glossen: artikel


DICHTUNG UND WAHRHEIT: ZUM FALL STEPHAN HERMLIN
Wolfgang Ertl

I.

Der antifaschistische Widerstand ist das große Thema der Dichtungen Stephan Hermlins von den Exilgedichten der vierziger Jahre bis zu dem autobiographischen Prosawerk Abendlicht von 1979. Die Rezeption seines literarischen Werkes in Ost und West oszillierte von Anfang an zwischen anerkennender Würdigung und scharfer Kritik. Nicht weniger umstritten ist seine kulturpolitische Rolle in der DDR. Zum 80. Geburtstag Hermlins, der am 13. April 1915 in Chemnitz geboren wurde, erschien im Verlag Klaus Wagenbach das Buch In den Kämpfen dieser Zeit, das Hermlins Selbstverständnis seiner Rolle als Intellektueller in der DDR dokumentiert.1  Der früheste der Texte dieses Bandes ist ein auf Erich Honeckers Vorschlag geschriebenes, bisher unveröffentlichtes Papier von 1972, in dem Hermlin unverblümt schwerwiegende "Mängel" in der Kulturpolitik der DDR benennt. Es geht dabei um Fragen des literarischen Erbes und der Zensur. Hermlin bedauert unentschuldbare Versäumnisse, was die Pflege des kulturellen Erbes Deutschlands und vieler anderer Länder, wie etwa Frankreich, betrifft, beklagt den Mangel an Kompetenz bei den Wissenschaftlern und zuständigen Kulturpolitikern und führt das "Nichtdrucken bedeutender Literatur der Vergangenheit und Gegenwart" auf eine falsche "Einschätzung des Wesens dieser Literatur" zurück: "Was [...] in den letzten Jahren von sogenannten Wissenschaftlern an grotesken, selbstentlarvenden Beurteilungen geleistet wurde, stellt einen Rekord dar" (9). Man müsse "kulturelle Beziehungen, auch wenn die Kultur eine selbständige Rolle spielt, unter dem Gesichtspunkt der friedlichen Koexistenz sehen" (10). Im Bereich der DDR-Literatur selbst prangert Hermlin die "jedes Maß übersteigende Zensur (die natürlich um keinen Preis Zensur genannt werden will)" an, spricht er von einer "Art Literaturpolizei", die in Gestalt der "sogenannten Außenlektoren, die über Leben und Tod eines Buches entscheiden", ihr Unwesen treibt (11). Ein Bericht im Spiegel, der auch Auszüge aus diesem Papier abdruckte, trägt einige Information zum Hintergrund dieser "Gedächtnis-Stütze" zusammen: Der Auftrag an Hermlin habe wohl etwas mit der Absicht Honeckers zu tun, "sich auf der bevorstehenden 6. ZK-Tagung [...] als kulturpolitischer Erneuerer [zu] profilieren". Mit solch einer "grimmige[n] Abrechnung" habe Honecker nicht gerechnet und nie auf "diese Provokation" geantwortet: "Hätte er Hermlins Kritik beherzigt - zweifellos wäre das intellektuelle Innenleben der DDR freier geworden, auch erheblich weltoffener". 2

In der bekannten Rede vor dem Schriftstellerkongreß im Mai 1978 bezeichnete Hermlin sich bekanntlich als "spätbürgerlicher Schriftsteller" und berief sich auf die Vorbilder "der meisten Vorkämpfer des Sozialismus", einschließlich der "kulturellen Leistungen des europäischen Bürgertums in sechs Jahrhunderten" und der "Ära des Spätbürgertums, die, vielen Voraussagen zum Trotz, seit nahezu einem Jahrhundert nicht enden will" (22, 23). Immer wieder beklagte Hermlin die einseitige und verengende Ausrichtung der offiziellen DDR-Kulturpolitik. Während er "keinen Wert auf ein Gesamtdeutschland" legte und dies auch wiederholt begründete, beharrte er auf der Unteilbarkeit der deutschen Kultur: "Die Gründung der DDR vor fast dreißig Jahren war eines der wichtigsten Ereignisse deutscher Geschichte, und ich darf sagen, ich bin dabei gewesen. Aber diese Gründung war nicht das Ende deutscher Geschichte, sondern ein neues Kapitel in ihr. Und weiter: die Existenz einer Literatur ist nicht deckungsgleich mit der Existenz von Staaten" (24). Mit dem Bild vom "so alten, so vielgestaltigen, so mächtig schattenden Baum" (23) verdeutlichte Hermlin sein ehrfürchtiges Verhältnis zur gesamten deutschen Kultur. Auch sein Verständnis der Rolle des Dichters entsprach kaum den Wunschvorstellungen der Kulturfunktionäre: "Es ist das Vorrecht der Dichter, vernunftlos zu träumen" (25).

Besonders umstritten sind Hermlins Äußerungen zu den Stalin-Gedichten, die er wie so viele andere Kommunisten geschrieben hat. In dem Fernsehinterview mit Günter Gaus (September 1984) erklärt Hermlin, es seien "utopische Gedichte, Gedichte, in denen eine Gestalt und ein Name, wenn Sie so wollen zu Unrecht, als Symbol für eine große Sache stehen" (54). Man müsse die Zeit erlebt haben, in der man "absolut keine Zeit hatte, sich entweder dem Faschismus zu unterwerfen und anzupassen oder gegen ihn bis zur letzten Konsequenz zu kämpfen" (55). In dem Gespräch mit Günter Kaindlstorfer (Sommer 1992) wiederholt er diese Begründung und fügt hinzu: "Ich habe mich zu diesem barbarischen Regime bekannt" (95).

Hermlin wurde nach der Wende Mitglied der SED-Nachfolge-Partei PDS. Er begründete dies damit, daß er "immer für die Machtlosen eingetreten" sei: "Ich war dieser Partei treu, trotz ihrer entsetzlichen Mängel, weil sie eine Vorform von Utopie realisieren konnte. Und ich bin ihr noch immer treu, weil sie heute eine machtlose Partei ist" (98). In seiner Rede "Zur Lage" (1992) geht er weiter auf den Begriff "Utopie" ein (er bevorzugt allerdings den Terminus "Vision"), richtet sich gegen den "hysterische[n] Kampfruf gegen die Utopie" (99) und verteidigt die "von der Welt anerkannte Kulturanstrengung" der DDR (101) gegen den Vorwurf der "Gesinnungsästhetik". Dem Argument, "die inkriminierten Schriftsteller hätten gerade durch Interessantheit und Perfektion die Existenz des verhaßten Staates verlängert oder auch ihm eine künstlerische Aura verliehen anstatt ihn zu stürzen" hält er entgegen, daß die Kritiker "in ihrem Übereifer" nicht merkten, "wie nahe diese Argumente den Haltungen der Dogmatiker von einst kamen" (102).

