Marikke Heinz-Hoek: Hölderlin
(Dreiteilige Montage: gescannter Scherenschnitt (um 1805), verzerrt und
gespiegelt (zweiteilig); Elegie "An den
Frühling" über Blocksatz in graphischen
Zeichensatz transformiert.)
Zu der Computergraphik von Marikke Heinz-Hoek: Legende
"Hölderlin"
(G. Boulboullé)
Der Künstler, seine Elegie, die Graphik und der Kommentar suchen den wahren Code, der uns fremd bleibt und dem wir unseren eigenen Code hinzufügen in den flüchtigen Momenten, da der Schirm ein Bild festhält, das wir entziffern, während wir es verschlüsseln.
Die Montage wurde in Übergröße auf weißer Folie als Wandbild in der Angestelltenkammer in Bremen installiert. Aus diesem Anlaß hielt Dietrich E. Sattler eine Rede, die er in veränderter Form glossen zur Verfügung gestellt hat.
verborgener text
d.e.s.
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das schattenland kreuz und quer durchzogen.die schatten aufgesammelt und
aufgespiesst im kunstlicht. erinnerungsrest an der rückwand eines
eingangsbereichs. und einer muss zur stelle sein der den verborgenen text
aus dem papierkorb holt. der sich neben den stahlträger stellt mit dem
weinlaubkapitell das sie aus der baugrube fischten. ein schön installierter
kontrast zum kunstwerk das sich an diesem ort besonders keusch zu geben hat.
nackt aber ohne blösse. und jener erhebt seine stimme und dechiffriert
das nicht umsonst codierte. peinlich in dieser kälte. und referiert
in sklavensprache: An den Frühling. entstanden 1792. hexametrischer
entwurf. verliebt in die braut eines andern. vermutlich Auguste Breyer. er
schreibt von der holden Gestalt. Sein Stuttgarter freund Ludwig Neuffer weiss
schon bescheid. deswegen die hier nicht wie andernorts durch kunst geschlossene
lücke. mythisierung des eigenen namens: wir enthüllen du Holder/
Deinem Liebeshauche die glühende Brust ... und zeigt o wie eklig mit
spitzem finger auf den schattenriss gefunden im handexemplar des Hyperion
von 1797 ausgewalzt auf dem nudelbrett der verfremdungsmaschine und ruft
es aus auf dem teppichboden der grauzonenbehörde die nullkommadrei prozent
seines nettoeinkommens einstreicht. le pauvre Holterling im alter von
siebenundzwanzig jahren. gewebt aus blindtext. gekontert. andenken an den
garten im westend bei Stroemfeld/ Roter Stern in der Holzhausenstrasse wo
sie in der laube sassen und im buch ihrer liebe lasen was war was ist und
was sein wird. und auch ihre kinder nannten ihn Holder. und da er ausgeredet
und fortgegangen überwies ihm die angestelltenkammer der freien und
hansestadt Bremen ein honorar in höhe von zwanzig zwangsweise eingezogen
monatsbeiträgen.
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sanft unter druck dasselbe schriftlich umsonst. schreibt voll heiligen eifers
der unbezähmbare von Compostela: aber die zunge kein mensch kann sie
zähmen.
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tintenstrahlausdruck circa zehnfach vergrössert auf weissem photopapier.
als memo (please don't forget) verkleinert auf 71 %. und durch das kopierpapier
aus finnlands wäldern gekocht gebleicht und gemahlen scheint nicht das
wasserzeichen des hirschs rückwärts gewandt dem liebesruf lauschend
den einen vorderlauf gewinkelt das auch Hegel im stift benutzte: ... allein
oder gleich / Dem Hirsch, der schweifet in der Hizze. nicht unbemerkt und
unvergessen wie die traubenkrone des gotts in den blättern der ersten
gesänge (Hauptwil bei Winterthur) oder das wasserzeichen jenes
französischen papiers (in Mainz erhältlich) auf welchem er dem
spornenden zeichen folgend den zweiten band des Hyperion begann: PRO PATRIA
LIBERTATE:
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der verlobte ist zwei jahre älter als er und heisst Georg Kerner. im
jahr zuvor nach Strassburg gegangen und dann nach Paris. hofft noch. fand
bald, dass seine Hymnen ihm doch selten in dem Geschlechte, wo doch die Herzen
schöner sind, ein Herz gewinnen werden. lässt an den Frühling
liegen und beginnt den roman: Ich schlummerte, mein Kallias! Und mein Schlummer
war süss. Holde Dämmerung lag über meinem Geiste ... In
süsser Trunkenheit lag ich am Ufer unsers Archipelagus des Neckars
natürlich, und mein Auge waidete sich an ihm, wie er so freundlich und
still mir zulächelte, und der rosafarbne Nebel über ihm wie wolmeinend
die Ferne verbarg, wo du lebst und weithin unsre Helden. So sanft und süss,
wie die schmeichelnde Hand meiner Glycera, regte sich die frische Morgenluft
an meiner Wange. Ich spielte in kindlichen Träumen mit dem holden
Geschöpfe ...
