glossen: autorenlesung


Auszug aus Thomas Brussig: Helden wie wir, Berlin: Verlag Volk & Welt, 1995, S. 96 - 98.

... In meiner Klasse wurden alle Kinder Pioniere. Vor dem Aufnahmeritual, bei dem uns die Pionierleiterin ein Pioniertuch umband und einen Pionierausweis überreichte — den ersten Ausweis meines Lebens, wenn man vom Impfausweis absieht, aber der zählte nicht, denn er hatte kein Paßbild —, also, vor dem Aufnahmeritual erzählte unsere Lehrerin über Ernst Thälmann. Sie begann mit dem Satz Wer war Ernst Thälmann. Mir ist davon nichts mehr in Erinnerung, außer, daß die Arbeiter ihn Teddy nannten. Und der Satz, der — ich rekonstruiere ihn aus Erinnerungsfetzen — gefallen sein muß, als Teddy im KZ Buchenwald ermordet wurde und sich die Häftlinge darüber informierten: Die Faschisten haben unseren Teddy umgebracht. Wie gesagt, an diesen Satz erinnere ich mich. Er hat mich sehr bewegt. Ich war sieben Jahre und liebte meinen Teddy. Die Erwachsenen, also die fertigen Menschen, die alles durften und alles bestimmen konnten, hatten also auch einen Teddy, unseren Teddy, den aber die Faschisten umgebracht haben. Ich wollte alles über diesen Teddy erfahren. Als ich lesen konnte, holte ich mir aus der Kinderbibliothek Bücher über Teddy. Die Bibliothekarin half mir bei der Suche. Ich war in der 1. Klasse und entlieh bereits Bücher, die für Kinder aus der 4. Klasse gedacht waren, was ich später als wichtigen Indiz meiner geistigen Frühreife deutete. Ein nettes Detail für die Interviews nach der Nobelpreisverleihung: "Bereits in der ersten Klasse ging ich in die Bibliothek und entlieh Bücher, mit denen ich meinem Alter weit voraus war." Aber ich war bei meinem Interesse für Teddy. Eine unvergeßliche Geschichte war die Episode über Teddy beim Hofgang: Er war ein Häftling in Moabit, jahrelange Einzelhaft, und als er das erste Mal Hofgang hatte — allein natürlich, er sollte von den anderen isoliert und dadurch gebrochen werden —, bemerkten die Häftlinge in all den Einzelzellen, wer  da seine Runden auf dem Hof ging. Es war streng verboten, miteinander Kontakt aufzunehmen, und gefährlich war es außerdem, mit den Faschisten war nicht zu spaßen, die haben andauernd Leute erschossen, wie es ihnen gepaßt hat. Und trotzdem hat ein Häftlinge durch die Gitterstäbe hindurch auf den Hof gewispert Rot Front, Teddy. Ein Lächeln huschte über Teddys Gesicht, er hob unmerklich die faust und grüßte flüstern zurück Rot Front, Genosse. Doch da hörte er schon von einem anderen Zellenfenster Rot Front, Teddy! Und auch diesen Häftling grüßte Teddy mit Rot Front, Genosse! Und hob seine Faust leicht im Handgelenk. Und bei seiner letzten Runde wurde aus allen Fenstern Rot Front, Teddy geflüstert, und er grüßte flüsternd zurück Rot Front, Genossen! Teddy saß hinter Kerkermauern, aber die Faschisten konnten ihn nicht brechen. Im Ferienlager — und zwar in dem Jahr, als ich über die wahren Pimmelgrößen aufgeklärt wurde — lernte ich das Lied vom Kleinen Trompeter. Ein herzerweichend trauriges Lied von einem kleinen lustigen Freund, der, als man in einer friedlichen Nacht so fröhlich beisammensaß, von einer feindlichen Kugel getroffen wurde, die sein Herz durchbohrte. Der Kleine Trompeter war — ich sage das zur Vermeidung von Kitsch mit heutigen Worten — ein Leibwächter Ernst Thälmanns, der sich bei einer Saalschlacht vor Thälmann stellte, als jemand mit der Pistole auf Thälmann zielte. Der Schuß fiel, der Kleine Trompeter wurde getötet, Thälmann passierte nichts. Danach wurde das Lied vom kleinen Trompeter geschrieben, der ein lustiges Rotgardistenblut  war. Ich war klein, ich war lustig, und das Wort Rotgardistenblut war für mich eines der komplizierten Worte, die ich damals nicht verstand, ohne mir viel daraus zu machen. Warum also sollte ich mir unter dem Kleinen Trompeter nicht einen Knaben wie du und ich vorstellen? Ich mochte den Kleinen Trompeter, zumal dieses Lied bei einem Abendappell gesungen wurde, am 16. August, dem Todestag von Teddy. Ein zehnjähriger Pionier spielte nach der letzten Strophe ein Solo auf seiner Trompete, indem er die Melodie wiederholte, eine Melodie, die im Gegensatz zu den meisten Kampfliedern, mal nicht kämpferisch daherkam, sondern geradezu herzerweichend. Sommernacht, weiche Trompetenklänge, stilles Gedenken an Teddy, das Klirren der Stahlseile an den Fahnenmasten... Mein Gott, mir ist das alles noch so gegenwärtig. Mr. Kitzelstein, ich rede vom Menschenbild des Totalitarismus. Ich war acht Jahre und fand, daß es einen Menschen geben muß, der sich in die Bahn der Kugel wirft, die auf einen wertvolleren Menschen abgefeuert ist.

Quicktime -- Videoversion von Thomas Brussigs Lesung (13, 5 M)

Quicktime -- Audioversion von Thoams Brussigs Lesung (5,5 M)

Die Lesung von Thomas Brussig fand im Sommer 1997 auf einem von Ursula Beitter organisierten Workshop des Loyola Colleges in Berlin statt.  Sie wurde von Heinz Blumensath mit einer Videokamera dokumentiert. Die Veröffentlichung der Quicktime-Video- und -Audioversion eines Teils der Lesung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Link zu einem Interview mit Thomas Brussig


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