Hermlins grundsätzliche Loyalität der kommunistischen Bewegung gegenüber erklärt sich in besonderem Maße aus seiner Biographie, die geprägt ist von den "Kämpfen dieser Zeit". Sie trägt durchaus die Züge einer Art religiöser Verbundenheit, was Hermlin übrigens nie geleugnet hat. In einem Interview mit Fritz Raddatz sagte Hermlin 1995: "Auch heute noch, auch in diesem Moment, sehe ich nirgendwo auf der Welt etwas, was diese Bewegung ablöst, die im Moment fast nicht mehr existiert; aber sie kann ja wiederkommen, wird auch wiederkommen".3

II.

Kurz vor seinem Tod am 6. April 1997 sah sich Hermlin ein letztes Mal heftig angegriffen, allerdings nicht wegen irgendwelcher provokativer Stellungnahmen in den Ost-West-Auseinandersetzungen seit der Vereinigung Deutschlands oder seines unerschütterlichen Festhaltens an der Partei. Als Zeit-Dossier veröffentlichte Karl Corino am 4. Oktober 1996 unter dem Titel "Dichtung in eigener Sache" einen Artikel, in dem er Hermlin der Lebenslüge bezichtigte: "Die Autorität des DDR Schriftstellers Stephan Hermlin beruhte auf seiner Selbstdarstellung als unbeugsamer Widerstandskämpfer. Doch dieser Lebensmythos ist erlogen."4  Pünktlich zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 1996 brachte der Hessische Rundfunk dazu die erweiterte Fassung von Corinos Untersuchung zur Biographie des Dichters 5, und im selben Jahr erschien dann die reichhaltig illustrierte Buchausgabe mit dem Titel Außen Marmor, innen Gips. Die Legenden des Stephan Hermlin.6

Im folgenden seien die wichtigsten Einzelergebnisse von Corinos biographischen Nachforschungen wiedergegeben. Da ist zunächst die "Familienlegende" (16): Mit dem großbürgerlichen Reichtum der Eltern sei es nicht so weit her gewesen, wie Hermlin es darzustellen liebte. Er verschweige den "wirtschaftlichen Niedergang" seines Vaters David Leder seit der Währungsreform 1924 (40,41). Man habe "den Eindruck, als habe Hermlin den Reichtum seiner Eltern [ ...] vor allem deshalb so ins Phantastische gesteigert und über das Verfallsdatum hinaus prolongiert, um seinen Absprung desto imposanter zu machen, seine intellektuelle und politische Frühreife desto erstaunlicher" (62). Hermlins Mutter Lola sei nicht Engländerin, sie stamme vielmehr aus Galizien. "Richtig [...] an der Geschichte seiner Mutter Lola [sei], daß ihre Eltern einige Jahre in England verbrachten und 1900 als naturalisierte Briten aus London nach Chemnitz übersiedelten. Ihre Tochter Lola [hätten] sie allerdings in Galizien bei Verwandten zurückgelassen und [...] dann nach Chemnitz [nachgeholt]. Richtig [sei] auch, daß Lola Leder im April 1948 als Witwe im Exil nach entsprechender Wartezeit englische Staatsbürgerin wurde" (20). Corino unterstellt Hermlin, daß er die galizische Herkunft seiner Mutter nicht erwähnte, weil "es in Berlin nicht als fein [ galt] , aus Galizien zu stammen "(20). Hermlin habe weiterhin das "Judentum seiner Mutter" geleugnet (22). Sein Vater hätte weder als Soldat im Ersten Weltkrieg gekämpft, wie es in Abendlicht zu lesen ist, noch sei er im KZ Sachsenhausen umgekommen. Er sei vielmehr 1938 aus dem KZ entlassen worden und 1947 an Leberkrebs gestorben. Hermlins Bruder Alfred Leder habe sein Leben beim Absturz seiner Trainingsmaschine während seiner Pilotenausbildung in Kanada und nicht als Flieger einer Spitfire verloren. Corino bezeichnet die Darstellung des Heldentodes Alfred Leders in Abendlicht als "Höhenschwindel" (124).

Auch den "Mythos seiner Schweizer Internatsjahre" (42) und sonstigen Schulzeit kann Corino korrigieren: Hermlin sei nicht in einem teuren Lyceum, sondern allenfalls möglicherweise in einer privaten Kleinkinderschule in der Schweiz auf das Gymnasium vorbereitet worden (44). Auch habe er nie Abitur gemacht und folglich auch nie studiert, wie er in einem Fragebogen der amerikanischen Besatzungsmacht 1946 angegeben hatte (54). In der autobiographischen Erzählung "Rückkehr" schreibt Hermlin davon, wie er sich im Ausland gelegentlich in die Nähe von deutschen Soldaten begeben habe, um die deutsche Sprache zu hören: "ein paarmal kam ich mit welchen ins Gespräch, mir fiel es schwer, die eigene Sprache zu mißhandeln, einen fremden Akzent vorzutäuschen und das Lob entgegenzunehmen, ich spräche doch recht gut deutsch, was mir die erklärende Lüge entlockte, ich, der ich doch niemals studiert hatte, hätte zwei Semester an einer deutschen Universität absolviert" (460). Hier wäre also in der Erzählung von 1982/83 eine Korrektur der früheren Lüge, die, wie Corino annimmt, dazu dienen sollte, dem nach Deutschland zurückgekehrten Hermlin bessere Berufschancen zu ermöglichen.

Corino bezweifelt weiterhin Hermlins Jahre der Illegalität in Berlin seit 1933, da Hermlin bei seinen Eltern gewohnt habe und sich seine Eheschließung mit Juliett Brandler 1935 und die legale Ausreise nach Palästina 1936 nicht mit einer solchen Tätigkeit wie der Führung einer Widerstandsgruppe vereinbaren lasse. In dem schon erwähnten Fragebogen von 1946 findet sich die falsche Angabe, daß Hermlin von Januar bis März 1934 im Konzentrationslager Sachsenhausen gewesen sei. In dieser Zeit gab es dieses KZ noch nicht. Hermlin sei weiterhin nie Offizier in den Internationalen Brigaden der Spanischen Republikanischen Armee gewesen, wie er in seinem für den Hessischen Rundfunk geschriebenen Lebenslauf von 1946 anführt und was Passagen in Abendlicht und anderen Erzählungen wie "Zeit der Einsamkeit" und "Arkadien" nahelegen (96). Der Spanienkämpfer Alfred Kantorowicz hatte schon in seinem Tagebuch von 1979 auf das "Kuriosum" einer "betrügerischen Anmaßung" Hermlins hingewiesen (101, 102). "Zu Hermlins Heldengeschichten in eigener Sache gehören die von der Resistance", heißt es bei Corino (124). Hermlin habe sich mit einigen Figuren aus seinen Erzählungen selbst heroisiert, so etwa mit dem ehemaligen Spanienkämpfer Louis aus "Arkadien" oder mit Neubert aus "Die Zeit der Einsamkeit" (126). Dagegen sei es im französischen Exil schwerlich so dramatisch zugegangen wie in den Geschichten: "Hermlin war kein Kämpfer im Maquis, sondern Landarbeiter bei südfranzösischen Bauern oder Gärtner in einem jüdischen Kinderheim [...]. Vielleicht schickte Hermlin, wenn es hochkam, einmal eine deutsche Streife, die nach dem Weg fragte, in die Irre, so wie er es in seiner Erzählung 'Hölderlin 1944' beschreibt" (140).

