Glossen 30

Werner Bräunig, Rummelplatz Berlin: Aufbau-Verlag, 2007. 678 Seiten.

Werner Bräunig, der in den Nachkriegsjahren als Fabrikarbeiter und Bergmann gearbeitet hatte, war der andere der beiden in den Augen der SED höchst problematischen Arbeiterschriftsteller der DDR. Anders als Wolfgang Hilbig, der derlei Kampagnen als Falle durchschaute, hatte er positiv auf den Aufruf der Partei, dem “Sozialistischen Realismus” verpflichtete Arbeiterliteratur zu schreiben, geantwortet. Der Slogan “Greif zur Feder, Kumpel!” – Motto der ersten Bitterfelder Konferenz von 1959 – war sogar Bräunigs Erfindung. Trotzdem widerfuhr Bräunigs wichtigsten Texten am Ende dasselbe wie Hilbigs: Verboten in der DDR! In ihrem Selbstvertrauen als Schriftsteller zutiefst verletzt, flüchteten beide Autoren in den Alkohol. Bräunig starb 1976 von der Alkoholkrankheit, mit zweiundvierzig Jahren. Hilbig rettete sich durch Umzug in die Bundesrepublik, wo er nach der Veröffentlichung seiner Erzählungen, Romane und Gedichte berühmt wurde.

Der Grund, weshalb Bräunigs über sechshundert Seiten langer, packend geschriebener und mit erzgebirgischem Lokalkolorit fein gewürzter Roman Rummelplatz in der DDR nicht erscheinen durfte, ist heute auf den ersten Blick schwer zu verstehen. Der Autor schlägt sich darin förmlich für die Rechtfertigung der Existenz der DDR als des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates. Wenn der Roman mit einer detaillierten Darstellung des Arbeiteraufstandes am 17. Juni 1953 endet, so fehlt nicht die Verurteilung dieses Ereignisses als eines vom westlichen Radiosender RIAS inszenierten faschistischen Abenteuers. Freilich arbeitet Bräunig nicht mit den Mitteln des Sozialistischen Realismus. Er erzählt die Nachkriegsereignisse in der Gegend des erzgebirgischen Uranbergbaus aus der Perspektive verschiedener Figuren. Und eine dieser Figuren ist Peter Loose, ein junger Bergmann, der für einen Witz über den sowjetischen Geheimdienstchef Berija verhaftet und zu einer unangemessen hohen Gefängnisstrafe verurteilt wird – Erlebnisse, die an diejenigen von Kafkas Joseph K. erinnern. Am Ende des Romans wird Hermann Fischer, ein alter Kommunist, der das Dritte Reich im KZ überlebt hat und als undogmatischer Genosse die Sympathie des Lesers besitzt, von einem Randalierer erschlagen. Der Erzähler kann sich nicht verkneifen hinzuzufügen: Wäre Peter Loose nicht im Gefängnis, wäre dies nicht passiert! Denn Loose war stark und hatte den Mörder Fischers früher im Roman in einer Kneipe in einem Faustkampf besiegt. In anderen Worten, auch die stalinistische Bestrafungssucht der DDR-Regierung – das konnte die Zensurbehörde der Partei dem Autor nicht durchgehen lassen – war am Tod Fischers schuld.

Zudem reflektieren verschiedene Figuren des Romans diese Sucht. Zacharias etwa, ein positiv gezeichneter SED-Funktionär, denkt: “Woher dieses ungeheure Garantie- und Sicherheitsbedürfnis, das im Namen der Verteidigung sozialistischer Errungenschaften am liebsten alle Freiheiten und Errungenschaften aufheben möchte, die wir erreicht haben oder erreichen müssen?” Als Antwort auf diese Frage deutet er auf die Herkunft vieler politischer Führer der DDR aus dem Kleinbürgertum: “Ja, dachte er, der verdammte kleinbürgerliche Horizont – das ist es. Die Unfähigkeit, etwas Eigenes hervorzubringen, und das gedankenlose Nachplappern alter Sätze: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.”

