Glossen 29

Antje Rávic Strubel, Kältere Schichten der Luft (Frankfurt/M.: Fischer, 2007)

Der Roman führt in ein schwedisches Sommerlager, in dem Licht in jeder Schattierung “den Himmel brüchig erscheinen” läßt. So beginnt die Handlung. Sie endet auch mit dem Thema der Brüchigkeit, “dem Flirren der Sonne” und dem “Wunsch, sich aufzulösen.” Um Verwischung der Konturen, verschwindende Grenzen und Variationen handelt es sich durchweg in diesem Roman über verschwimmende Geschlechteridentitäten, sich auflösende Ost-Identitäten und Bedrohungen und Ängste für den, der sich aus der Gruppe löst und den Mut hat, “anders” zu sein. Am Ende erhebt sich in diesem Identitätslabyrinth allerdings die Frage, ob in dem blendenden Licht der Täuschungen/Enttäuschungen nicht alles nur erfunden war.

Die Ich-Erzählerin ist Anja, die sich selbst als wurzellos und lesbisch beschreibt. Sie will dem Arbeitslosenmilieu der Nachwendezeit in der Stadt Halberstadt entfliehen , um in einem Sommerlager frei zu sein. Doch hier herrschen neue Formen von Kollektivzwang, auf die sie allergisch reagiert. Als eines Tages ein ir/real wirkendes Wesen, ein Mädchen, am Rande des Lagers erscheint und in Anja ihren verlorenen Geliebten, den Schiffsjungen Schmoll, zu finden vorgibt, verwandelt sich Anja in Schmoll. Sie wird -- zumindest zeitweise -- der Junge, den die andere in ihr sieht, und sie handelt diesem Vorstellungsmuster entsprechend. Diese Entgrenzung hat die Ausgrenzung aus der Gruppe zur Folge. Damit ändert sich das scheinbar unbekümmerte Lagerleben, und eine beklemmende Stimmung entsteht, die durchdrungen ist von Mißgunst, Gefahr, Korruption, von Vorurteilen und letztlich Tod. Doch auch die mysteriöse Frau -- eine Mischung von Mädchen, Frau, Phantasieprodukt, Fee oder Märchenfigur -- schillert in ihrer Identiät. Ist sie Siri? Oder -- liest man die Buchstaben ihres Namens von hinten -- ist sie Iris? Überschreitet auch der mit Vorurteilen belastete Hetero Ralf, der einst als Grenzsoldat die “festen” Grenzen der DDR verteidigte, die sich auflösenden Geschlechtergrenzen, als er Anja zu vergewaltigen versucht, weil er “einen Jungen” in ihr sieht? Und ist die Organisatorin Svenja, die in den sechziger Jahren politisch aktiv war, in den Geschlechterzonen ebenfalls eine Kippfigur? Eins kann in dieser zwielichtigen Atmosphäre immer auch das andere sein.

Rávic Strubel bedient sich einer komplexen Erzählhaltung, die es dem Leser nicht leicht macht. Verschiedene Erzählperspektiven -- es sprechen Anja, der Junge, Siri/Iris, Lagerfiguren und andere -- gleiten nahtlos ineinander. Hinzu kommt das Ineinandergreifen von Geschichten, die innerhalb der Grundhandlung erzählt werden, die dann fallengelassen werden, die sich sich jedoch, wenn der Faden wieder aufgenommen wird, verwandeln und ganz anders erzählt werden. Wenig ist klar greifbar, Klarheit herrscht nur dann, wenn die Autorin mit psychologischen Erklärungen aufwartet. Wenn sich Motive jedoch nicht aus der Situation, der subtilen Andeutung, der Gestik entwickeln, wirkt das Erklärte eher störend. Das geschieht, wenn Anja z.B. die Handlungsmotive von Ralf und Svenja analysiert, als es fast zu Szenen sexueller Nötigung kommt. Aber hat sie recht? Wieder befindet sich der Leser im Bereich der Zwielichtigkeit, denn das Motiv, das z.B. Ralfs Tod auslöste, kann sowohl Notwehr als auch Vergeltung gewesen sein.

Rávic Strubel, die 1974 in Potsdam geboren wurde, evoziert nach wie vor, in Andeutungen oder explizit, die Welt der verschwundenen DDR und die Umbruchssituation, die ihre Wahrnehmung geprägt hatte. Die Organisatoren des Sommerlagers, die fast alle aus dem Osten Deutschlands kommen, reiben sich an den Nachwendeproblemen. Rávic Strubel stellt ihre Problematik in ein helles Licht. Sie überzeugt den Leser. Doch vorrangig evoziert dieser Roman eine Welt erotischer Phantasien, eine Welt, in der vorgeführte Muster kaleidoskopartig zu neuen Formen führen. Doch dieses Spiel mit den Möglichkeiten -- der Titel und der letzte Satz des Romans scheinen das anzudeuten -- suggeriert Kälte, führt in kältere Schichten der Luft.

Christine Cosentino
Rutgers University