glossen: erzählung


Olaf Georg Klein
Erwarten

Kommt sie oder kommt sie nicht, kommt sie oder kommt sie nicht, - bin ich ein kleiner Junge, der die Blätter der Rose abzählt: sie liebt mich - sie liebt mich nicht?, natürlich wird sie kommen, warum sollte sie nicht?, weg mit den Selbstzweifeln, alles sei nur eine Ausgeburt meiner Phantasie, es sei nichts als ein "nettes Gespräch" gewesen, nein, diese Begegnung war unwiederholbar, leidenschaftlich, an diesem Tisch, in diesem Mitropawagen, über diesem weißen Tischtuch, das ganz rein, ganz unschuldig da lag, davor und danach, als hätte sich nichts ereignet, kein Wirbelwind alles in mir durcheinander-gefegt, als wären alle diese zögernden und verwegenen Worte und Gesten unterblieben, als hätte es dieses vielsagende Schweigen nicht gegeben, wenn Eifersucht überhaupt eine Berechtigung hat, dann auf ein solches Gespräch, das es kein zweites Mal gibt, der Kellner traute sich ja kaum noch den Gang entlang zu gehen und weiter zu bedienen, die Gespräche ringsum verstummten, niemand hat mehr gegessen, als ich aufsah, nur kurz, denn lange konnte ich den Blick nicht abwenden, von ihren graublaugrünen Augen, sitzt da der Dicke mit diesem schwarzen Schnauzbart über den Lippen und schaut zu uns hinüber, nicht penetrant, nein, einfach so, scheinbar selbst ins Träumen gekommen, läßt er das verdammt teure Steak mit Champignons einfach kalt werden, und dem Pärchen, zwei Tische weiter, kommt das Thema ihres Streits abhanden, die leise verzweifelte Wut ist verflogen, mit der sie eben noch aufeinander eingeredet haben, und sie lächelt plötzlich, was ich ihrem Gesicht nicht zugetraut hätte, daß sich da noch ein Lächeln einnisten kann, und er seufzt, als würde er sich an etwas schönes, lang zurückliegendes erinnern, nein, ich weiß nicht, wie es gekommen und noch immer ist es mir unklar, denn schließlich bin ich verheiratet, habe ein Kind und eine Frau und mein Haus am Stadtrand und meine Arbeit, die mir Spaß macht, bin zufrieden und erfolgreich, würden andere sagen, in meiner Lage, also, was will ich mehr und "eigentlich" wollte ich ja gar nichts, - weiß der Teufel - setze ich mich einfach hinüber zu ihr, dabei hatte ich meinen Kaffee schon bezahlt, - was mich da geritten hat?, und die Worte kamen so leicht über meine Lippen, während sie den Kopf ein bißchen schräg hielt, so zur Seite geneigt, und irgend etwas muß ich ja gesagt haben, ich weiß nicht was, ich weiß nicht wie, ob ich sie stören würde?, vielleicht, ob sie etwas dagegen hätte?, vielleicht, - dabei saß ich ihr doch in diesem Moment schon gegenüber, nein, allein deswegen wäre es wunderbar, wenn sie heute käme, wenn sie gleich käme, jetzt, endlich, sie kann sich bestimmt an die Worte erinnern, die ich gesagt habe, und dann werden wir uns "streiten", ob ich mich an ihren Tisch gesetzt habe, weil sie mit ihrer Energie verhindert hat, daß ich weitergehe, oder ob mein Blick zuerst da war, oder wie auch immer, also "Streit" kann man das nicht nennen, es wird eher ein Tanz sein, ein Ausloten, wie sich der andere verhält, wenn er recht haben will, zuletzt ist es doch immer ein Zusammenspiel unsichtbarer Kräfte, natürlich habe ich geguckt, ob sie guckt und sie hat weggeguckt, wenn ich geguckt habe und überhaupt, warum war sie nicht überrascht, als ich mich ihr gegenüber hingesetzt habe und warum fingen wir an, ohne Umstände miteinander zu reden, ohne das die Frage, worüber denn zu Reden sei, überhaupt aufkommen konnte, so, als würden wir uns seit Jahren kennen und zugleich begann eine märchenhafte Entdeckungsreise, in eine unbekannte Welt, die phantastisch