Mit Hermlins Beitritt zum kommunistischen Jugendverband verhalte es sich auch nicht so, wie Hermlin es erzählt habe. In Abendlicht schildert das Ich, wie es den auf der Straße diskutierenden Sozialdemokraten, Kommunisten und Nationalsozialisten zuzuhören pflegte, die Argumente der Kommunisten am überzeugendsten fand und wie es zu seinem Beitritt zum Kommunistischen Jugendverband 1931 als kaum reflektiertem, fast traumhaft-zufälligem Vorgang auf der Straße kam, als er eines Tages angesprochen wurde: "'Na, was bist denn du für einer ... Bist wohl Gymnasiast, wie?' Die Stimme klang ironisch, aber keinesfalls feindselig; [ ...] Wir wechselten noch ein paar Worte, ehe der Fremde mich plötzlich fragte: 'Na, wie ist es ... Willst du bei uns Mitglied werden?' Er hatte aus seiner Jackentasche einen Zettel gezogen, ein zerdrücktes, nicht sehr sauberes Blatt, das er mir hinhielt. Der Zettel war nicht gedruckt, er war in verwischten, blassen Lettern auf einem Abziehapparat hergestellt worden und bekundete, der Unterzeichner sei von jetzt an Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands. Damals konnte man auf der Straße seinen Eintritt vollziehen, es gab keine Bürgen und keine Kandidatur, und einem neuen Genossen wurden keine Blumen überreicht. Noch nie war ich in einer politischen Vereinigung gewesen; ich gehörte keinem Sport- oder Wanderverein an. Ich blickte auf den zerdrückten, verwischten Zettel und unterschrieb. Die Straße drehte sich langsam und unaufhörlich um mich" (508, 509).7  Das hier beschriebene Ich verhält sich keineswegs nur rational, es gibt sich vielmehr einem idealisierten Verband von andersartigen, aber gleichgesinnten Altersgenossen hin und erfährt das so entscheidende und seinen zukünftigen Lebensweg determinierende Ereignis als schwindelerregend, wenn auch nicht im Sinne Corinos, der, Hermlins metaphorische Verdeutlichung einer psychischen Verfassung mokant verkennend, schreibt: "Die drei Jahre jüngere Schwester Hermlins, Ruth Frenkel, erinnert sich, weniger schwindelerregend, an folgendes: Sie ging 1931, dreizehnjährig, auf die Fürstin-Bismarck-Schule in Berlin. Damals verliebte sie sich in einen Jungen, der dem SSB, dem Sozialistischen, d. h. dem kommunistischen Schüler-Bund, angehörte und sie überredete, dort ebenfalls einzutreten. Sie nahm ihre beiden älteren Brüder Rudolf alias Stephan Hermlin und Alfred mit dorthin, und sie wurden ebenfalls Mitglieder. Der Anstoß, in eine kommunistische Jugendorganisation einzutreten, durch die drei Jahre jüngere, später aus dem Gedächtnis gestrichene Schwester, gar noch im Gefolge einer Liebesgeschichte - solch zufälliges erotisch-politisches Morgenlicht paßte verständlicherweise nicht ins 'Abendlicht'! Trat Hermlin nach dieser Initiation in den SSB irgendwann dem KJVD bei?" (66)

III.

Die Debatte über Corinos Enthüllungen vollzog sich, wie Manfred Jäger im Deutschland Archiv schreibt, "in einer aufgeheizten, gelegentlich neurotisierten Tonart".8  So schrieb Stefan Heym zum Beispiel, Corino versuche, "Hermlins Ruf zu zerstören, indem er deutlich erkennbare Fiktion aus dessen Werk als autobiographischen Fakt ausgibt, um auf diese Weise den Mann der Fälschung seines Lebenslaufs und der Ruhmrednerei zu zeihen." Indem man "ein 'Standbild der DDR-Literatur' wie Hermlin [demontiere], so schmälert man den Ruf dieser Literatur überhaupt und nimmt den Ex-Bürgern des Ex-Landes, deren Selbstbewußtsein durch die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen dort sowieso gelitten hat, eine Identifikationsfigur."9  Sylvia Schlenstedt, von Corino als Hermlins "proletarisch begeisterte Biographin" (68) bezeichnet, kritisiert Corinos "Ausblendung gelebter Geschichte", die zu Fehlschlüssen über Hermlins Arbeit im Widerstand führe (229). Besonders provokativ war die Äußerung Dieter Schlenstedts, des Präsidenten des Deutschen PEN-Zentrums (Ost), der Corino selbst als Lügner bezeichnet: "Tatsächlich ist Corino der Lügner mit der Raffinesse, im Umhang der Wahrheit zu sprechen: die angeführten Fakten mögen stimmen; die Behauptung jedoch, Hermlin habe anderes in der vorgegebenen Art gesagt, ist reine Unterstellung" (218, 219).

Selbst Antisemitismus wurde Corino vorgeworfen. Henryk Broder geht in seinem Spiegel-Artikel auf diesen Vorwurf ein. Corinos "Äußerungen über Hermlin mögen hämisch, gemein, verletzend sein, antisemitisch sind sie nicht. [...] Antisemitisch ist nicht der Hinweis auf die jüdische Familiengeschichte eines Autors, der als Jude verfolgt wurde, sondern der Versuch eines Autors, seine jüdische Familiengeschichte zu arisieren — nicht um sich zu retten, sondern um sich aufzuwerten und in den Genuß von Vergünstigungen zu kommen." Es gehe mitnichten um "die Demontage eines Denkmals", denn da gebe "es nicht mehr viel zu demontieren. Was übrigblieb, könnte auf dem Rücksitz eines Trabi bequem Platz nehmen. Es geht um ein Stück DDR-'Kultur' oder 'Identität', an das sich viele Ex-DDR-Bürger gewöhnt haben und das auch im Westen der Republik seine Anhänger hat. Es geht darum, daß im real existierenden Sozialismus eigentlich nichts real war."10

Als weitere Stimme aus dem Westen sei noch Iris Radisch zitiert, die in der Zeit zu dem Ergebnis kommt, Hermlin habe "sein Leben, nicht nur unter dem Vorbehalt des Fiktiven, nicht nur in seinem Bericht 'Abendlicht' schöngeschrieben und vor allem: unwidersprochen schönschreiben lassen. Die nüchterne Sprache der Fakten paßte nicht zu den süßen Geigenklängen des Kommenden. Es gibt keine Menschenpflicht zur Wahrheit. Aber es gibt ein Menschenrecht, den Süßholzrasplern zu mißtrauen."11

