Glossen 30

Christine Cosentino
Ostdeutsche Literatur im Vorfeld des 20. Jahrestages des Mauerfalls

Im Vorfeld des 20. Jahrestages des Mauerfalls im Jahre 2009 erschienen preisgekrönte Werke von Autoren verschiedener Generationen, die entweder in der DDR geboren wurden oder einen wesentlichen Teil ihres Lebens dort verbracht hatten. Zu nennen wären Erich Loest (Jahrgang 1925, Löwenstadt), Volker Braun (1939; “Der Übernarr”), Monika Maron (1941; Bitterfelder Bogen. Bericht), Kathrin Schmidt (1958; Du stirbst nicht), Lutz Seiler (1963; Die Zeitwaage) Uwe Tellkamp (1968; Der Turm), Julia Schoch (1974; Mit der Geschwindigkeit des Sommers) und -- in einem weiteren Sinn -- die für ihr Gesamtwerk mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Rumäniendeutsche Herta Müller. Die Dokumentationen der deutschen Teilung und die darin verarbeiteten autobiographischen und gesellschaftlichen Erfahrungen, Hoffnungen und Enttäuschungen sind nicht nur als fiktiv gestaltete Erinnerungen zu begreifen; es sind Psychogramme, die den Grad der Fremdheit zwischen Ost und West, die Risse und Brüche, das Verlieren und das Neukonstruieren von Identität registrieren. Frauke Meyer Gosaus Statement, ”seit diesem Frühjahr scheint auch die Literatur der DDR an ihr Ende gekommen,”[1] hat zwar für den von ihr besprochenen Roman der jungen Julia Schoch, Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009), durchaus seine Gültigkeit, ist generell jedoch anfechtbar. Nach wie vor steht in der Literatur und in den Medien das Problem von Ost-Identität, von Wendepunkten und Erschütterungen existentieller Grundfesten, von Verklärung oder Nostalgie im Diskussionskontext der Deutschen. Es überrascht daher kaum, daß zwanzig Jahre nach dem Mauerfall die Deutsche Nationalstiftung drei aus dem Osten stammende Autoren mit dem Nationalpreis auszeichnete, die in den Jahren 2008 bis 2009 mit persönlichen Zeugnissen ihrer DDR-Erfahrungen aufgewartet hatten: die Autoren Erich Loest für Löwenstadt, Monika Maron (Jahrgang 1941) für Bitterfelder Bogen und Uwe Tellkamp (Jahrgang 1968) für Der Turm. Die Stiftung würdigte somit differenziert gestaltete, unterschiedliche DDR-Erfahrungen, die sowohl dem Vergessen als auch entstellender Verklärung entgegenwirken.

Ist zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ein Bestehen auf Ost-Identität, wie Monika Maron in Der Spiegel ausführt, “ein Akt [positiver] Selbstbehauptung und eines trotzigen Selbstbewusstseins”[2], oder deutet sich damit vielmehr ein fortwährendes Krisenbewußtsein an, das die 35-jährige Julia Schoch als eine Art DDR-Erbe oder Last beschreibt: “wortloser Gleichmut […], den wir mitschleppen bis zum Tod.”[3] Paul Cooke dagegen beobachtete in den frühen Werken Ingo Schulzes bereits Anzeichen einer Wandlung von ostalgischer Trotzidentität zu pragmatischer Akzeptanz des westlich Neuen: “a more dynamic, fluid notion of Eastern identity within the context of contemporary German society.”[4] Wirkt diese prozeßhafte Spannung auch in der jüngsten Literatur östlicher Autoren fort? Läßt sich vielleicht sogar eine Bewußtseinserweiterung, eine nivellierende Grenzaufsprengung, kurz ein Sichverschleifen der Unterschiede erkennen? In der Tat handelt es sich in den oben erwähnten, differenziert abgehandelten Werken der drei Preisträger Loest, Maron und Tellkamp um Fragen nach einer Neudefinierung von Identität, nach der Enthüllung der wahren Wendegewinnler, vorrangig aber um die schwierige Vereinbarkeit unterschiedlicher ost-westlicher Mentalitäten. Unter diesem Gesichtswinkel seien die drei Werke Löwenstadt, Bitterfelder Bogen und Der Turm einer kurzen Analyse unterworfen. Ergänzt seien sie von Volker Brauns (Jahrgang 1939) nüchtern bilanzierendem Gedicht “Der Übernarr” und Julia Schochs lakonisch illusionslosem Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers. Andere Beispiele, wie oben erwähnt, ließen sich finden.

Erich Loests Roman Löwenstadt ist eine Chronik der Stadt Leipzig über annähernd zweihundert Jahre deutscher Geschichte: von der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig bis zum Wahljahr 2009 im vereinigten Deutschland. Zur Schau gestellt wird die Unmündigkeit bzw. die Entmündigung der kleinen Leute, deren Identität von Monarchien und braunen und roten Machthabern ge/verformt wurde. Aus der Sicht eines unangepaßten Kritikers präsentiert Erich Loest “seine” Stadt Leipzig, in der er lebt, die er kennt und über die er historische Romane [u.a. Völkerschlachtdenkmal (1984), Zwiebelmuster (1994) Nikolaikirche (1995)] geschrieben hat. Das Werk Löwenstadt (2009) ist eine um sechs Kapitel erweiterte Neufassung von Völkerschlachtdenkmal, die die Zeitgeschichte vom Jahr der Wende bis in die Gegenwart thematisiert. Es geht nicht um die Haltung selbstbewußter oder gar verklärender Ost-Identität, vielmehr um von der Diktatur verbogene Menschen und -- laut Loest-- um die neuen Sieger der Geschichte: Wendehälse und Opportunisten aus den Reihen der alten Sieger. Mit einer fluktuierenden Erzählhaltung “zwischen Zorn und Distanz”[5] oder Bitterkeit und Gelassenheit unterzieht Loest den Ruf bzw. den Mythos der “Heldenstadt Leipzig” einer kritischen, provokant überzogenen Analyse: der Chronist mit dem unbestechlichen Blick korrigiert, ordnet ein, mahnt. Er sprengt verklärende Erinnerungen an den Leipziger Herbst und stellt fest: “Es galt für einige Akteure, Plätze in der Zeitgeschichte zu besetzen, die noch qualmt” (308); “Rettet die Kader!" (307); und -- sinnierend darüber, mit welcher Wendigkeit sich alte SED-Kader und neue Nazis im Umfeld der friedlichen Revolution wieder in Stellung gebracht haben -- zieht er das sarkastische Fazit: “Wo die Parallele, wo das Neue?” (306) Loests gnadenlose Enthüllung der Aufsteiger im Wendemanöver von 1989 provoziert die Fragestellung: “Heldenstadt Leipzig oder Antiheldenstadt”?