war, zauberhaft, wo Düfte sichtbar wurden, Farben einen Klang bekamen, als wären sie Musik, und wo die Töne durch die Haut drangen und etwas in mir zum Schwingen brachten, und plötzlich hörte ich, wie eine innere Stimme zu mir sagte: "die Welt ist voller interessanter Menschen, wunderbarer Seelen, achte auf das Leben, vergiß deine Kleinlichkeiten, laß dich überraschen, sei neugierig" - also neugierig bin ich genug, daran ist kein Mangel, und überhaupt ist es leicht, im Zug sein eigenes Leben auszubreiten, Geheimnisse anzuvertrauen, Intimitäten auszuplaudern, also wenn man Flirts, Liebschaften und Verwirrungen verhindern will, müßte das Zugfahren verboten werden, zumindest dürfte ich selber den Zug nicht mehr nehmen, diese Situation ist einfach: einmalig, man ist irgendwo abgefahren und da, wo man hin will, noch nicht angekommen, man befindet sich in einem Niemandsland, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, absolut präsent, nur dem Augenblick verpflichtet und zugleich wunderbar entspannt, es gibt nichts zu tun, außer der Arbeit, die man sich mitgenommen hat, das Buch, das man eigentlich lesen wollte, aber diese Arbeit ist nicht zwingend, nein, selbst wenn ich nicht arbeite, habe ich keineswegs das Gefühl, "nichts" zu tun, ich bewege mich ja von einem Ort zu einem anderen, und diese Bewegung ist das Eigentliche, nicht die Arbeit, die man vorsichtshalber mitgenommen hat, und in dieser entspannten Situation, in der man genau weiß, daß man den anderen sowieso nie wiedersehen wird, also, warum sollte man sich Zurückhaltung auferlegen, nein, da werden keine Namen genannt, von guten Freunden wird erzählt, das Alter und die Jahreszahlen spielen keine Rolle, die Sätze, die da gesprochen werden, hören sich so an: "es muß im Frühling gewesen sein, ich weiß noch genau, daß es bis in den April hinein geschneit hat, genau wie in diesem Jahr, aber endlich blühte der Flieder, der weiße und der blaue Flieder, den ich in meiner Kindheit schon mochte, da haben wir vorsichtig die kleinen Blüten abgerupft, das Ende des Kelches in den Mund genommen und einen winzigen Tropfen Flüssigkeit herausgelutscht, vielleicht war es nur etwas Tau mit Blütenstaub vermischt, aber wir waren uns sicher, meine Freundin und ich, daß wir davon wunderschön und unwiderstehlich werden würden, und außerdem hatte ich eine Woche zuvor dieses lang ersehnte grüne Kleid geschenkt bekommen, daß ich später eben jener Freundin geschenkt habe, die wiederum später nach Amerika gefahren ist, mit einem Freund und einfach nicht mehr zurückkam", kann man von solchen Sätzen nicht betrunken werden?, berauscht?, den Verstand verlieren?, da gibt es keinen Alltag, keinen Kleinkram, keine Mülleimer und niemanden, der das Mineralwasser nicht geholt hat, und Rechnungen kommen nicht vor und dringende Reparaturen müssen nicht gemacht werden, nein, man ist einfach da, man kommt, so scheint es, nach Jahren, die man, ich weiß nicht womit verbracht hat, wieder bei sich selbst an, ganz selbstverständlich, und es ist leicht sich hinzugeben, ohne jede Vorsicht, ohne Maske, ohne Schutz, - ich hörte mich selber plötzlich Geschichten aus meiner Kindheit erzählen, und den Traum der letzten Nacht, den ich eigentlich schon vergessen hatte, und von unerfüllten Sehnsüchten, von Reisen und den Geheimnissen fremder Städte, davon hörte ich mich reden, das ist das wirklich Gefährliche am Zugfahren, nein, man müßte die Leute zwingen, mit Autos herumzufahren, da ist jeder allein, hat viel Blech um sich herum, da kann einem eine unverhoffte Begegnung nicht passieren, da starrt man vor sich hin, im