In einem Spiegel-Interview gibt Hermlin zu, daß die Angabe, er sei von Januar bis März 1934 im KZ Sachsenhausen gewesen, eine Lüge war: "Es ist möglich, daß ich glaubte, bei den Amerikanern größeres Wohlwollen zu finden. Um zu überleben, mußte ich mich damals mehr als einmal verstellen. Es gibt, sagte einmal der Dichter Aragon, ein 'wahres Lügen'.12  In seinem "Schlußwort" zur Debatte im Freibeuter schreibt Hermlin, daß es sich bei der ganzen Diskussion, in der seine Person nur als Vorwand diene, im Grunde um "die Legende einer Legende" handele", nämlich "einen sagenhaften, erfundenen antifaschistischen Widerstand, der den Deutschen im Jahre 1996 wie eine Gräte im Hals steckt": "Meine, mit Verlaub, Kritiker reden pausenlos von Stilisierung, Selbsterhöhung, Heroisierung — in Wirklichkeit kann man alles, was ich in Zusammenhang mit den Kämpfen zwischen 1933-45 über meine Person geschrieben habe, unter den Titel stellen, den mein zweiter Gedichtband trägt: Die Straßen der Furcht. In Wahrheit ist das, was mich in all jenen Jahren prägte, Furcht gewesen, allerdings auch ihre Überwindung, die Furcht vor der Furcht."13

IV.

Das Verdienst Corinos besteht darin, einige Lücken in Hermlins Biographie gefüllt, etliche Irrtümer korrigiert und die Aufmerksamkeit auf die Diskrepanzen zwischen autobiographischen (oder vermeintlich autobiographischen) Texten und Faktenmaterial gelenkt zu haben. Es bietet sich durchaus an, dem Autobiographischen an solchen Schriften wie Abendlicht besondere Aufmerksamkeit zu schenken, besonders da es an detaillierten Lebenszeugnissen über den Dichter mangelt, aber es verbietet sich, für bare autobiographische Münze zu nehmen, was vielfach gefiltert und gebrochen fiktionalisiert erscheint. Zumindest müßte geklärt werden, welcher Stellenwert dem erzählten Lebenslauf in dem kunstvoll durchkomponierten Gesamtgefüge des Werkes zukommt. Es kommt mir im folgenden gar nicht darauf an, die Ergebnisse von Corinos Recherchen, soweit sie sich auf dokumentarisches Faktenmaterial stützen, in Frage zu stellen. (Welchen Aussagewert allerdings zum Beispiel die von Corino herangezogenen Auskünfte von Hermlins in Israel lebender Schwester Ruth Frenkel haben, mit der Hermlin seit 1957 keinen Kontakt mehr hatte, sei dahingestellt.) Man wird nicht umhin können, sich bei der weiteren Beschäftigung mit Hermlins Werk auf die von Corino erforschten Unstimmigkeiten oder Unwahrhaftigkeiten zu besinnen, die seinen Lebenslauf betreffen. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit stellt sich sicherlich.

Leider dient Corinos Buch aber nicht nur der Wahrheitsfindung bezüglich der Biographie eines zeitgenössischen Dichters. Von Anfang bis Ende überwiegt in Corinos Darstellung weniger die sachliche Auseinandersetzung mit einer sicherlich kontroversen und widersprüchlichen Dichterpersönlichkeit als das Gehabe der Enthüllung, woran ja der Titel des Buches mit seinem (übrigens nicht genauer nachgewiesenen) angeblichen Brecht-Zitat keinen Zweifel läßt. Corino merkt nur an: "Dieser Ausspruch über Stephan Hermlin wird Bertolt Brecht zugeschrieben" (15). Dazu äußerte Hermlin: "Übrigens steht es schlecht um ein Buch, dessen Titel bereits eine Fälschung darstellt. Ich kenne ihren Urheber. Angeblich hätte Brecht derart von mir gedacht. Seine wahre Meinung war nachweislich ganz anders."14 Ergebnis von Corinos Recherchen "auf der Suche nach den Tatsachen" (7) ist, daß Hermlin "sich systematisch eine Wunsch-Biographie gebastelt hatte, ein System, bei dem die literarischen Texte des Autors, seine Äußerungen in Interviews und die von ihm undementierten Verlautbarungen Dritter oft wie Zahnräder ineinandergreifen, eine Maschinerie, die 50 Jahre lang, seit 1946, funktionierte" (7). An anderer Stelle spricht Corino gar von einem "Komplott gegen die Wahrheit" (9). Es soll hier nicht bestritten werden, daß Hermlin zu Selbststilisierung neigte und daß Verklärung der erlebten Wirklichkeit eine beträchtliche Rolle in Hermlins Werk spielt. Trotzdem ist nicht zu übersehen, daß Hermlin in vielen seiner Werke, ob Lyrik oder Prosa, nicht seine eigene Rolle glorifiziert, sondern anderen Widerstandskämpfern eindrucksvolle Denkmäler setzt. Corinos Bilanz, Hermlins Leben und Werk sei ein einziges einheitliches Konstrukt der Verlogenheit scheint mir reichlich abwegig zu sein. Die Maschinerie — Metaphorik, zu der Corino hier greift, ist geradezu grotesk. Im Klappentext von Corinos Buch heißt es zwar, der Autor enthalte sich jeglicher Wertung, der Tenor des Buches ist jedoch durchweg abwertend. In seinem Nachwort spricht Corino davon, daß er "alle Modi der Verfälschung und des Aufschneidens" gefunden habe, und nennt alle "diese Details einer imaginären Biographie [...] Ausfluß von Ruhmseligkeit, Eitelkeit, Maulheldentum, Selbststilisierung" (190).