Loests Haltung -- was deutsche Geschichte anbetrifft -- ist gezeichnet von Wut und Mut. Seine in den fünfziger Jahren in der DDR vorgetragene Kritik an den Ereignissen in Ungarn brachten ihm eine siebenjährige Haftstrafe wegen konterrevolutionärer Gruppenbildung ein, die er in Bautzen absaß. 1981 verließ er die DDR, kehrte aber nach 1989 nach Leipzig zurück. Sein Leipziger Protagonist aus Löwenstadt ist Fredi Linden aus dem Völkerschlachtdenkmal, der, indem er verschiedene Identitäten aus der Reihe seiner Vorfahren annimmt, 200 Jahre deutscher Historie durchlebt. Die von Loest zugefügten neuen Kapitel bieten einen Rückblick über die Jahre vor, während und nach der Wende und die dann folgende “Zusammennagelung unserer Volkshälften” (312). Fredi Linden, der alte Herr, recherchiert unter so unterschiedlichen Bedingungen wie Stasi-Haft und Psychiatrie, später berichtet er aus einem Seniorenheim. Diese gebrochene Perspektive erlaubt eine Erzählhaltung böser Provokation. Linden erzählt auf den Tonlagen von Zorn, Enttäuschung und Zynismus, dann aber auch wieder mit müder Gelassenheit. Sieht man die neuen Kapitel des Romans Löwenstadt vom Blickwinkel des Zusammenwachsens der Deutschen bzw. eines konstruktiven Selbstbewußtseins der Ostdeutschen, so gewinnt der Leser eher den Eindruck anhaltender Unmündigkeit, eines Mangels an politischer Reife, der es ehemaligen Bonzen und Stasi-Spitzeln wieder ermöglicht hat, obenauf zu sein. Linden wartet mit Beispielen auf, zieht dann ein provokant überzogenes, sarkastisches Fazit: “Kaltow, zeitweise unter Druck, da er in jungen Jahren zeitweise Zulieferer von Mielke gewesen war. Nun regierte er im Stadtparlament mit und im Landtag gar, gedeckt von den Fraktionen.” ( 336) Linden/Loest kommentiert: “Erstaunlich, wie viele Sieger der Geschichte ich schon erlebt habe.” (340)

Eine solche Gelassenheit wird man in Volker Brauns tiefgreifenden Befragungen von Gegenwart und Historie vergeblich suchen. Unbelastet von der Nazizeit und radikal utopiegläubig, stellte sich der fünfzehn Jahre jüngere Autor in der DDR den Herausforderungen des Sozialismus, den er trotz der realsozialistischen Verkrustungen innerhalb der Parteibürokratie ungemein ernst nahm. Seine Zeitanalysen vor und nach der Wende geben Aufschluß, in welchem Maße er sich an der DDR und an der westlichen Gesellschaft gerieben und wundgerieben hatte. Bitterkeit und immense Enttäuschung über das allmähliche Verblassen einer utopischen Idee, dann über den Verlust dieser nie realisierten Idee, einer im Wunschdenken für möglich gehaltenen Lebensform, manifestieren sich im Werke Brauns durch die Jahre hindurch in beredten Titeln wie “Das Eigentliche”[6] (“was wir umbringen mit vielem Getue”), Das Nichtgelebte (1993), Das Wirklichgewollte (2000).

Zu DDR-Zeiten war Brauns Werk durchdrungen von bohrenden Selbstbefragungen: “Das kann nicht alles sein […] / Was können wir weiter tun? Was erwarte ich noch von mir?”[7] oder von vergeblichen Grübeleien über verschwindende utopische Horizonte: “die langsame Formel, die mit Leben zu füllen ist womit womit womit? Oder vom Tod.”[8] Nach dem Fall der Mauer rechnete Braun in dem 1990 veröffentlichten Gedicht “Das Eigentum” mit dem Traum über sozialistische Verheißungen zwar ab: “und unverständlich wird mein ganzer Text”[9]; er artikuliert jedoch noch weiterhin Reminiszenzen an jenen liebgewonnenen, einst für möglich gehaltenen, von der Geschichte verworfenen Phantombesitz innerhalb der Utopie eines wirklichen Sozialismus:

Aber an der leeren Stelle
Dort wo nichts bleibt
Nagt eine Ahnung , die nur blaß zu nennen ist
Von etwas Einfachem, Zugänglichem
Nur nicht Begangenem
Das man nicht achtete, das man nicht nutzte
Und wegwarf wie eine abgetragene Hoffnung
Etwas Unwiederbringlichem und darum Unvergeßlichem
Dem unauffälligen
Eigentum des Volkes.[10]

 


In den kapitalistischen Strukturen der neuen Gesellschaft fühlte sich der ehemals kritische DDR-Provokateur “verabschiedet”, ja unnütz: “das liebe Zimmer der Utopien/ Entläßt den Gast in den Unsinn”[11]. Nach dem Abschied vom unwiederbringlichen Nirgendwo befand er sich auf westlichem Kampfplatz an einem Punkt politisch-ideologischer “Ortlosigkeit”. Brauns Methode der Hinterfragung von Mißständen jedoch blieb und bleibt durchdrungen von konsistenter Unnachgiebigkeit und Härte im Denken, die keinem pragmatischen Sich-Anpassen, keiner Nostalgie oder Ideologie, keinem “Identitätstausch”[12] verpflichtet ist. In dem hintergründigen kleinen Text “Der Übernarr” (2009) wartet Braun rund zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer mit einer sarkastischen Diagnose zum Thema “Neukonstituierung der Ostdeutschen” auf. Diese Lesevariante kann man dem vielschillernden Text durchaus entnehmen:

Vor dem neuen Eigentümer zieht er die Mütze, um nachher entlassen zu werden. Dafür kriegt der mit dem Turban sein Fett weg, denn so viel Macht hat er. Wehmäulig, duckmausend, das ist die Gesundheit; anmaßend angepaßt, das ist die Konfektion; das weitere Weltbild: halbgewalkt. So kommt alles zusammen. Natürlich, warum nicht? Jede Zeit hat ihr Wesen. Wie der Mensch über sich (und andere) hinauswill, so auch der Narr. Man kann vom Übernarr sprechen.[13]

Erscheint im assoziativen Freiraum der seinem “Volkseigentum” entfremdete, unmündige Ostdeutsche in der neuen Konsumentengesellschaft der BRD als jammernder, vor den neuen Besitzern dienernder Narr, so wirkt der utopiegläubige Dichter von einst im Jahre 2009 wie ein “Übernarr”. Doch man erinnere sich: der Narr bzw. der Clown ist in der literarischen Tradition u.a. auch eine komisch-ernste Figur; in seiner “Ortlosigkeit” ist er “die herausgetretene und ausgefallene Kreatur schlechthin”[14], die unter der Maske der Narrheit Wahrheiten formuliert und unerbittlich Konflikte exponiert und seziert. So ist das Scheitern des utopischen Konzeptes in den literarischen Texten des Dichters nicht bar von Ironie, denn es kann in typischer Braunscher Manier durchaus ins dialektische Gegenteil gewendet werden. In den “Totentänzen” des im Jahre 2005 entstandenen Bandes Auf die schönen Possen heißt es dann auch entsprechend: “Sie [die Utopie] hat nichts Besseres zu tun als nichts // [ …] nichts hat sie zu tun als Besseres.”[15] Karen Leeder sieht diese Totentänze als vom Widerspruch getragene “postscripts on the end of utopia”, vor allem aber als anstachelnde Mahnung, “an injunction for personal and collective resistance won out of the catastrophy of lateness.”[16] Von der Perspektive der Ortlosigkeit und “the end of utopia” hinterfragt Braun in seiner Kapitalismuskritik böse und beharrlich Probleme der sich ständig ändernden ökonomisch-politischen Weltsituation -- Hunger, Krieg, Terrorismus, Umweltzerstörung, Verdummung durch die Medien, Katastrophen, Armut, Globalisierung -- einen Zustand, an dessen Unabänderlichkeit der Utopist von einst sich keineswegs gewöhnen mag. In diesem Sinne könnte man ein vielsagendes Braunsches Zitat kritisch durchleuchten, das Rolf Jucker zum Titel seines Gesprächs mit dem Dichter im Jahre 2003 machte: “Ich bin zu Ende mit allen Träumen/ Was soll ich unter den Schläfern säumen”.[17] Braun bezieht sich hier auf den von schweren Protest- und Polizeiaktionen überschatteten G-8-Gipfel vom 18.-22. Juli 2001 in Genua, der der Bekämpfung der Armut in der Welt gewidmet war. Es gab Tote, und nach Überzeugung der Richter prügelten Polizisten bei einer Razzia in einer Schule auf dort schlafende Protestler ein. Bedeutet das “Ende der Träume” also auch Abstinenz vom Aktivismus? Braun beläßt es in typisch dialektischer Manier beim Doppelsinn: Schlaf bedeutet Abwesenheit bzw. Nichthandeln, letztlich Tod. Jenseits von Ideologien und Reflexionen über Identitätstausch bzw. deutsch-deutsche Identitätsrekonstruktionen nimmt Braun jedoch weiterhin aktivistisch “Position, in dem er die Sache selbst zum Sprechen bringt.”[18] Er stellt eine “Sache” dar, bringt sie zur Sprache und setzt auf die Illusion vom dichterischen Wort, das Diskussionen provozieren will. In seiner Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises im Jahre 2000 verkündet er eine Weltanschauung, die unter westlichen Voraussetzungen Altes in seinem neuen Programm freilegt: “Ich schmeckte Gerechtigkeit, ich atmete Despotie. Mein Widerstand wohnt im Gewebe, mein Gram, mein Verlangen. Es ist bei mir weithinein böse.”[19]

Auf völlig anderer Tonlage spricht die nur zwei Jahre jüngere, 1941 geborene Monika Maron, die in ihrem Bericht Bitterfelder Bogen [20] an den Schauplatz ihres ökologischen Debütromans Flugasche (1981) [21] zurückkehrt, um gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen zu analysieren. Der im Titel herausgestellte “Bogen” ist ein de facto existierendes Bauwerk und Denkmal, das Brücken schlägt, ein Symbol für den Wandel eines zu DDR-Zeiten maroden, nicht konkurrenzfähigen Industriestandorts zu einer Hochburg moderner Solarindustrie. Doch auch einen Bogen in ihrem persönlichen Leben schlägt die ehemalige Funktionärstocher, die 1988 in die Bundesrepublik übersiedelte, wo ihr Roman Flugasche veröffentlicht wurde, der in der DDR nicht erscheinen durfte. Und ein weiterer, ein historischer Bogen ist festzustellen. In ihren akribischen Recherchen geht Maron bis in die Anfänge der Region Bitterfeld-Wolfen zurück: auf die Gründung der ersten elektrochemischen Werke im Jahre 1893, auf die Gründung der Agfa, dann die Entwicklung des DDR-Chemiekombinats zur schmutzigsten, abgasverseuchtesten Stadt Europas. Es ist die Geschichte vom Niedergang und Aufstieg der Stadt zum Sitz des weltgrößten Solarzellenherstellers Q-Cells. Von Interesse für diesen Artikel sind jedoch weniger die vielen in Marons Bericht behandelten technischen Einzelheiten, vielmehr die Schicksale der Ostdeutschen, die die Krisenzeit in Bitterfeld erlebten und neu anfingen. Maron spürt im Bitterfelder Bogen alte, ihr bekannte “dagebliebene” Bitterfelder auf und interviewed sie; sie seziert deren Lebensbrüche und Neuanfänge und korrigiert in ihrem Forschen nach dem Positiven die Stereotype von Ostdeutschen als mißgestimmten, passiven Nostalgikern, die in ihrer Sicht im vereinigten Deutschland immer noch vorherrscht: sie rückt die individuelle Leistung in den Blick. Nicht das Negative interessiert sie, sondern der Mut jener vielen Ostdeutschen, die nicht im Zustand der Passivität verharrten: “warten, daß etwas passiert” (70); kurz, Maron konzentriert sich auf Ostdeutsche, die mit dem Zusammenbruch der DDR ihre Chance gefunden und den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt hatten. Indem sie den Akzent auf Erfolgsgeschichten der Ostdeutschen setzt, schreibt sie ein vom Gestus des Optimismus durchdrungenes Buch der Wiedervereinigung. In diesem Sinne ist das Buch -- so ein Kritiker -- “ein Hoffnungsbuch; ein Anschreiben gegen die Litanei des depressiven und resignierten Ostens und seiner Bewohner.”[22]

