diese groteske vorstellung, man könne das behalten, was man habe und bekäme das andere noch dazu. türen haben in gedichten nichts zu suchen, genauso wenig wie tauben))

veränderung sagst du die welt
ist größer geworden und vielleicht
gibt es paris wirklich doch alles

(((die sache mit Paris – ich bin gleich im sommer 91 hingefahren, hatte gedichte von Helga M. Novak im gepäck, wollte eine arbeit über sie schreiben und wohnte bei einem alten schriftsteller, der einem im flur ganz gern mal an den busen fasste. als ich am grab von Heine saß, hab ich geheult. ich hab sowieso ganz schön viel geheult, damals in paris: im Picassomuseum zum besipiel, oder im Musee d’Orsay oder im Musee Rodin, als ich sah, dass die skulpturen von Camille Claudel noch immer inmitten derer von Rodin standen. na und dann dieses besuche von gräbern: Apollinaire, Eluard, die Callas, Berlioz …, es war, als wollten wir uns davon überzeugen, dass es sie wirklich gegeben hat. und da war immer das gefühl, man habe soviel verpasst, und dass mit noch nicht mal zwanzig jahren. das erscheint mir heute so beneidenswert und rührend, jetzt, wo verweigerung manchmal das einzige mittel ist, um dem übermaß an reizen zu entgehen.)))

soll man nicht glauben die welt ist
da mein mund ist rund und hat ein
hundert dm gefrühstückt ich suche

((((die einhundert dm! die hab ich in zehlendorf abgeholt, in einer bank rollte so ein mann auf einem stuhl herum und hatte das gesicht eines gütigen vaters. ich weiß noch, dass es ziemlich kalt war und ich nur einen dünnen mantel anhatte, und dieser man sagte gönnerhaft, ich soll mir doch erstmal einen kaffee gönnen. ich war mit einem jüdischen freund unterwegs, wir wollten zum grab von Kleist und hatten uns ziemlich verlaufen. da waren so viele zäune am see, man konnte einfach nicht rundlaufen. als wir das grab fanden, waren wir auf eine unerklärliche weise enttäuscht. „nun, o unsterblichkeit, bist du ganz mein“ war einfach nicht so gut wie „er lebte, sang und litt/in trüber schwerer zeit,/er suchte hier den tod,/und fand unsterblichkeit – Matth.6 V.12“und drumherum war soviel noblesse, ruderclubs und diese unnatürlich gleichmäßigen rasenflächen, wo keiner drüber lief …))))

mit der zungenspitze noch fasern
in den schadhaften zähen in meinem ohr
ring hängt ein bananenschale und
duftet unwirklich süß ich setze mir
den blauen paß auf den kopf weil
es regnet er ist größer geworden wie
alles und wind wirbelt blätter auf
dreck papier dreck und ein winziges
rotes fähnchen von einer sparkasse
das hebe ich auf und lasse es
fallen ein man ruft seinen gruß
in unsere zerrauften haargärten mein
paß rutscht langsam auf die schulter
er trifft gerade noch neben die schläfe
als er sich umwendet und ein sektglas
hinter sich wirft wünscht euch was auf
dem lindenblatt suche ich eine spur

(((((wofür ein lindenblatt alles gut ist, armer siegfried! wir waren damals in vielen sachen ziemlich empfindlich, wohl auch, weil wir kaum geschlafen haben. und immer in so einem diffusen zustand von euphorie und katerstimmung waren. und der neue wein war ja außerordentlich lecker!)))))

ich kaufe mir eine orange und will ein herz in die schale ritzen weil
ich dich liebe oder so was aber
das messer rutscht in den finger
du lachst sicher werden wir
auf dem heimweg erschossen sagst du
und zeigst mir ein kind das sein
plastegewehr auf uns richtet die
fahrkarte hat bereit einen durchschuss

((((((diese durchschüsse in fahrkarten kamen in einigen meiner gedichte damals vor. wohl einfach nur, weil sie damals wirklich gelocht wurden, mit einer zange. und wahrscheinlich sollte diese metapher ausdrücken, dass wir immer ein bissel neben der kappe waren, weil wir das ganze nicht so richtig verstanden, was da mit dem land passierte, in dem wir lebten. und alles bekam neue namen, einfach neue schilder drauf und fertig. das war manchmal ganz schön kurios: man wusste, was drin war, aber jetzt hieß es einfach formidabler, bedeutender. und manchmal gab es auch worte, bei denen man einfach nicht dahinter kam, was sie beherbergten. die meisten von ihnen hatten etwas mit ämtern zu tun oder dingen die man verhindern sollte. oder bezahlen. das wiederum war alles andere als komisch und konnte ganz schön bedrohlich werden.))))))

wohin wohin murmle ich leise und stecke
den finger doch in den mund es
schmeckt süß wirklich in deinen hosen
taschen klebt noch ein würfel zucker
aus der mitropa für die pferde
auf dem brandenburger tor
damit sie nicht auch noch
davonlaufen wie vater vor jahren
oder einer der carsten hieß oder
andreas der dein kletterseil mitnahm
und sich erhängte vielleicht auf
jeden fall einfach weg war wie tot

((((((es ist gut, dass so was aufbewahrt wird, ich meine dieses kafkaeske gefühl, dass die dinge nicht zu ändern sind, dieses: man sieht freunde nie wieder, und dieses nie war ganz tief in uns drin. wenn jemand weg war, dann war er weg. und ich bin in einer miefigen kleinstadt aufgewachsen, übrigens in derselben, in der auch Einar Schleef aufgewachsen ist, und da haben wir wenig von der grenze gesehen. und auch wenig darüber gesprochen. wer weg war, der war weg. zack. wenn oma in den westen fuhr, brachte sie kaugummi mit. und einmal so einen ekelhaften weißen pullover aus kunstfaser. der sollte für gut sein und kniff fürchterlich am hals. und jetzt, wo man manche von den leuten wieder trifft, die eben damals weg waren, ist das ein komisches gefühl. weil man augenblicklich das gleiche sieht. und sich so vieles vermischt, wenn die zeit vergeht, auch an bedeutung verliert. und das hat nicht immer mit der großen aufarbeitungsmaschinerie zu tun, die immer beschließt, man habe verstanden zu haben, die guten ins töpfchen, die schlechten? Inzwicshen hat ja auch die literaturwissenschaft in deutschland endlich ihren schlusspunkt unter das kapitel ddr gefunden, alle schütteln sich erleichtert und halten diesen schlusspunkt in der hand wie der frosch im märchen die goldenen kugel – den tellkamp-türmer, den sie ach so gerne selber durch die loschwitzer höhen tragen würden ...)))))))

seither wohnte die amsel in deinem
briefkasten und fraß alle nachrichten
aus der welt die so groß plötzlich ist
einfach auf –

komm laß uns auf einem radiergummi
nach hause fahren wir sagen der amsel
bescheid dass der süden kein land ist –

((((((((es war ein ganz schönes abenteuer, noch mal durch dieses gedicht zu stolpern, grundsätzlich hat es für mich seine gültigkeit behalten, formal nicht unbedingt, aber inhaltlich. und der schluss zeigt ja, dass die autorin innerhalb des textes ja doch zu wenigstens einer recht wesentlichen erkenntnis gelangt ist ...)))))))

undine materni
1989/1990//2009