So beginnt das Buch mit einer Antwort Hermlins auf die Frage "nach den Ursachen des weltweiten Zusammenbruchs des Kommunismus": "[...] ich glaube, die wesentliche [Ursache] war die Absage an die Wahrheit. Der Kommunismus bediente sich einer Strategie, die auf Lüge und Selbstbetrug aufgebaut war [...] diese Leute logen, weil das gegenseitige Belügen zu einem Grundsatz des Systems geworden war" (14). Die Auswertung dieser immerhin bemerkenswerten Einsicht eines nach wie vor treuen Mitglieds der kommunistischen Bewegung erschöpft sich bei Corino in der für ihn natürlich rein rhetorischen Frage, ob es denkbar sei, "daß der Schriftsteller Hermlin [ ...] hier das Gesetz seiner eigenen Existenz formuliert" habe und "daß ein Großteil seines autobiographischen Werks, seine Erzählungen und seine Bilanzschrift 'Abendlicht' die Inszenierung einer großangelegten und jahrzehntelang durchgehaltenen Lebenslüge sind?" (14,16). Seiner Beteuerung entgegen, er "ebne" mit seinem Vorgehen "die ästhetischen Unterschiede zwischen den einzelnen 'Textsorten', zwischen einer Antwort im Fragebogen, im Gespräch und einem literarisch ziselierten Satz nicht ein, sondern schärfe gerade den Blick dafür" (9), spricht er hier von der Möglichkeit (d. h. natürlich kündigt er schon das Ergebnis seiner Untersuchungen an), daß Hermlins ganzes literarisches Werk nicht etwa in seiner Fiktionalität nicht mit realer biographischer Existenz verwechselt werden dürfe, sondern daß seine Intention schlichtweg gewesen sei, eine "Lebenslüge" aufzubauen und zu verbreiten. Corino läßt von vornherein nicht gelten, daß ein literarisches Ich, wie es in Abendlicht erscheint, nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit dem biographischen Ich des Dichters, und beruft sich darauf, daß "alle Welt [ Hermlins Texte] gewissermaßen als 'Bruchstücke einer großen Konfession', so man Goethe in diesem Zusammenhang zitieren darf", gelesen habe (8). Goethe sei es "bei dem paradoxen 'Titel der Vertraulichkeiten' aus seinem Leben, 'Wahrheit und Dichtung' darum" gegangen, "das 'eigentlich Grundwahre' seiner Existenz darzustellen" (10). Corino weiter: "Bei Hermlin bezweifle ich solche Intention" (11).

Nun ist keineswegs so, daß Hermlins Abendlicht durchweg einfach als autobiographische Dokumentation rezipiert wurde. Ulla Hahn zum Beispiel schrieb 1981: "dennoch lesen wir weder eine Zeitchronik noch Memoiren. In 27 kapitelähnlich gegliederten Abschnitten skizziert und reflektiert Hermlin gelebtes Leben, Träume, Kunsterlebnisse in locker assoziierter Reihenfolge. So entsteht ein Geflecht aus Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, aus - im Goetheschen Sinne - Dichtung und Wahrheit. Lebenswelt und Kunstwelt, durchlebte Geschichte und das geistige Leben in der Kunst erscheinen als gleichzeitiges, gleichwertiges, untrennbares Miteinander. Die Verstärkung des subjektiven Ausgangspunkts [ ...] geht Hand in Hand mit einer Verschiebung der Prioritäten im politischen Bereich. Die Freiheit des Individuums wird nun als wichtigste Voraussetzung für die Freiheit aller angesehen, nicht umgekehrt".15

Besonders aufschlußreich ist Bernhard Greiners Aufsatz, der überzeugend nachweist, daß Stephan Hermlin "mit Abendlicht (1979) die überkommenen Bahnen autobiographischen Schreibens verlassen" hat, indem er zeigt, "daß die Erinnerungen, Träume, Phantasien und Erfahrungen autobiographischen Gehalts, aus denen [ das Werk] besteht, nicht nur Akte der Bewußtseinsbildung des beschriebenen und schreibenden 'Ichs' fassen, also Ich-Leistungen, sondern auch solche Schichten des Selbst, die das System 'Bewußtsein' unterdrückt" (218). Der methodische "Rückgriff auf psychoanalytische Theoriebildung" dürfte, so sollte man meinen, gerade für den Erforscher biographischer Begebenheiten nicht ganz abwegig sein, erhellt er doch besonders, welche Bedeutung die phantasievolle Idealisierung von Vater, Bruder, Mutter und dann auch der Arbeiterbewegung für das beschriebene Ich hat, welche Rolle Traum und freie Assoziation für das schreibende Ich spielen und auf welche Weise am Schluß ein "erschriebenes Ich" im Raum der Kunst aufgeht.16  Wolfgang Werth spricht sogar von "Antimemoiren" und davon, daß Abendlicht "die Einsicht, einem Lebensirrtum erlegen gewesen zu sein" (S. VI) thematisiere.17  Diese Beobachtung scheint mir wesentlich treffender als Corinos hämische Unterstellung, Hermlin habe seine großbürgerliche Herkunft in verklärendem Licht dargestellt, um den Kontrast zu seiner Hinwendung zur Arbeiterbewegung zu verstärken.

Nicht einmal die Namengebung in Hermlins Erzählungen entgeht Corinos Kritik. Auszusetzen hat der Kritiker dabei nicht etwa im erzählerischen Kontext unmotivierte oder unglaubwürdige Namengebung, sondern Hermlins wahrhaftig nicht ungewöhnliche Praxis, gelegentlich die Namen seiner Figuren zu verändern oder abzukürzen. Hermlin gehe "mit Namen scheinbar ziemlich willkürlich, in Wirklichkeit aber sehr raffiniert" um: "Seine Namengebung scheint Teil einer Immunisierungsstrategie zu sein, die nur dem Schutz des Verfassers vor unliebsamen Recherchen dient" (44). Wie anders hat zum Beispiel Hermlins Dichterkollege Reinhard Lettau diese Erzählpraxis gewürdigt: "Auffällig ist die Verheimlichung von Namen erinnerter Personen, die häufig nur durch Initialen identifiziert sind wie: 'B.', 'G.', 'Fritz K.', 'Götz v. R.' usw. Hierdurch werden selbst Tote — Opfer oder Scheusale — noch vor Mitleid, Bewunderung oder Feindschaft bewahrt. Und es wird eine Menschlichkeit direkt demonstriert, welche den antifaschistischen Kampf, der selber fast nur aus den Auslassungen erschließbar ist, noch einmal adelt."18