Maron ergänzt ihren Bericht über Bitterfeld und ostdeutschen Erfolg mit Interviews in der Presse: “Ich wollte erzählen, was gelungen ist. Ich wollte erzählen, was noch nicht alle wissen.”[23] Vor allem ist es ein Interview in Der Spiegel (15. Juni 2009), in dem sie das Beharren auf Ost-Identität positiv wertet, aber auch Gefühlen von Resignation und Nostalgie auf den Grund geht. Ostdeutsche hätten nach der Wiedervereinigung völlig andere Erfahrungen gemacht, seien durch schwere Zeiten gegangen und daher “krisenerprobter”: “Vielleicht ist ja das Bekenntnis zur Ost-Identität sogar ein Akt der Selbstbehauptung und eines etwas trotzigen Selbstbewußtseins.” [24] Demokratieverdrossenheit, Frust und Nostalgie erklärt sie aus eingefleischter Unmündigkeit und Erfahrungsmangel:

Plötzlich mußten die Menschen eine Ungleichheit ertragen, die es so vorher nicht gab. Sie haben nicht gelernt, damit zu leben. Man konnte alles, auch eine scheiternde Ehe, auf den Staat schieben, und darum ist die Ehe kaputtgegangen. Du bist ein begnadeter Dichter, aber niemand druckt dich. Plötzlich ist dieser Staat weg, du bekommst eine größere Wohnung, aber die Ehe funktioniert immer noch nicht. Mit den Gedichten wird es auch nichts. Du mußt plötzlich die Verantwortung für dein Scheitern übernehmen, du kannst niemandem mehr die Schuld geben. Und dann siehst du, der Nachbar schafft es, du aber nicht, das kann ja nicht gerecht zugehen. (Spiegel 138)

Maron präsentiert eine Industriegeschichte über berechtigten Stolz. Einige an Solarprojekten tüftelnde geniale westliche Ökovisionäre und standhafte, zähe, unerschütterliche “dagebliebene” Bitterfelder prägen das positive Bild der ehemals schmutzigsten Stadt Europas. Rückblickend zitiert Maron viele Beispiele über nicht-parteihörige Menschen mit “natural leadership”-Talenten und mit Unternehmungsgeist, die im autoritären DDR-Gefüge keine Chance hatten. Damit demontiert sie die stereotype Standardfigur des Ostdeutschen, der “als geprellter, unselbständiger, seinen Unmut stammelnder Zeitgenosse bis heute durch die Medien geistert.” ( 152). Mit unverkennbarer Sympathie entwirft Maron eine Zukunftsvision, die Ostler und Westler -- Produkte unterschiedlicher Sozialisierung -- in einem gemeinsamen Unternehmen vereint: sie greift zurück auf ein Motto der idealistischen Gruppe um den Ingenieur Reiner Lemoine, der mit seinem Sonnen- und Windelektronikprojekt und dem dann daraus entstehenden Q-Cells-Konzern “das Richtige” machen wollte: “Scheiß auf den Kommerz. Lass uns was Richtiges machen.” (15). Maron ist fasziniert von der Vision der Gründer über die soziale Einbindung des jetzt größten Solarzellenherstellers der Welt, nämlich von Lemoines Traum über einen Arbeitsplatz, an dem “Arbeit und Leben zusammengehören und eine Solarfabrik, die für die Zukunft der Menschheit produziert, die Menschen in ihrer Nachbarschaft für sich begeistern sollte, statt sie auszusperren.” (115) Wie ein roter Faden zieht sich der Bezug auf die gemeinsame Arbeit am “Richtigen” durch das Werk. Der Leser kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß sich hinter dem immer wieder betonten “Traum” bzw. “der Vision” vom Prinzip ökologischer, sozial orientierter Richtigkeit nicht zuletzt auch Erinnerungen an das in der DDR-Sozialisierung eingebettete utopische “Eigentliche” verbergen. War es nicht bereits die Figur der Journalistin Josefa Nadler, die in Marons Debütroman Flugasche nach Bitterfeld aufbrach, nicht nur, um eine Reportage über das überalterte, die Arbeiter und die Umwelt gefährdende Kraftwerk zu schreiben, sondern auch um “zu hinterfragen, was das Eigentliche war, nach dem sie suchte, was sie, und nur sie, zu tun hatte in den Jahren, die sie leben würde” (207)?

Ein Bild vom Eigentlichen als “Utopia, zeitgeschwärzt”[25] projiziert der von der Presse vielgelobte, mit dem Buchpreis gekrönte Monumentalroman Der Turm [26], den Uwe Tellkamp im Jahre 2008 vorstellte. Welche Chance hat ein “Niemand”, ein Mensch mit ausgelöschter Individualität nach der Wende? Wie orientiert sich ein zu stumpfsinniger Akzeptanz abgerichteter, verbogener Mensch in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft, deren Werte auf Eigeninitiative, Konkurrenzbereitschaft und Selbstbewußtsein gründen? Der Roman des 41-jährigen Autors gibt keine Antwort und beläßt es bei der Mutmaßung; darin unterscheidet sich der Autor von der 35-jährigen Julia Schoch, die -- auf ähnlicher Prämisse -- in ihrem Werk Mit der Geschwindigkeit des Sommers eine klare Antwort gibt: die an ihr anerzogenem, “wortlosem Gleichmut” krankende Protagonistin findet sich im neuen westlichen Orientierungssystem nicht zurecht und setzt ihrem Leben ein Ende.