Höchstfall führt man belanglose Gespräche, bei denen man sich nicht in die Augen sehen muß, oder man dröhnt sich den Kopf voll mit irgendeiner Musik, aber auch das bietet bald keine Sicherheit mehr, wenn die Staus zunehmen, und sie nehmen ja zu, dann steigen die Leute einfach aus, und sie machen Picknick an den Rändern der Autobahn, sie setzen sich auf Decken, die sie aus irgendwelchen Gründen immer im Auto dabeigehabt haben, sie teilen ihr Brot und ihr Obst, ganz selbstverständlich, sie hören sich plötzlich gegenseitig zu, erzählen sich, wohin sie reisen und warum, wie erstaunlich froh sie über diesen Stau sind, in dem sie stecken, und sie sind sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich da ankommen wollen, wo sie eben noch dringlichst hinfahren wollten, nein, es ist gut, wenn sie nicht kommt, wenn es bei dem bleibt, was geschehen ist, bei diesem einen Gespräch, in diesem Speisewagen, in dem ich noch einmal geboren wurde und noch einmal meine Kindheit erlebte, mich noch einmal verliebte und Vater wurde, in dem noch einmal die ungelebten Möglichkeiten sichtbar wurden, aber auch die schmerzvollen Trennungen, die immer dazu gehören, weil alles, was anfängt auch zu Ende gehen muß, aber diese eine Trennung, die wird jetzt ausbleiben, weil ja nichts wirklich angefangen hat, denn schließlich kommt jeder Zug an und auch unser Zug erreichte den Bahnhof, obwohl sich zwischendurch ein paar Kühe auf das Gleis gestellt hatten und die Lokomotive aus irgendwelchen Gründen ersetzt werden mußte, trotzdem ging diese Fahrt so unglaublich schnell zu Ende, nein, es ist gut, daß diese Frau, die ihre linke, fein geschwungene Augenbraue so spielerisch auf und ab wandern lassen konnte, einfach nicht kommt, obwohl die Anzahl der Rosenblätter etwas anderes sagt, aber das hängt ja davon ab, wie man zu zählen anfängt mit: sie kommt oder sie kommt nicht, und es scheint, sie hat ein genaues Gespür, denn diese Begegnung, an diesem Tisch, in diesem Zug, wie könnte sie jemals überboten werden?, und beim Abschied, als ich die Tür öffnete, bevor wir ausstiegen und auseinandergingen wie Fremde, denn sie wurde ja abgeholt, gab sie mir einen ganz leichten, nur angedeuteten Kuß auf die Schulter, das war unser Abschied für immer, in dieser Geste war alles enthalten und aufgehoben und zugleich beendet, nein, es ist gut so, wirklich, ich bin bereit, es hinzunehmen, wie es ist, daß sie einfach nicht kommt; es ist doch klar, worauf es hinausgelaufen wäre, alle die Nächte, die ich, die wir schon in Gedanken miteinander verbracht haben, an diesem Tisch, die würden wir nun wirklich miteinander verbringen, und es wäre wunderbar und wild und alles noch einmal ganz anders und herausfordernd, und ich würde wieder Gefühle, Bereiche in mir entdecken, von denen ich nicht wußte, daß sie in mir sind, und dann begännen die Dienstreisen, die Hotelleben, die heimlichen Verabredungen, wie diese schon, wenn mich hier jemand mit der Rose herumstehen sieht, nein, dieses Lügen würde beginnen, und auf der anderen Seite wären da diese kleinen Zeichen der Verbundenheit, und das schlechte Gewissen, das damit einhergeht, und dennoch, so eine Liebe, im besten Fall, so ist es doch vor Jahren schon einmal gewesen, so eine Liebe, die weckt einen auf, da wird man großzügig, geht Umwege ohne Zorn, läßt sich Zeit, sieht die Kollegen mit anderen Augen an, bekommt einen leichteren Gang und schließlich nimmt man sich selber, die eigene Frau, die gewohnten Beziehungen ganz anders wahr, man wird tolerant und freigiebig, vorausgesetzt, daß man schweigen kann und sein eigenes schlechtes Gewissen, vor