Ein anderes Beispiel dafür, daß Corino erzähltechnische Mittel Hermlins in seiner Gegenüberstellung von Fiktion und Fakten nur heranzieht, um sein Argument der grundsätzlichen Verlogenheit des Dichters zu stützen, ist seine Auswertung einer Passage aus dem Text "Corneliusbrücke", in der von der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs 1919 die Rede ist. Auf die konjunktivische Einleitung der Passage ("Es hätte aber sein können, daß gerade in jener Nacht, da mein Vater wieder Scarlatti spielte und ich tief in der Höhle des Schlafes liege, in der Straße eine gewisse Bewegung entsteht") folgt eine Darstellung der Mordszene in der Imagination des Kindes. Und Corino kommentiert: "Derlei scheint mir ein typisches Beispiel für die Technik Hermlins, sich fremde Geschichte anzueignen und sie seiner Biographie zu annektieren. Dafür dienen raffinierte syntaktische Mittel — der Übergang von der Möglichkeitsform und einem hypothetischen Präsens zum Realis und zu einer Art von faktischer Vergangenheit. Und er manipuliert Zeit und Ort" (30). Corino hat nämlich herausgefunden, daß die Familie Leder zur Zeit des Mordes noch in Chemnitz wohnte und daß General Ludendorff entgegen der Angabe in der Erzählung nie in dieser Straße gewohnt hat. Dabei geht es in "Corneliusbrücke" um eine Kontrastierung von Innenwelt und Außenwelt, von behüteter Privatsphäre und den zeitgeschichtlichen Gefahren und Bedrohungen auf der Straße. Unmittelbar vor der von Corino herausgegriffenen Passage steht im Text: "So gut mich meine nächsten im Hause behüteten, so gut schützten unbekannte, unsichtbare Mächte Haus und Straße" (444). So ungewöhnlich wäre es nicht, daß der im Jahre 1968 sich an früheste Kindheit erinnernde Autor einiges Selbsterlebte mit dem, was man ihm später erzählt haben mag, verwechselt. Wie dem auch sei, um "fremde Geschichte", wie Corino böswillig formuliert, geht es doch wohl hier nicht, wo auch immer die reale Familie Leder zur Zeit des schrecklichen Ereignisses gewohnt haben mag. Hermlin gibt übrigens Auskunft über die Entstehungsgeschichte von "Cornelius": "Geschrieben Anfang 1968 in Berlin, nachdem Studenten der Technischen Universität in Berlin (West) den Autor zu einer Lesung eingeladen hatten, die am 13. Februar 1968 stattfand, während im benachbarten Hörsaal Rudi Dutschke über die Vorbereitung der Vietnam-Demonstration sprach. Der Autor schildert einen Vorgang im Januar 1919 in unmittelbarer Nähe seines Elternhauses, den er miterlebte, ohne ihn doch erleben zu können: der Autor ist ein Kind von noch nicht vier Jahren. Im Jahr 1968, ein halbes Jahrhundert später, wurde er von der Ahnung bedrängt, daß einmal mehr die Liebe zum Guten und zur Menschlichkeit niedergetreten werden würde." (562, 563).

Auch an das Ende seines Buches setzt Corino ein Zitat Hermlins. Diesmal ist es ein Vers aus dem "Sonett nach Michael Drayton": "Was ich ganz scheine, dessen bin ich bar." (162) Corino kommentiert folgendermaßen: "Hermlin, die angebliche Proustsche Existenz aus schwerreichem Großbürgerhause, der 'Illegale' im Dritten Reich, der Emigrant in 20 Ländern, der Spanienkämpfer, der Held der Résistance, - das ganze offenbare Geheimnis seiner Existenz sieht er in dem Vers zusammengefaßt" (162). Corino verweist auch in einer Fußnote auf folgende von Christa und Gerhard Wolf überlieferte Äußerung Hermlins über diesen Vers: "Wenn von allen meinen Gedichten nichts übrigbleiben sollte, eine Zeile habe ich geschrieben, die vollkommen wahr ist" (163). Das Gedicht bezeugt allerdings schwerlich Hermlins frühe Erkenntnis seiner Verlogenheit, sondern seine an alter lyrischer Tradition anknüpfende Verskunst. Es handelt sich formal um eine Adaption eines Gedichtes des Zeitgenossen von Shakespeare. Inhaltlich beruht die Brisanz des Sonetts in der Aktualisierung der alten Thematik von Sein und Schein, in der paradoxen Widersprüchlichkeit der Gefühle eines innerlich zerrissenen Ich, um Gewinn und Verlust, Aufschwung und Ernüchterung, Hoffnung und Enttäuschung:

Wenn ich beschloß, dann mußt ich erst beginnen.
Ruh suchend, ging ich fort von meinem Bett.
Wo ich verlor, da sollt ich meist gewinnen.
Hungerverzehrt stand auf ich vom Bankett.
Ich fühl mich fliegen, doch ich möchte gehen.
Tief im Erfassen, handelnd wie ein Narr,
Freudeverzückt mitten im Höllenwehen.
Was ich ganz scheine, dessen bin ich bar.

Unendlich bau ich überm Firmament
Mein Hoffen, kriech im Grunde maulwurfsgleich.
Im Überfluß mich große Not verbrennt,
Doch bin im Mangel ich an Sattheit reich.
      Ich habe, doch begehre ungeheuer,
      In eisiger See verbrannt, ertränkt in einem Feuer.19

Wenn Heinz Czechowski über den Vers "Was ich ganz scheine, dessen bin ich bar" sagt, er habe "vieles vom nicht Erklärbaren in seinem [Hermlins] Leben aufgefangen, so gilt das im Grunde für das ganze Sonett.20

V.

Wenn man Hermlins Abendlicht als autobiographisches Werk liest, so sollte man wenigstens genauer untersuchen, welchen Aussagewert die autobiographisch auslegbaren Passagen haben. Wie schon Roy Pascal feststellte, ist es das biographische und historische Interesse an der Autobiographie, "that has led to the opinion that the chief test is factual truth. It is however surprising to find how little our aesthetic judgment is affected by such distortions of the truth" (82). Der Leser erwarte die Wahrheit von der Autobiographie und Autobiographen bemühten sich darum, sie zu geben: "We then have to define what sort of truth is meant, and this we can discover only in relation to the author's general intention. It will not be an objective truth, but the truth in the confines of a limited purpose, a purpose that grows out of the author's life and imposes itself on him as his specific quality, and thus determines his choice of events and the manner of his treatment and expression".21  In diesem Sinne scheint mir der grundsätzliche Wahrheitsgehalt von Hermlins Werk durch Unstimmigkeiten der mitgeteilten äußeren Fakten und Berichte nur marginal beeinträchtigt. Traumszenen wie die folgende zum Beispiel "enthüllen" nicht einen unaufrichtigen, sich selbst hochstaplerisch als Lichtfigur stilisierenden Autor, sondern lassen ein schreibendes Ich auftreten, das sich an kindliche Angstträume erinnert und sie im deutenden Rückblick in ihrer Bedeutsamkeit für den weiteren erlebten Lebensweg sieht:
"Keiner Bewegung fähig lag ich im Dunkel. Es war nicht wie sonst, wenn ich lief und spürte, daß mein Schritt schwerer, meine Beine langsamer wurden, während die unsichtbaren Verfolger näher kamen. Ich lag auf dem Rücken, ungefesselt, aber starr, als hätte ich weder Muskeln noch Sehnen, auch waren keine Schritte in meiner Nähe hörbar, nur ein fast lautloses Gleiten, Schleichen, Schleifen, Drängen und der Schatten unverständlicher Worte, weniger als ein Flüstern. Hier gab es keine Verfolgung, ich war längst eingeholt, ich war ausgeliefert, unsichtbare Blicke glitten über mich hin, man betrachtete mich, schätzte mich ab, man würde etwas mit mir beginnen, nur war man sich noch uneins über den Zeitpunkt, über den Eingriff, den man vorhatte. Denn um einen Eingriff mußte es sich handeln, der Gedanke wurde im Nu zur Gewißheit, man wollte mich nicht länger dulden als das, was ich war, ich sollte ein anderer werden, ich würde ausgewechselt werden wie ein Stück, ermüdetes Metall, ich hörte eine Stimme 'Je est un autre', war es ein Zitat oder war es die Stimme von Rimbaud selbst, sie würden mir andere Sinne geben, andere Reflexe, andere Empfindungen, sie würden mich stumpf machen, wo ich scharf, nachgiebig, wo ich unbeugsam, hart, wo ich voller Mitleid war. Ich schrie auf, ich hörte mich fragen: 'Wo bin ich?' und hörte die Antwort in mir oder außer mir, unverständlich, rätselhaft: 'Unter einem chemischen Mantel'" (507).
Durch diese Erzähltechnik der Traumdarstellung entsteht eine Art innere Biographie, die Einblick gibt in die psychische Verfassung des Ich.22  