Viel Autobiographisches floß in Tellkamps Familienroman ein, denn Tellkamp war nicht nur Zeitzeuge und Chronist der historischen Ereignisse; als Soldat der NVA war er selbst in die Ereignisse im November 1989 verwickelt. Der 1968 in Dresden geborene Autor war zur Zeit des Mauerfalls 21 Jahre alt. Er verpflichtete sich nach dem Abitur zum Wehrdienst, wo er Panzerfahrer war. Als seine Einheit 1989 gegen Demonstranten ausrücken sollte, verweigerte er den Befehl, zumal sein Bruder unter den Oppositionellen war. Er wurde inhaftiert. Später, nach Untergang der DDR, studierte er Medizin, wurde Arzt und ist heute freischaffender Schriftsteller. Bekannt wurde er 2004 als Empfänger des Ingeborg-Bachmann-Preises, den er für den Text “Der Schlaf in den Uhren” bekam. Ein Jahr später folgte sein kontroverser Roman Der Eisvogel, dann, im Jahre 2008 sein Aufsehen erregendes Werk Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Bereits der Titel Der Turm gibt einen Hinweis, welche soziale Gruppe in diesem Roman angesprochen wird: im hochgelegenen Elitewohnviertel Weißer Hirsch fand mitten im grauen DDR-Alltag das Bildungsbürgertum Dresdens seine hermetisch abgeschottete ästhetische Nische. Dieser Elfenbeinturm ist Symbol eines realitätsentfernten Sich-Versenkens ins Künstlerische, das den realen Sozialismus erträglich machen sollte. Assoziationen zur Turmgesellschaft in Goethes Wilhelm Meister, zu Thomas Manns Zauberberg lassen sich herstellen, nicht zuletzt zum Mythos vom Turmbau zu Babel, kurz, zum verwirrenden und demoralisierenden Nebeneinander und Gegeneinander einer offiziellen und einer privaten Sprach- und Handlungsebene, einem Lavieren zwischen Wahrheit und Verlogenheit. Wie ein roter Faden zieht sich in der Romanstruktur ein in Variationen auftretendes Umkreisen der Zahl “zwei” durch die Handlung. Dualistische Begriffe wie Zwiespalt, Kluft, Spagat, Zwickmühle, Schizophrenie, Ostrom-Westrom oder doppelte Landessprache stellen scharf Getrenntes in den Blickpunkt.

Das Buch besteht aus einer kursiv gedruckten “Ouvertüre”, einem in zwei Teile gegliederten Hauptteil (“Die pädagogische Provinz” und “Die Schwerkraft”) und einem “Finale: Mahlstrom”. Die “Ouvertüre” -- das sind die Tagebuchnotizen eines der Hauptakteure -- führen in eine vom Verfall gezeichnete mythische und doch reale Welt lähmender, vergifteter Stagnation, deren gespenstische Stille nur vom Ticken der Uhren unterbrochen wird. Das konstante, monotone Geräusch wird in der Gesamtanlage des Romans zum leitmotivischen Signal: durchweg hört man im Hauptteil des Bandes das Ticken der Uhren, in jenem Teil also, der mit prägnantester Detailtreue das Refugium des Privaten mit dem zermürbenden Wirken der DDR-Diktatur kontrastiert, bis es im “Finale” im November 1989 zum “Aufruhr der Uhren”[27] kommt: die letzte Stunde hat geschlagen. Tellkamp präsentiert ein ungemein breites, fast unüberschaubares Netzwerk von Personen mit unterschiedlichen Lebensläufen und Überzeugungen. Kaleidoskopartig begegnen sich Verwandte, Freunde, Kollegen, Feinde, Menschen der DDR-Gesellschaft, die Opfer, Peiniger, Nutznießer, Angepaßte oder Repräsentanten der Nomenklatura sind. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Familie Hoffmann, die drei Generationen umspannt. Der Chirurg Richard Hoffmann und seine Frau Anne -- sie repräsentieren die mittlere Generation -- leben ein Doppelleben: findig und gewieft vaszillieren sie zwischen öffentlicher und privater Welt, zwischen verlogener Anpassung und auf moralischen Werten gründender, kulturgesättigter Erbauung. Für den öffentlichen Bereich lehrt ein Schauspieler ihre Kinder die Kunst des Sich-Verstellens und Lügens. Die Hauptfigur innerhalb der Familie ist der anfangs 17-jährige Sohn Christian, den die Regeln dieses Doppellebens aus dem Gleichgewicht bringen und der daher Opfer seines Aufbegehrens, aber auch seiner Arglosigkeit wird. Der allmähliche Zusammenbruch Christians, der in der offiziellen Welt des realen Sozialismus von zynischen Staatshütern als “Nemo” bezeichnet wird, gestaltet sich auf der Folie eines anderen, aber ähnlichen Schicksals, des seines Onkels Meno Rohde, der Überlebensmechanismem der Unauffälligkeit für sich selbst entwickelt hat. Dieser Onkel lebt sein Leben mit gezielter Unverbindlichkeit, die jedoch den Selbstrespekt untergräbt und die Ich-Instanz letztlich zum Nichts gerinnen läßt. Meno mutiert ebenfalls zum isolierten und versponnenen Niemand. Die Korrespondenz der Namen ”Meno” und “Nemo” in diesem Anagramm ist offensichtlich. Auf diese beiden Charaktere sei ein Blick geworfen.

Der junge Christian Hoffmann -- ein Vertreter der dritten Generation -- ist in einem Alter, in dem sich in der Auseinandersetzung mit den Normen und Werten der Gesellschaft die Ich-Identität bildet. Aber Gesellschaft und Privatsphäre kollidieren. Die auf Lügen und Sich-Verstellen basierenden Mahnungen der Eltern verwirren ihn. Sie verstärken die für diese Phase typischen Gefühle von Unsicherheit, Arroganz und Rebellion und führen letztlich zu Störungen in der Identitätsentwicklung. Ohne feste Orientierung verliert er am Ende der Handlung jeglichen Halt, wird manipulierbar und in einem jahrelangen Zustand fortwährenden Terrors ein willenloses Opfer. Die Zerstörung der Persönlichkeit, die im sozialen Umfeld der Eltern begann, vollzieht und vollendet sich im öffentlichen Sektor mit logischer Konsequenz. Christian wird auf der Oberschule wegen nonkonformistischen Verhaltens “auffällig”, und während des dreijährigen Militärdienstes, zu dem er sich eines Studienplatzes wegen verpflichtet hatte, eckt er aus ähnlichen Gründen an. Der sensible junge Mann durchleidet in der NVA die Sadismen von Vorgesetzten und Kameraden, und das Leben wird zur Hölle. Wegen Beschimpfung eines Vorgesetzten, i.e. Staatsbeleidigung, landet er in der Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt, und dort, in einer isolierenden Dunkelzelle wird ihm klar: “Jetzt, dachte Christian, bin ich wirklich Nemo. Niemand.” (827).