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nur die namen ändern sich. das traumbild bleibt dasselbe. aus Glycera
wird die Melite des 1794 in Schillers Neuer Thalia erscheinenden Fragment
von Hyperion und aus dieser die Diotima der fehlgeschlagenden entwürfe
von 1795. aber der junge Berner kaufmann Ludwig Zeerleder erkennt in der
Melite die schöne von ihm verehrte gattin des bankiers Gontard und schreibt
das Fragment für sie ab. und sie - Suzette Gontard-Borckenstein aus
Hamburg (das ziehkind Klopstocks) - holt den dichter als lehrer ihrer kinder
nach Frankfurt. so war es schliesslich das werk selbst das aus dem schattenreich
phantasmagorien an den tag heraufstieg und seine wirklichkeit fand. Aber
traurige Dämmerung folgte nachher.
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Verzeih mirs, dass Diotima stirbt. Du erinnerst dich, wir haben uns ehmals
nicht ganz darüber vereinigen können. Ich glaube, es wäre
der ganzen Anlage nach nothwendig schreibt er vor der heimlichen übergabe
des zweiten bands. Sie stirbt tausend tage später an ebender krankheit.
vierzig jahre später im halbrunden zimmer als Christoph Schwab im Hyperion
liest sagt er vernehmlich vor sich hin Guck nicht so viel hinein, es ist
kannibalisch.
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sie dürfen ihn nicht mehr Hölderlin nennen. stattdessen Scardanelli
(nach dem kargen rätischen ort an dem ihm der adler entführte).
doch die schiefe ebene der nachwelt beginnt schon viel früher mit einem
sonderbaren vorspiel. Justinus Kerner dem sechzehn jahre jüngeren bruder
des bräutigams jener holden Gestalt wird die ärztliche aufsicht
über den im herbst 1806 von Homburg nach Tübingen abtransportierten
dichter übertragen. im mai 1807 nimmt ihn der schreinermeister Ernst
Zimmer zu sich und berichtet später: Im Clinicum wurde es aber mit ihm
noch schlimer. Damahls habe ich seinen Hipperion mit der Frau Hoffbuchbinder
Bliefers gelessen welcher mir ungemein wohl gefiel. Ich besuchte Hölderlin
im Clinikum nichts weiter mit Hölderlin zu machen war, so machte der
Canzler Autenrith mir den Vorschlag Hölderlin in mein Hauss aufzunehmen,
er wüsste kein passenderes Local. und Wilhelm Waiblinger erfährt
aus der gleichen quelle: In Zorn und Convulsionen gerieth er gleich, wenn
er jemand aus dem Klinikum sah.
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der vom genius infizierte junge Kerner aber tritt 1811 mit den Reiseschatten.
Von dem Schattenspieler Luchs ans licht. im jahr darauf stirbt Georg der
seinem bruder im traum erscheint. die holde Gestalt war schon 1806 verwelkt.
zitiert wird auch der schatten des heiligkranken. die reden sind nach Zimmers
entrüsteter reaktion auf diesen übergriff authentisch.
unverständlich nur der rezeptionsschwäche wegen. das übrige
tut eine leichte verzerrung.
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Die Reisenden, die ich Morgens zu Begleitern auf dem Postwagen bekam, waren:
ein Chemikus, der wahnsinnige Dichter Holder, ein Pfarrer und ein Schreiner.//
Mein Freund Holder, als er mich erkannte, fiel mir mit starker Liebeswuth
um den Hals, und sprach: "Es ist doppelt erfreulich, dass ich dir in dieser
Stadt und auf deiner Reise nach Norden begegne: denn wo Gesangkraft
ausströmt der Stern, dass als Komet er ein Nachtmalskelch der
Schöpfung schwebt durch die Himmel, da wird geboren ein Meer, das ist
die Nordsee und das Eisen auf ihr. - - Von Norden aber wird kommen
Nieerhörtes: denn dahin weis't das Eisen und sein Geist die Magnetur."
- Hier gerieth er in konvulsivische Verzuckungen, dann sprach er wieder:
"O, ehrt mir den Metallgeist der Erde, und sein Auge das Gold! und zerreist
nicht die Glieder und wuchert mit ihnen ein freches Volk! ha! ha! ha! so
wollt' ich mein Leben auf einmal leben!" Hier stürzten ihm stromweis
die Thränen aus dem Auge voll Seele.// Hernach sprach er wieder. "O
Deutschland, das du geglättet bist, wie der Rücken eines
Esels!"
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nach vier weiteren schattenspielen dieser art ein protokoll aus Autenrieths
anstalt: Mit dumpfen Nachhall brachen sich die Wellen des Flusses an den
felsigten Ufern. Nach und nach erloschen die fernen Stimmen; nur Holders
klagender Ruf scholl noch in's Thal hinab. Er hatte sich an's Gitter seines
Fensters gestellt, und rief die vorüberziehenden Wolken um Hilfe an.
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zu dem allen schweigt die kulturikone Marikke Heinz-Hoeks. Sie bekennt sich
zu dem was sie ist und tut gut daran. denn das wenige was sie zeigt ist die
genaue wahrheit.
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