Gegen Anfang des Buches spricht das Ich von seinen frühen Leseerlebnissen und davon, "daß dargestellte Personen und Handlungen nicht so sehr wichtig waren für mich, sondern vielmehr eine vorgestellte Landschaft, eine Tageszeit, eine Aura, in denen sich Personen bewegten, ihre Handlungen vollbrachten", von der "Neigung, Atmosphärisches über das eigentlich Berichtete zu stellen" (502). Berücksichtigt man, welche Rolle die Themenkomplexe erlebte Natur, Musik, Kunst, Literatur und Schreiben spielen und daß der Text keineswegs einfach den chronologischen Ablauf eines Lebensweges darstellt und sich auch wertender Stellungnahme enthält, so hat dieser Hinweis auch weitgehend noch Gültigkeit für das erzählte Ich des Erwachsenen.

Es ist auch bemerkenswert, wie konträre Erfahrungsbereiche in ihrem Verflochtensein nebeneinander stehen, ohne daß einfach dem später überwundenen Alten jegliche Wertigkeit genommen würde. Im Gegenteil, der Text beläßt dem großbürgerlichen Behütetsein der Kindheit und dem Privileg künstlerischer/musischer Bildung seine das dargestellte Ich prägende Bedeutsamkeit. Als Beispiel etwa folgende Passage, in der es um eine Rückerinnerung an Kunstbetrachtungen mit dem Vater geht: "Um uns war nichts als Stille, Bewunderung und Glück, ein mattes, schönes Licht fiel durch die Scheiben. Heute weiß ich, daß seine wenigen Worte, sein Hin- und Vorweisen Wichtigeres für mich enthielten als die Sophismen, mit denen ich mich später allzulange herumschlug. Sein Schweigen lehrte mich Toleranz. Aber wir lebten in untoleranten Zeiten" (516). In der Reflexion des schreibenden Ich wird die Glückserfahrung des Kindes kontrastiert mit den aufreibenden späteren kulturpolitischen Auseinandersetzungen in der DDR.

Passagen wie diese sind übrigens durchaus aufschlußreich für den besonders an der Biographie des Dichters interessierten Leser. Vergleicht man diese Darstellung etwa mit einer früheren, so wird klar, daß sich in Abendlicht nicht einfach ein selbstgefälliges Ich aus Versatzstücken einer vorbildlichen parteilichen Biographie ein glorioses Denkmal baut, sondern daß das sich erinnernde schreibende Ich kritisch Bilanz zieht. In diesem Sinne ist Abendlicht auch ein Buch, in dem Selbsttäuschungen und Irrtümer des beschriebenen Ich eine wichtige Rolle spielen, aber aus der Perspektive des schreibenden Ich, dessen Nähe oder gar Identität mit der realen Person Stephan Hermlin unverkennbar ist, offen dargestellt und damit korrigiert werden. Zwei Beispiele seien abschließend herausgegriffen. Es geht dabei um die für Hermlins ganzes Leben und Schreiben so bedeutsame Problematik der Anpassung an kulturpolitische Forderungen und der Auseinandersetzung mit ihnen, sowie um eine fundamentale weltanschauliche Erkenntnis: "Von jenem Augenblick an, da ich begonnen hatte, Marx und Lenin zu lesen, und in die Arbeiterbewegung eintrat, entstand für mich eine Bedrängnis aus dem Umstand, daß, obwohl für mich die Theorie in allen menschlichen Bereichen mehr und mehr ihre Schlüssigkeit erwies, ich auf dem Gebiet der Kunstanschauung nichts Entsprechendes zu finden vermochte" (513,514). Und weiter: "Doch konnte ich, wenn ich das Vergangene überschlug, nicht davon absehen, daß das vergebliche Ringen um eine gar nicht wünschenswerte Übereinstimmung in einer falsch gestellten Frage mich in dreißig Jahren viel Kraft gekostet, vielleicht auch daran gehindert hatte, mehr und Besseres zu geben. Ich sah diese Möglichkeit ohne einen Anflug von Selbstmitleid. Ich war nicht besser und nicht schlechter als die Bewegung, der ich angehörte, ich teilte ihre Reife und Unreife, ihre Größe und ihr Elend. Was mich noch einsam machte, würde Spätere zusammenschließen" (515). 1992 ging Hermlin in einem Interview im Neuen Deutschland so weit zu sagen, das Festhalten am Begriff proletarischer Kunst und Literatur sei ein Irrtum gewesen: "In der Kunst geht es elitär zu. Das haben wir Kommunisten nur abgeleugnet, schändlicherweise."23

Zu den folgenschweren Irrtümern, die in Abendlicht  thematisiert werden, gehört die falsch gelesene Passage aus dem "Kommunistischen Manifest", das Verhältnis von individueller und kollektiver Emanzipation betreffend. Etwa in seinem fünfzigsten Lebensjahr habe der Dichter "eine unheimliche Entdeckung" gemacht: "Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: 'An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.' Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach. Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, daß der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagt: '... worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.'" (503) Das Entsetzen über die Feststellung, daß in seinem Kopf "eine Prophetie auf dem Kopf stand", weicht der "Erleichterung": "Plötzlich war eine Schrift vor meinem Auge erschienen, die ich lang erwartet, auf die ich gehofft hatte" (503). Wie Wolfgang Werth 1979 in seiner Rezension von Abendlicht diese Stelle kommentiert: "Dichtung oder Wahrheit? Wie auch immer. Hermlin arbeitet seit geraumer Zeit daran, die freie Entwicklung, die er sich so lange versagt hat, nachzuholen; das heißt: sich als der, der er ist, mit allem, was er von zu Hause und aus seinem Leben mitgebracht hat, in die Gesellschaft einzubringen, der die Mächtigen den Stillstand im 'realen Sozialismus' verordnen."24  Manfred Jäger ist zuzustimmen, wenn er bezweifelt, "ob eine Biographie gelingen kann, wenn deren Autor kaum Sympathie für das erwählte Objekt empfindet". Corinos "kritische Energie [habe nur] dazu ausgereicht, die Widersprüche und Vertuschungen zu finden, die die Heldenlegende Hermlins einschwärzen. Aber er hat vor allem die schlechten Gründe benannt, die den Spätbürger mit dem kommunistischen Bekenntnis zur beschönigenden Stilisierung seines Lebenslaufs verführten."25