wem, warum und wozu eigentlich?, - nicht erleichtern will, in dem man obendrein seiner Frau oder eben seinem Mann erzählt, daß man nichts dafür könne, sich aber verliebt habe, was natürlich Quatsch ist, denn wer sonst kann etwas dafür, wenn man sich verliebt, nein, niemand kann einen zwingen, mit Zügen zu fahren, seine Arbeit in der Tasche zu lassen und Gespräche anzufangen, von denen man nicht weiß, wohin sie einen führen, und ich frage mich wirklich, wo meine Eifersucht bleibt in einer solchen Liebschaft, denn dieses wunderbare Wesen, daß da engelsgleich vor einem sitzt, ist natürlich auch verheiratet oder zumindest in einer festen Beziehung und verbringt die meisten Tage mit einem anderen Mann, was einem bei der eigenen Frau, was heißt "eigenen", nicht so angenehm wäre, daß heißt, manchmal denke ich schon, wenn sie sich wenigstens ein bißchen in jemanden verlieben würde, vielleicht wäre sie dann wieder etwas wacher, würde beschwingter durch das Haus gehen und morgens im Bad vor sich hin singen, wie sie es früher auch getan hat, aber so weit geht es dann doch nicht, den Wunsch laut auszusprechen, also nein, und vor allem, man sieht ja bei sich selbst am besten, wie leicht man die Kontrolle verliert, über sich, was heißt "Kontrolle", man müßte doch jedermann erlauben, das zu tun, was man für sich selbst in Anspruch nimmt, und wer hätte wem etwas zu verbieten, wenn diese merkwürdige Eifersucht nicht wäre, würde sich alles zum Guten wenden und die Menschen würden leichter und heiterer durch das Leben gehen, nein, die Rose läßt schon langsam den Kopf hängen, dabei ist es gerade erst sieben Uhr, aber ich hätte ja nicht eine halbe Stunde eher kommen und hier herumstehen müssen, vielleicht sitzt sie sogar da drüben im Cafe, schaut zu mir hinüber, beobachtet mich und liest meine Gedanken, ist eigentlich schade, daß ich nicht allen Menschen erzählen kann, wie glücklich ich bin, durch eine kleine Begegnung in einem Zug, aber nein, wir sind in den Alltag hineinverwoben, wir haben Angst voreinander, machen uns selbst und den anderen klein, sehen nur noch Fehler und Unzulänglichkeiten, und erst nach einer großen Reise, nach zehn Jahren vielleicht, oder auch erst am Ende des Lebens, wenn man zurückschaut, dann wird das Wesentliche wieder vom Unwesentlichen getrennt, dann kann es sein, daß in der Erinnerung die Frau und die Geliebte nebeneinander stehen und sich auf wunderbare Weise ergänzen, und man fragt sich, warum sie damals nicht Freundinnen werden konnten, und warum man selbst nicht der beste Freund des Mannes der Geliebten werden konnte, mit dem man sicher mehr gemeinsam hat, als mit vielen anderen Menschen, denen man begegnet, warum kann man diesen gemeinsamen Grund allen Lebens nicht sehen, warum erkennen wir nicht, daß wir in diesem Drama alle miteinander verbunden sind, auch wenn wir in diesen Tagen und Jahren gegeneinander stehen, angestachelt von Angst und Neid, von Eifersucht und Mißgunst, wovon ich ja selbst nicht frei bin, dabei verliere ich sowieso das, was ich festhalten will, und was mir vor Jahren als Niederlage erschien, empfinde ich heute als eine glückliche Fügung, dabei war ich mir damals sicher, noch nie so gelitten zu haben und nie darüber hinwegzukommen; und worauf ist man überhaupt eifersüchtig, mein Gott, daß ich, daß wir in diesem Zug, an diesem Tisch, die Fingerspitzen aneinander gelegt haben, daß unsere Hände sich vorsichtig auf und nieder bewegten, vor und zurück ohne sich zu verlieren und dadurch eine zarte, schmeichelnde Bewegung entstand, ein Tanz, bis endlich ihre Hand warm, weich und ruhig in meiner