Eine Zelle ganz anderer Art, eine Zelle aus der Tierwelt, weist auf die Persönlichkeitsunterhöhlung seines grüblerischen, illusionslosen Onkels, des Lektors Meno Rohde, der sich mehr und mehr aus seiner zwischen Nomenklatura und ästhetischem Türmer-Refugium angesiedelten Zwischenexistenz in eine abgeschottete naturwissenschaftliche Welt der Zoologie zurückzieht. Ein verstaubtes Museum wird sein schützender Kokon: “Meno trieb seine eigenen Forschungen. Die Zelle beschäftigte ihn, die kleinste Einheit des Lebendigen.” (872). Vereinzelt und ohne festes Orientierungssystem -- dem Büchnerschen Lenz ähnlich (“So lebte er hin” 28) -- versinkt auch er in einer Welt passiver Akzeptanz: “So lebte er in diesen Tagen.” (876) Der zoologische Bereich als Ausdruck der Individuumsauslöschung korrespondiert mit Christians gesellschaftlicher Abrichtung. Im menschenunwürdigen Arbeitsmilieu der Karbidproduktion und im Braunkohletagebau mutiert er ins Tierische: “Christian hatte, wenn er vor dem Ofen die Ruten bediente, das Gefühl, zu einem neuartigen Lebewesen, einem Zwitter aus Fischotter (Schweiß, die ofenabgewandte Seite) und Broiler (zur Ofenöffnung) geschmolzen zu werden” (835). Und

etwas Seltsames geschah. Der Widerstand, den Christian lange in sich gespürt hatte -- gegen die Gesellschaft, den Sozialismus, wie er ihn erlebte und sah -- schwand, wich einem Gefühl des Einverstandenseins mit allem. Es war richtig, daß er hier war […] Hier an diesem Ort, dem von Braunkohletagebauen und vergifteten Flüssen zerfressenen Chemie-Reich, war er richtig, hier war sein Platz. Er hatte seinen Platz in der Gesellschaft gefunden.” (840)

Der Prozeß der Persönlichkeitsauflösung im Nemo-Sein -- die stumpfe Akzeptanz und Erziehung zur Unmündigkeit -- ist damit vollendet; aber auch zum politisch-historischen Ende kommt es, “denn es schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, ‘Deutschland einig Vaterland’, schlugen ans Brandenburger Tor:” (973) Die Mauer fällt. Ist es “eine Mauer ohne Fenster” (827) oder gibt es Öffnungen, also hoffnungsvolle Perspektiven für einen noch sehr jungen, in der DDR geprägten Menschen? Wird er seinen Platz finden? In Fragen der Identitätsrekonstruktion und Ich-Stabilisierung des Hauptakteurs Christian bleibt es beim weitoffenen Ende.

Auch die Autorin Julia Schoch untersucht in dem Roman Mit der Geschwindigkeit des Sommers das Problem, wie und ob überhaupt ein drastischer Systemwechsel Veränderungen in einem Menschen bewirken kann bzw. welche Spuren das Alte im Neuen hinterläßt. Die Handlung des Romans beleuchtet Brüche und Grenzen in einem Leben und kreist um die Frage, auf welche Weise man diese Grenzen der Sozialisierung verschieben oder sogar aufbrechen kann. Schoch präsentiert zwei Fälle versuchter Selbstverwirklichung in einer solchen Grenzsituation: die eine gelungen, die andere verfehlt. Die Wende ist Ausgangspunkt für die Geschichte zweier Schwestern, die die Freiheit und die Breite der Entwicklungsmöglichkeiten in der neuen westlichen Welt auf sehr unterschiedliche Weise nützen. Beide sind im Norden der DDR auf einem Militärstützpunkt aufgewachsen (auch die Autorin ist Tochter eines einst in Mecklenburg stationierten NVA-Offiziers), beide sind vom starren, reglementierten Offiziersmilieu geprägt. In der Abwesenheit jeglichen gesellschaftlichen Geschehens träumt die Ältere zunächst von dem “Etwas” , das in dem “Experiment DDR” an utopischen Horizonten von vielen erwartet wurde: von dem “gänzlich anderen”. (22) Dem folgt die Sehnsucht nach der goldenen Freiheit und dem so ganz anderen Leben, das man im Westen vermutet. Nach der Wende ist die hypersensible Ältere in der ihr unvertrauten neuen Gesellschaft jedoch wie gelähmt, vorrangig darüber, “daß man nun, nachdem der eigene Wunschvorrat erschöpft war, nicht wußte, welcher Art von Träumen in dieser anderen Gesellschaft nachzuhängen war.” (110) So bleibt sie mit der ihr anerzogenen Warte- und Erwartungshaltung am Ort ihrer Sozialisierung und stagniert; die Jüngere dagegen nützt den reichen, scheinbar endlosen Vorrat der neuen Entscheidungsmöglichkeiten und bereist die Welt: “Ich war ständig mit Abfliegen oder Ankommen beschäftigt.” (12) Die ältere Schwester trifft letztlich dann doch eine Entscheidung, -- die einzige: sie reist in die Stadt, die der Inbegriff der unbegrenzten Möglichkeiten und der Freiheit ist, New York. Dort macht sie ihrem Leben ein Ende. Der Selbstmord ist der jüngeren Schwester Anlaß, das verfehlte Leben der Älteren als Chronistin zu rekonstruieren und darüber nachzudenken, welche psychischen Nachwirkungen des Ende der DDR auf den Einzelnen haben konnte. Das Buch ist -- wie ein Kritiker es faßt -- “ein Nachruf”.[29]