Günter Kunert spricht in seinem Nachruf auf den verstorbenen Dichterkollegen die Vermutung aus, daß Hermlins "Vermögen, zwischen Realität und Literatur zu unterscheiden, eingeschränkt gewesen sei", und zwar "im Umgang mit der eigenen Person" sowie mit anderen. "Karl Corinos Hermlin-Biographie, die dem Dichter einige Unwahrheiten und Übertreibungen nachweisen konnte, [habe] aus dem selbststilisierten Denkmal einen Menschen werden lassen — einen schwachen Mann, der sich an seinen Phantasien aufgerichtet hat." Kunert betont aber mit Recht die "Bereicherung", die "jetzt diese zusätzliche Dimension" mit sich bringt, "in der mehr Zeitgeschichte kenntlich wird, mehr von unserem wahnwitzigen Jahrhundert".26  Stephan Hermlin hat sich das Recht genommen, von dem er in seiner Rede "In den Kämpfen dieser Zeit" sprach: "Es ist das Vorrecht der Dichter, vernunftlos zu träumen. Es ist das Vorrecht der Vernünftigen, sie zu verlachen. Aber die Träume gehen weiter, unbeschadet des Gelächters, das um sie her erschallt; wir finden sie überall in der Weltkunst, sie spiegeln die Träume wieder, die die unvernünftige und schutzlose Menschheit seit Jahrtausenden träumt und in denen sie Blumen im Winter sieht."27

Anmerkungen

1 Stephan Hermlin, In den Kämpfen dieser Zeit (Berlin: Klaus Wagenbach, 1995). Seitenangaben im Text beziehen sich in diesem Teil auf diese Sammlung.

2 "Kämpfer in der Ecke," Der Spiegel 1995: 228.

3 Stephan Hermlin, "Was wissen die Jüngeren von unseren schweren Kämpfen?
Ein ZEIT-Gespräch von Fritz J. Raddatz," Die Zeit 21. April 1995: 14

4 Karl Corino, "Dichtung in eigener Sache," Die Zeit 4. Oktober 1996: 9-11.

5 Karl Corino, "Quasi una fantasia. Die Legenden des Stephan Hermlin," (Hessischer Rundfunk vom 3. Oktober 1996).

6 Karl Corino, Aussen Marmor, innen Gips. Die Legenden des Stephan Hermlin (Düsseldorf: ECON, 1996). Alle Seitenangaben im Text von Corino-Zitaten beziehen sich auf dieses Buch.

7 Stephan Hermlin, Erzählende Prosa (Berlin u. Weimar: Aufbau-Verl., 1990). Alle Seitenangaben nach Zitaten aus Hermlins Prosawerken beziehen sich auf diese Ausgabe.

8 Manfred Jäger, "Nachbesserungen. Zum Streit um Stephan Hermlins Biographie," Deutschland Archiv 29.6 (1996): 845.

9 Stefan Heym, "Behandlung eines Standbild," Die Zeit 11. Okt. 1996: 48.

10 Henryk M. Broder, "Im Dickicht der Lügen," Der Spiegel 11. Nov. 1996: 196, 199. Auf den Vorwurf, Hermlin habe sein Judentum verleugnet, sei hier nicht näher eingegangen. Dies ist eine sehr komplexe Problematik, die einer ausführlicheren Darstellung bedürfte. Was die Spuren betrifft, die Hermlins Beschäftigung mit jüdischer Tradition in seinem Werk hinterlassen hat, sei verwiesen auf: Heinrich Detering, "'Die Stimme im Dornbusch'. Jüdische Motive und Traditionen in den Exilgedichten Stephan Hermlins," Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert, hrsg. v. Itta Shedletzky u. Hans Otto Horch (Tübingen: Max Niemeyer Verl., 1993) 253-69.

11 Iris Radisch, "Süßes Leben," Die Zeit 11. Okt. 1996: 47.

12 "Des Dichters 'wahre Lügen': Der Schriftsteller Stephan Hermlin über sein wechselvolles Leben im antifaschistischen Widerstand," Der Spiegel 1996: 259.

13 Stephan Hermlin, "Schlußwort," Freibeuter  70 (1996): 3. Als wesentlich differenziertere Analysen seien genannt: Christoph Dieckmann, "Das Hirn will Heimat. DDR im Abendlicht - Blick zurück nach vorn. Ein aktueller Sermon wider die Kampfgruppen der Selbstgerechtigkeit," Die Zeit 25. Okt. 1996: 57 und Fritz J. Raddatz, "Der Mann ohne Goldhelm. Ein Nachwort zum Fall Stephan Hermlin," Die Zeit 18. Okt. 1996: 63.

14 Hermlin, "Schlußwort" 8.

15 Ulla Hahn, "Spätbürger und Kommunist: Stephan Hermlin. Ein Porträt," die horen 26.4 (1981): 98.

16 Bernhard Greiner, "Autobiographie im Horizont der Psychoanalyse: Stephan Hermlins Abendlicht," Poetica 14 (1982): 248.

17 Wolfgang Werth, "Korrektur eines Lebensirrtums. Die Antimemoiren Stephan Hermlins," Süddeutsche Zeitung 10. Oktober 1979: VI.

18 Reinhard Lettau, "Radikalität des Schreibens," Der Spiegel 3. Dez. 1979: 242.

19 Stephan Hermlin, Gedichte (Berlin u. Weimar: Aufbau-Verl., 1981) 76.

20 Heinz Czechowski, "Die Fassung bewahren in den Kämpfen der Zeit. 'Was ich ganz scheine, dessen bin ich bar': Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Stephan Hermlin," Die Welt 13. April 1995: 9.

21 Roy Pascal, Design And Truth In Autobiography (Cambridge: Harvard University Press, 1960).

22 Es ist völlig unverständlich, wie Gerhard Zwerenz zu der Ansicht kommen konnte, daß "Autoren wie Hermlin [...] nie über sich selbst, ihre psychologischen Reaktionen und politischen Schwierigkeiten geschrieben haben", daß bei Hermlin "die Selbsterforschung, Selbstbefragung, Selbsterfahrung [...] ausgespart" bleiben. (Gerhard Zwerenz, Antwort an einen Friedensfreund oder Längere Epistel für Stephan Hermlin und meinen Hund. Ein Diarium [Köln: Bund-Verl., 1982] 15).

23 "In der Kunst geht es elitär zu." Interview mit Stephan Hermlin von Brigitte Zimmermann u.Reiner Oschmann, Neues Deutschland 5./6. Dezember 1992: 9.

24 Wolfgang Werth, "Korrektur eines Lebensirrtums" VI.

25 Jäger, "Nachbesserungen" 846.

26 Günter Kunert, "Dichter zweier Herren," Der Spiegel 14. April 1997: 223.

27 In den Kämpfen dieser Zeit 25.


Wörterbuch Deutsch<>Englisch

zurück zum inhaltsverzeichnis