lag, also, ich meine, die Hand gibt man doch vielen Menschen und da ist ja nun wirklich kein Grund nicht, darauf eifersüchtig zu sein, woran man nur sieht, daß das mit den materiellen, körperlichen Vorgängen allein nichts zu tun hat, wie könnte man sonst zum Arzt gehen und sich an den empfindlichsten Stellen berühren lassen, nein, die Energie, das unbestimmbar Schwebende, das, was in Sekunden den Speisewagen in einen Palast verwandelt hat, in ein Schloß, eine versteckte Berghütte, ein Hochzeitsbett, einen Venustempel, und das, was so unfaßbar ist, wie der Wind, was kein Mensch wirklich behalten kann, selbst wenn er es wollte und wünschte, nein, was er sogar vertreibt, wenn er es bannen will, nein, wofür man nur einen Raum eröffnen kann, sich bereithalten und wenn es geschieht, es als ein Wunder hinnehmen, als etwas, was in jedem Moment vollkommen ist und nicht nach morgen fragt und nicht nach Gründen und Ordnungen und was sich doch nach ewigen Gesetzen richtet, über die niemand zu befinden hat; die Frage ist eher, warum es mir nicht gelingen will, alle Tage so klar, so verwegen und leicht zu verbringen, dann würden mein Leben und alle meine Beziehungen vollkommen anders aussehen, aber normalerweise will ich diesen Menschen festhalten, als ob er es wäre, der das Wunder bewirken würde, dabei rührt er doch nur etwas an, was schon in mir ist, oder wie kommt da etwas in mich hinein, was vorher nicht da war, und plötzlich selbstverständlich vorhanden ist, ein Teil von mir selbst, nein, diese Verwirrungen, die im Leben angerichtet werden, in dem, was man das "normale" Leben nennt, ach, es ist schon die Ahnung von etwas, ein Wunder, und wenn ich das Wunder einmal erlebt, oder zumindest so nah schon gespürt habe, möchte ich es nicht mehr missen, oder zumindest möchte ich, daß es sich noch ein einziges Mal wiederholt, und alle Menschen tun mir leid, die ohne diese Wunder leben müssen, aber eine Ahnung scheint sogar in dem noch zu sein, der sich nur noch am Essen freuen kann, wie bei diesem Dicken da, in dem Mitropawagen, und jetzt komme ich mir vor, wie damals, als Vierzehnjähriger, mein Gott, wie ich da herumstand, ausgerechnet mit lila Flieder, den ich geklaut hatte, unglaublich, wie die Zeit vergeht und merkwürdig, daß ich nicht ungeduldig werde, nein, ich weiß genau, daß sie kommen wird, eine solche Gelegenheit läßt niemand aus, der bei Sinnen ist, komisch, sonst hasse ich es zu warten, aber heute scheint es mir fast ein Vergnügen zu sein, und wenn sie kommt, werde ich sie umarmen und niemand wird etwas dabei finden, die Leute werden denken, wir kennen uns schon lange, natürlich nicht so lange, dann wäre die Umarmung nicht so innig und zugleich so verschwenderisch, und warum ist das so?, warum bleibt es nicht, wie es am Anfang ist?, wohin verschwindet das Leidenschaftliche?, warum kann man sich nicht den unschuldigen Blick bewahren?, die Neugier, die Offenheit, das muß doch möglich sein, dieses Staunen, so wie man als Junge gestaunt hat, als Vierzehnjähriger, über den Ansatz ihrer Brüste und die zarten Knospen, und jede Berührung war ein Wunder, ein Schauer, welcher Gott, welches Schicksal hat das über uns verhängt, ja, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, wie die Geliebte zur Frau wurde, und ich auf einmal eifersüchtig und kleinlich gewesen bin, nein, insofern ist doch die Frage, was daraus werden würde, wenn sie wirklich käme, aber ich glaube trotzdem, daß sie kommen wird, es ist so schwer im Augenblick zu leben, die Dinge hinzunehmen wie ein Wunder, ohne falsche Scham, und ohne sie zu benutzen, ja, so lange ich offen