Wahlverwandtschaften zu Christa Wolfs empfindsamer, grübelnder, ständig prüfender Protagonistin Christa T. aus Nachdenken über Christa T. sind offensichtlich: “Nachdenken, ihr nach-denken. Dem Versuch, man selbst zu sein.[30] Schoch bekennt sich zu der Wolfschen Folie durchaus: “Ich wollte wissen, welche äußeren Faktoren dazu [dem Tod] beitragen und wie die Umgebung hätte sein müssen, damit das nicht passiert wäre.”[31] Das zentrale Problem des Romans ist das der Selbstverwirklichung eines Menschen, der feinfühliger, sensibler, reflektiver ist als der Durchschnittsmensch, ein Mensch in der DDR, der dazu neigt, die Werte der etablierten Gesellschaft vorbehaltlos zu überprüfen und in Frage zu stellen, der aber dann -- dem herrschenden Stillstand ausgeliefert -- sich träge in die “vorsortierten Möglichkeiten” (22) fügt. Welche Chance hatte der Einzelne innerhalb der straff geplanten realsozialistischen Gesellschaft, seine ungenormten Lebenserwartungen zu erfüllen und gleichzeitig als tätiges Mitglied der Gesellschaft Platz und Anerkennung zu finden? Die implizierte, auf die Vergangenheit gerichtete negative Antwort greift jedoch auch in die von schalem Materialismus beherrschte gegenwärtige westliche Welt. Die Konsumentengesellschaft mit ihrem unerschöpflichen Verbraucherangeboten beschämt die ältere Schwester: “Sie schämt sich, als hätte sie es zu verantworten, als wolle sie sich entschuldigen.” (78) Sie stagniert an dem Grenzpunkt zwischen einem früheren Nichts und einem gegenwärtigen Nichts. Schoch liefert das Psychogramm eines “Einzelwesens […], eines eigenen, undurchdringlichen Falls” (135), und es bleibt offen, ob der Selbstmord seine Wurzeln in seelischen Störungen, oder im Gesellschaftlichen oder gar in beidem hat.

Der Leser erfährt wenig Faktisches über das unaufregende Leben der Älteren. Sie ging in einem Provinznest zur Schule, wohnte im trostlosen Plattenbau, hatte als Schülerin eine Affäre mit einem Soldaten der Garnisonstadt. Später -- im Roman nur kurz angedeutet -- heiratete sie einen ortsansässigen Optiker und hatte mit ihm zwei Kinder. Der Wende, dem einst Erhofften, steht sie teilnahmslos gegenüber. Sie findet sich in den neuen Verhältnissen nicht zurecht, weiß nichts mit sich anzufangen, fühlt sich überrannt, sogar beschämt, ist unfähig zur Eigeninitiative. Man denkt an Monika Marons oben zitiertes Spiegel-Interview. So verharrt sie in der gewohnten Trägheit und reagiert auf ihre Umwelt mit depressiver Lebensunlust. Als der Soldat plötzlich wieder auftaucht, setzt sie die Affäre fort, allerdings mit rückwärtsgewandtem Blick auf die Vergangenheit. Der Soldat wird zum Symbol eines anderen, nie gelebten Lebens und zum Notbehelf, “die bedrohliche Gleichgültigkeit der neuen Zeit dem eigenen Leben gegenüber zu verjagen” (60). Erneut liefert sie sich den wohlbekannten DDR- “Träumen” vom “Eigentlichen”, “Anderen”, “Wirklichgewollten” aus. Sie sinniert:

Dadurch, daß die Geschichte dieses Staates nicht zu Ende gegangen, sondern abgebrochen worden war, wie eine festgefahrene unerträgliche Schulstunde, war es möglich, sich eine andere Vergangenheit auszumalen, die stattgefunden hätte, wenn diese Schulstunde, das Experiment weitergelaufen wäre. […] die verlockende Vorstellung, daß in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf für sie bereitgestanden hatte. […] Meine Schwester fühlte sich aufgehoben in der nicht probierten Version. (63)

Doch die Träume führen zu nichts. Das Gefühl der Nutzlosigkeit in der neuen Gesellschaft verstärkt sich. Sie leidet an Schwindelanfällen, und Kopfschmerzen, hört Pfeiftöne, halluziniert. Handelt es sich um die Fehlverarbeitung von realen oder imaginierten Erlebnissen, von deren verschwimmenden Grenzen? Die Frage bleibt unbeantwortet. Die ältere Schwester bricht die Affäre mit dem Soldaten ab, reist nach New York und begeht Selbstmord.

Doch auch die jüngere Schwester, die Ich-Erzählerin, erweist sich beim näheren Hinsehen als weitaus komplexerer Charakter als zunächst sichtbar war. Die Ältere -- in Fragen von Ich-Rekonstruktionen im vereinten Deutschland wohl kaum eines gesunden Urteils fähig -- bestätigt ihr zwar Erfolg: “Ich, die Jüngere, hatte den Absprung geschafft. Ich war noch gar nicht beteiligt gewesen, mein Leben noch nicht verbogen. In ihren Augen war die Zeit auf meiner Seite, immer.” (108) Und in der Tat scheint ihr neuer Lebensstil -- das Ausschöpfen neuer Möglichkeiten, die Entwicklung von Eigeninitiative, Selbstverantwortung, das Überwinden von Apathie und Trägheit -- der Älteren recht zu geben. Doch es erstaunt, wenn zwanzig Jahre nach dem Mauerfall ein scheinbar erfolgreich neuorientierter Mensch die DDR noch immer als “sozialistischen Staat (unseren Staat, wie ich immer noch sagen will)” (57) erinnert. Und es gibt zu denken, wenn die Ich-Sprecherin plötzlich auf ein kollektives Wir umschwenkt und folgende Bilanz zieht: “Ich halte es für möglich, daß der wortlose Gleichmut jener Zeit in uns geblieben ist, daß wir ihn mitschleppen bis zum Tod. Und das gar nichts ihn ersetzen kann, nicht eine neue Liebe, auch kein Plan zum Fortgehen, ja: nicht einmal die Lust der Freiheit.” (120) Ein belasteter Absprung oder Aufbruch folglich, den das jugendliche Alter der Protagonistin/Autorin kaum entkräftet.

