Glossen 29

Die deutsche Wiedervereinigung und die Kultur des Ressentiments

„[…]Über zwanzig Jahre friedliche Revolution zu sprechen und zu streiten, heißt auch, über unsere heutige Welt nachzudenken. Vielleicht erweist sich ja meine Sichtweise als falsch. Das wäre zu ertragen. Was ich nicht ertrage, ist die Selbstgewissheit "der Sieger der Geschichte", ihre Arroganz, mit der sie meinen, jenseits der Argumente, jenseits der Diskussion zu stehen, jenseits der Forderung zu handeln. Der Hochmut gegenüber dem Leben in der DDR ließe sich verschmerzen, wäre nicht sein heutiges Spiegelbild so kriminell. Die Selbstgewissheit, die darin liegt, dass es nur eines besseren Managements bedarf, wird uns nicht retten. (Ingo Schulze, ¸¸’Die deutsche Einheit vollenden’ --was um Himmels willen soll das heißen?“ Süddeutsche Zeitung, 7. 3. 2009)

In einem kann man Schulze sofort zustimmen: „Die deutsche Einheit vollenden -- was im Himmels willen soll das heißen.“ Die emotionelle Einheit, die diese Forderung einklagt, hat es so nie gegeben, selbst als das II. Deutsche Reich in Versaille ausgerufen wurde oder als der Kaiser im Spätsommer 1914 nur noch Deutsche kannte oder als es in den zwei drei Tagen nach dem 9. November 1989 im deutsch-deutschen Jubel so schien als ob.

Gut so, auch in dieser Zeit, denn in demokratisch verfassten Gesellschaften geht es um die ständige, teilweise sehr harte Neuverhandlung entgegen gesetzter Interessen. Und gut, dass das in den meisten Fällen (noch?) ohne den Einsatz von roher Gewalt vonstatten gehen kann.

Westlicher Hochmut gegenüber dem Leben in der DDR? Ja, sicher und berechtigt. Aber war es nicht die kritische Ostperspektive, der Ostwitz gegen die „proletarische“ Diktatur, der diesem Hochmut gegenüber dem Leben in der DDR Ausdruck verlieh, bevor dann die Westler einstimmten? Waren es nicht die Ostler, die ihr eigenes Regime gestürzt haben, die den Fall der Mauer angestoßen haben, die gegen Ladenschluß eine Volkskammer wählten, die wiederum den Beitritt zum Wirkungsbereich des Grundgesetzes beschloß? Das war „hoher Mut“. Warum nicht stolz sein auf diese Geschichte und in den gesamtdeutschen „Hochmut“ einstimmen? Sollte es so etwas wie "die Gewinner der Geschichte" geben, so sind es die ehemaligen DDRler. Merkwürdig, daß sich so viele von ihnen als Verlierer zu fühlen scheinen. Doch noch Sehnsucht nach dem stasigetragenen Staat und der „Notgemeinschaft“ dagegen?

Es ist eine Illusion, die dazu noch auf einer irrtümlichen Annahme beruht, wenn Schulze meint, eine längere Übergangszeit hätte geholfen „bisherige Praktiken (im Westen) zu überdenken und sich selbst zu wandeln.” Erstens, gab es die Chance für eine längere Übergangsperiode nicht. Außenpolitisch war damals durchaus unklar, wie lange die politische Konstellation für eine Möglichkeit der Wiedervereinigung bestehen würde. Und zweitens drängte die Überzahl der Ostdeutschen in den Westen, und das ist sowohl wörtlich als auch metaphorisch zu verstehen.

Und das, was man laut Schulze vom Osten hätte lernen können: „ein Gesundheitswesen, in dem die Ärzte nicht zugleich Unternehmer sein müssen, Versicherungen, die nicht dazu verurteilt sind, Profit zu machen, ein Verkehrssystem, das sich als ökologische Alternative versteht und als Dienstleistung für das Gemeinwesen, eine flächendeckende und kostenlose Krippen- und Kindergartenbetreuung, Ganztagsschulen und vieles mehr“, konnte man von der DDR eben gerade nicht lernen, weil es entweder so nicht existierte -- das DDR-Verkehrssystem als ökologische Alternative? Wo hat denn das funktioniert? -- oder eigentlich nicht so recht wünschenswert war, wie z. B. „flächendeckende“ Krippen- und Kindergartenbetreuung oder Ganztagsschulen. Soll etwa noch mehr Männern und Frauen Zeit gegeben werden, an Fließbändern zu stehen oder an langweiligen Bürotischen Papier von einer Seite auf die andere zu schaufeln, während man die eigenen Kinder fremd betreuen lässt, etwas, was die Industrie im Bereich der Produktion ja schon seit langem mit ihrem „out-sourcing“ betreibt. Und dort, wo in Ansätzen Wünschenswertes bestand, war es durch den unschönen Rest des staatlich organisierten Lebens diskreditiert, fiel also als Modell aus. Die DDR war also eher ein Hinderungsgrund für die Diskussion über gesellschaftliche Dilemmas oder echte Alternativen zum status quo.

Genau diese Diskussion kann, sollte und muß man im Hier und Jetzt betreiben. Besinnung auf die gekränkte Ostseele mag eine melancholische Befriedigung über „ungerechterweise erfahrene Niederlagen“ hervorrufen, aber sie führt nicht weiter als bis zur verklärenden und fruchtlosen Rückschau und zum unproduktiven Ressentiment gegenüber der schlechten Gegenwart.

Wolfgang Müller