glossen: rezensionen
Helga Königsdorf, Die Entsorgung der Großmutter. Roman (Berlin: Aufbau-Verlag, 1997) 120 Seiten, DM 29, 90.
Als "Roman" bezeichnet Helga Königsdorf diese Geschichte über
den sozialen Abstieg einer Familie aus dem deutschen Bereich Ost. Treffender
wäre wohl der Begriffe "Novelle", denn hier hat man es in der Tat mit
einer "unerhörten" Begebenheit zu tun, deren Anlässe allerdings
so unerhört und unbekannt gar nicht sind. Der makabre Titel der Geschichte
sagt es dem Leser sofort: hier geht es auf dem Hintergrund der Postwendezeit
um soziale und menschliche Eiseskälte, um eine gewohnte Ordnung, die
aus den Fugen geraten ist und um die Lebenslügen und Heucheleien, die
sich hinter den Rissen verbergen.
Im Zentrum der Handlung steht eine vom sozialen Abstieg bedrohte Familie
aus dem Mittelklassemilieu, die Schraders, ihre zwei erwachsenen Kinder und
eine an der Alzheimerschen Krankheit leidende Großmutter. Herr Schrader,
ein abgewickelter ehemaliger Sanitäringenieur, arbeitet unter den neuen,
ihm fremden ökonomischen Bedingungen der bundesdeutschen Marktgesellschaft
als überqualifizierter Verkäufer in einem Geschäft für
Sanitäranlagen. Er kann sich jedoch zu den "Gewinnern" zählen,
denn ihm ist von der Großmutter, der Mutter seiner Frau, das Haus
überschrieben worden, und das gibt der Familie Status. Doch die
Großmutter wird zum Pflegefall und kann nicht mehr allein gelassen
werden. Sie müßte in ein Heim, was eine Unsumme Geldes kosten
würde. Die sehr reale Furcht der Schraders: der Staat kann die Schenkung
für ungültig erklären und das Haus beanspruchen. Ohne sich
im einzelnen abzusprechen und Details zu klären, ist sich die Familie
einig: sozialen Einbußen, Opfern und Prestigeverlust muß vorgebeugt
werden. Und so wird die Großmutter kurzerhand auf einer Bank in einem
Park ausgesetzt. Temporär kümmert sich dort eine mitleidige
Katzenfütterin um sie, bis sie im kalten Winter erfriert und von der
Stadtreinigung "entsorgt" wird. Die Familie Schrader hat das Problem auf
ihre Art gelöst.
Parallel zu diesem bizarren Handlungsstrang läuft ein zweiter, der die heuchlerisch spießige Fassade des scheinbar intakten Schraderschen Familienmilieus beleuchtet. Inmitten einer Welt von feierlichen Weihnachtsritualen, gepflegten Gärten, Chorsingen, Computern und festen Regeln ehelichen Geschlechtsverkehrs vollzieht sich unerwartet schnell der Verfall menschlicher Werte und damit die totale Auflösung der ganzen Familie: die Tochter, eine Gymnasiastin kurz vor dem Abitur, zieht aus; der geniale Sohn begibt sich, nach einem Nervenzusammenbruch, in eine andere Stadt, weit entfernt von den Eltern; Frau Schrader läßt sich scheiden und eröffnet mit neuem Emanzipationsbewußtsein eine Pension. Herr Schrader beschuldigt sich selbst, die Großmutter ausgesetzt zu haben und landet im Gefängnis. Später wird er unter Obdachlosen gesehen.
Königsdorfs bekannte Ironie hatte sich schon zu DDR-Zeiten an hochaktuellen Themen entzündet, sehr oft am Stoff weiblicher Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung. Auch das hier abgehandelte Thema ist brisant, geht es doch generell um den Verlust sozialer Sicherheiten, um existentielle Ängste, ökonomische "Unübersichtlichkeit", Arbeitslosigkeit und - last but not least - um die Konfliktfähigkeit des Menschen in Härtesituationen. Ein durchaus nicht nur "ostdeutsches" Thema. Doch in vielen subtilen Andeutungen wird die DDR präsent, denn - so heißt es einmal - man merkt, "daß jetzt alles anders ist. Irgendwie kälter." Doch Menschen wie die Schraders - Aufsteiger, "Gewinner", Spießer, Heuchler, im Eigennutz Eingerichtete - sind nicht an politische Grenzen gebunden. Es gibt sie überall. Helga Königsdorfs Roman Die Entsorgung der Großmutter ist vieles in einem: eine Wendegeschichte Ost, eine gesamtdeutsche Geschichte, eine satirisch zugespitzte Geschichte über das Menschlich-Allzumenschliche.
Königsdorf liefert eine beklemmende, aber keineswegs bierernste Sozialsatire, die auf den Tonlagen von Komik und Bitterkeit konzipiert ist. Sie tut es mit einer "unheimlichen" Ruhe, ohne Nostalgiegefühle oder Weinerlichkeit, mit lakonischer Kürze, kühl, distanziert und doch auch wieder mit wunderbar feinem Humor, der zum Lachen reizt. Mit ähnlichem Erzählstil hatte sie sich seinerzeit DDR-spezifischer Thematik zugewandt. Es wäre zu hoffen, daß sich Königsdorf mit diesem rundum gelungenen Roman eine gesamtdeutsche Leserschaft sichert.
Christine Cosentino
Rutgers University
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