Psychische Nachwirkungen des Umbruchs sind im Jahre 2009 in irgendeiner Form in all den oben erwähnten Werken erkennbar. Gefühle von Vereinsamung, Enttäuschung, Verletzung, Fremdheit mischen sich mit neuem Stolz, mit einem Aufatmen, einem Gefühl von Befreiung, aber auch von müder Gelassenheit. Alle angeführten Werke sind zwar frei von Nostalgie, aber nicht frei von der Sehnsucht nach einem undefinierten Neuen, ganz Anderen. Die Tatsache, daß die Deutsche Nationalstiftung im Jahre 2009 den Nationalpreis ausschließlich an ostdeutsche Autoren verlieh, legt Zeugnis ab davon, daß anhaltende Fremdheit unter den Deutschen kaum als subjektiver, vielmehr als objektiver Faktor im Prozeß der Annäherung und Wiedervereinigung zu werten ist. Monika Marons optimistisches Porträt der Ostdeutschen im Bitterfelder Bogen interpretiert eine Rezensentin als “Wiedervereinigungsgeschichte”[32]. Das ist vertretbar. Doch steht Maron wohl eher im Abseits. Uwe Tellkamp, dessen Werk ein verstörend offenes Ende mit einer ebenfalls verstörend gebrochenen Hauptfigur hat, meldet mit diesem Strukturelement des Bruchs eher berechtigte Zweifel an einer schnellen Wiedervereinigung an. Ein kanadischer Rezensent des Romans Der Turm, James Skidmore, wartet mit einem Fazit auf, das sich durchaus auch auf die Werke Loests, Brauns oder Schochs übertragen läßt: “What the novel doesn’t do is tell the story of a united Germany. Reality will have to catch up with wishful thinking before the story can be written.”[33] Dem ist zuzustimmen. Die Vollendung der Wiedervereinigung ist längst noch nicht abgeschlossen.

Endnoten

1 Frauke Meyer-Gosau, “Wir sind zu früh,” Literaturen 05 (2009): 27.

2 Spiegel-Gespräch mit Monika Maron: “ Durch eine schwere Zeit gegangen,” Der Spiegel 25 (2009): 138.

3 Julia Schoch, Mit der Geschwindigkeit des Sommers (München: Piper, 2009) 120. Zitate im Text der Arbeit.

4 Paul Cooke, “Beyond a Trotzidentität: Storytelling and the Postcolonial Voice in Ingo Schulze’s Simple Storys,” Forum for Modern Language Studies 39.3 (2003): 299

5 Thomas Schaefer, “Zwischen Zorn und Distanz,” Osnabruecker Zeitung 6. März 2009.

6 Volker Braun, “Das Eigentliche,” Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1976) 99.

7 Volker Braun, “Allgemeine Erwartung,” Gegen die symmetrische Welt (Frankfurt/M.: Suhhrkamp, 1974) 55-56.

8 Braun, “Definition,” Training des aufrechten Gangs (Halle: Mitteldeutscher Verlag, 1979) 59.

9 Braun, “Das Eigentum,” Neues Deutschland 4./5. August 1990.

10 Braun, ”Das Verschwinden des Volkseigentums,” Auf die schönen Possen (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005) 87.

11 Braun, “Abschied vom Kochberg,” Tumulus (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999) 20.

12 Braun, “Das Magma in der Brust des Tuareg,” Tumulus, 24.

13 Braun, “Der Übernarr,” Sinn und Form, 61.3 ( 2009): 377.

14 Joachim Ritter, “Über das Lachen,” Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori, hrsg. v. Steffen Dietzsch (Leipzig: Reclam, 1993) 110.

15 Braun, “Die Utopie,” Auf die schönen Possen, 33.

16 Karen Leeder, “’Totentänze’: Volker Braun’s late poems – Postscripts on the end of utopia,” Dislocation and Reorientation, hrsg. v. Axel Goodbody, Pòl Ò Dochartaigh and Dennis Tate, German Monitor 71 (Amsterdam: Rodopi, 2009) 31

17 Rolf Jucker, “’Ich bin zu Ende mit allen Träumen/ Was soll ich unter den Schläfern säumen’: Volker Braun im Gespräch mit Rolf Jucker, Berlin, 10. August 2002 und 10. Juni 2003,” Jucker, “Was werden wir die Freiheit nennen?” Volker Brauns Texte als Zeitkritik (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004) 97-106.

18 Jucker, “Volker Braun im Gespräch …,” 104.

19 Volker Braun, “Die Verhältnisse zerbrechen. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000,” Die Verhältnisse zerbrechen (Frankfurt/M.: Sonderdruck edition suhrkamp, 2000) 25.

20 Monika Maron, Bitterfelder Bogen. Ein Bericht (Frankfurt/M.: Fischer, 2009). Zitate im Text der Arbeit.

21 Maron, Flugasche. Roman (Frankfurt/M.: Fischer, 1981). Zitate im Text der Arbeit.

22 Christoph Schröder, “Der blaue Himmel über Bitterfeld,” Frankfurter Rundschau 24. Juni 2009.

23 Jeanette Stickler, “’Es sind blühende Landschaften,’ Gespräch mit Monika Maron,” Kölner Stadt-Anzeiger 3. Juli 2009.

24 “’Durch eine schwere Zeit gegangen’: Spiegel-Gespräch,” Der Spiegel 25 (2009): 138.

25 Beatrix Langner, “Utopia, zeitgeschwärzt. Erzählte Geschichte in Uwe Tellkamps Turmgesellschaft,” Neue Zürcher Zeitung 11./12. Oktober 2008.

26 Uwe Tellkamp, Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land (Frankfurt.M.: Suhrkamp, 2008). Zitate im Text der Arbeit.

27 Jens Bisky, “Aufruhr der Uhren,” Süddeutsche Zeitung 13./14. September 2008.

28 Georg Büchner, “Lenz,” Werke und Briefe, hrsg. v. Fritz Bergemann (Wiesbaden: Insel, 1966) 111.

29 Jochen Hieber, “Julia Schoch: ‘Mit der Geschwindigkeit des Sommers’: Die schöne Wut am Leib des anderen,” Frankfurter Allgemeine Zeitung 29. Juni 2009.

30 Christa Wolf, Nachdenken über Christa T. (Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag, 1968) 7.

31 Frauke Meyer-Gosau, “’Wir sind zu früh …’,” 29.

32 Elisabeth von Thadden, “Brüder, zur Sonne,” Die Zeit 16. Juli 2009.

33 James Skidmore, “German literature and the fall of the Wall,” The Globe and Mail October 31, 2009.