bleiben kann, die Beziehung in der Schwebe halten, ohne Ansprüche, ohne Erwartungen, so lange kann ich dieses unbeschreibliche Glück erleben, und es wächst von Begegnung zu Begegnung, denn ich lebe so, als wäre es jeweils, zugleich, das allererste und das allerletzte Mal; mit dieser Haltung müßte ich überhaupt jeden Moment, jede Stunde, jeden Tag leben, das ist doch meine Existenz: vergänglich und ungesichert, gefährdet und zerbrechlich, da helfen mir keine Rituale und keine scheinbaren Sicherheiten, und selbst den sogenannten "Alltag", den gibt es doch gar nicht, jeder Tag ist einmalig und unwiederholbar, und ich weiß es im Innersten, und vergesse es doch immer wieder, bis ich mich eines Tages verliebe, - was heißt "verliebe"?, habe ich mich verliebt?, könnte man das so sagen?, vielleicht, ja, ich weiß nicht, oder bis ich eines Tages, mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus liege und mich frage, wie ich mein Leben zugebracht habe, aber wenn man dann die Chance hat, noch einmal aufzustehen und gesund zu werden, dann kann man sich wieder freuen, an seiner Gesundheit, die man vorher für so selbstverständlich gehalten hat, daß man sie gar nicht bemerkte, aber diese Liebe, so eine neue Liebe, nein, man fühlt sich wie neu geboren und der andere, der einen mit unverstelltem Blick anschaut, wie man ja selber den anderen auch ansieht ganz frei, bedingungslos, ohne etwas zu erwarten, nein, der andere akzeptiert mich nicht nur so, wie ich bin, was sich schon wunderbar anfühlt, nein, der andere sieht in mir mehr, als ich bei mir selber sehen kann, der bemerkt schon Fähigkeiten, die noch gar nicht vorhanden sind, als wären sie schon existent - und das Wunder, das geschieht: ich erwache und verwirkliche ungeahnte Dinge mit Kraft und Leichtigkeit, ich gehe spielerisch über das hinaus, was ich mir selber irgendwann als eine Grenze gesetzt habe; wie einmalig und unwiederholbar ist doch eine jede Begegnung, und ich bin meistens nur zu stumpf und zu oberflächlich, es zu fühlen und auszudrücken - man hat "miteinander gesprochen", "war zusammen essen", "hat zusammen geschlafen", als ob das irgend etwas beschreiben würde, natürlich haben meine Handlungen Konsequenzen, das ist klar und dennoch gibt es eigentlich keinen Grund für Eifersucht, das ist ein irres, ein überflüssiges Gefühl, als ob mir oder irgend jemandem etwas "verloren" gehen würde, dabei habe ich es doch nie wirklich besessen und allein diese dummen Vergleiche mit dem Dinglichen, nein, ich habe immer mehr Energie, je mehr ich "verschenke", und ich bekomme um so mehr, je mehr ich gebe, und zuletzt ist da so viel Energie, Kraft und Leichtigkeit vorhanden, daß ich eher das Problem habe, nicht zu wissen, wohin mit all diesem Glück und diesem Überschwang, bis zu jenem Tag, an dem ich Angst bekomme, nicht mehr bereit bin zu empfangen und gehen zu lassen, sondern besitzen will und absichern und festhalten, dann kann ich zusehen, wie die Liebe verwelkt und vor sich hinstirbt, und ich weiß das alles und mache dennoch immer wieder die gleichen Fehler, und erst eine neue Liebe, in einem neuen Frühling, die weckt einen auf, und - ich glaube, da hinten, - ich glaube, da kommt sie, wirklich, nein, sie ist ja noch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte, oder sehe ich nur, was ich sehen will, - ach, wenn ich mit dem richtigen Blick schaue, dann sehe ich auf einmal nur noch Schönheit, - und sie ist es wirklich, und sie kommt, und sie kommt - auf mich zu ...

Mit freundlicher Genehmigung des Autors.  Ursprünglich erschienen bei Elephanten Press.


zurück zum inhaltsverzeichnis