In einem lesenswerten Nachwort zum Roman beschreibt Angela Drescher detailliert den irrsinnigen Vorgang, in dem Bräunigs Roman 1965 in der DDR verboten wurde. Nicht im Stillen geschah das, sondern, um andere Autoren abzuschrecken, in einer großangelegten öffentlichen Kampagne. Im Neuen Deutschland und anderen wichtigen Zeitungen wurde Bräunig für eine Vorveröffentlichung eines Kapitels aus Rummelplatz in der DDR-Literaturzeitschrift ndl mit Schlagworten wie “Zersetzungserscheinungen”, “moralische Unsauberkeiten des Helden” und “Skeptizismus” niedergemacht. Bräunig, er lehrte zu diesem Zeitpunkt am Literaturinstitut “Johannes R. Becher” in Leipzig, verteidigte sein Werk redlich, aber sein Hauptargument, dass es sich bei seinem Roman um Literatur handelt, schien alles nur schlimmer zu machen: “Nichts scheint die Verantwortlichen so herausgefordert zu haben wie die geduldigen, ernsthaften Versuche Werner Bräunigs und seiner Verteidiger, der Kritik an seinem Text mit literaturtheoretischen Erklärungen zu begegnen”, schreibt Drescher. Sie fügt hinzu: “Bräunig konnte nicht verstehen, daß es nicht um die Diskussion von Argumenten ging, und die Funktionäre konnten nicht glauben, daß jemand das zynische Spiel um Rechthaben und Machtdemonstration nicht durchschaute.”

Christian Kleinschmidts Geschichte, ein Entwicklungsroman, nimmt im Text den meisten Raum ein. Weil er der Sohn eines Professors ist und damit die falsche Klassenzugehörigkeit besitzt, darf Kleinschmidt trotz seines ausgezeichneten Schulabschlusses nicht studieren und wird zur “Bewährung in der Produktion” in den Uranbergbau geschickt. Dort zerbricht er fast unter der Schwere und Monotonie der Arbeit unter Tage, entwickelt sich aber dann mit Fischers Hilfe zum Leiter einer Jugendbrigade und wird schließlich von der Wismut zum Bergbaustudium delegiert. Am Ende dieses Weges steht Christians Parteieintritt, und eine Liebe zwischen ihm und Fischers Tochter Ruth bahnt sich an. Ruths Entwicklung von einer ungelernten Arbeiterin zur Maschinenführerin in einer Papierfabrik wurde im Roman parallel zu der Christian Kleinschmidts erzählt und geschickt mit der von Peter Loose und anderer Protagonisten verflochten.

Für heutige Leser schockierend ist die Beschreibung des bedenkenlosen Umgangs mit radioaktivem Material; man wundert sich nach der Lektüre nicht mehr über die ungewöhnlich hohe Zahl der Krebsfälle in dieser Gegend des Erzgebirges. Ohne Schutzanzüge messen Christian und ein Kollege zum Beispiel eine frisch aufgehackte Stelle in der Grube und freuen sich wie Kinder über die hohe Radioaktivität. “‘Jup die Geige’, sagte der Radiometrist, ‘da ist ganz schön Saft drauf'. Er zeichnete Markierungen an die Wand; bis zur Rolle war alles aktiv. Er horchte auch den Boden ab, aber das Erz knatterte wie verrückt, sie mußten es erst beiseite räumen.”

Angela Drescher weist zu recht darauf hin, dass Bräunigs Wahl der Wismut als des Haupt-Schauplatzes für seinen Roman als ein Grund für das Verbot des Buches ausgereicht hätte; der sowjetische Uranbergbau in der DDR und sein Menschenverschleiß unterlagen der Geheimhaltung. Wurde nicht auch Konrad Wolfs Film Sonnensucher, der ein authentisches Bild der Arbeit bei der Wismut zeichnete, verboten? Dennoch soll hier betont werden, auch wenn Werner Bräunig Christians Entwicklung von einem der DDR skeptisch gegenüberstehenden Professorensohn zum Genossen aus Überzeugung nicht bei der Wismut, sondern etwa im Steinkohlenbergbau bei Oelsnitz (dort hatte Bräunig hauptsächlich seine Erfahrungen als Bergmann gesammelt) angesiedelt hätte, wäre das Buch in den sechziger Jahren der DDR-Zensur zum Opfer gefallen. Denn anders als Wolfs Film entwirft der Roman nicht nur ein authentisches Bild der Arbeit bei der Wismut, sondern reflektiert über das Thema Mensch und Gesellschaft auf eine Art, die über den Denkhorizont der Partei weit hinausgeht. Dabei fallen Sätze wie: “Die Menschen, summarisch gesprochen, könnten ohne gewisse Gottbegriffe nicht leben, es hänge aber lediglich von der Struktur der herrschenden Anschauungen ab, welche Wortgötzen zur alleinseligmachenden Religion erhoben würden: Gott, Demokratie, Rasse, Klasse. Es seien dies höchst nützliche Erfindungen zu dem Zweck, ein System zu errichten, mit dessen Hilfe man regieren könne und in den Regierten das Gefühl erzeugen, auf die einzig vernünftige Weise regiert zu werden.” Obwohl Christian die Richtigkeit dieser Gedanken seines Vaters durch die Verwendung des Konjunktivs anzweifelt, ist es undenkbar, sie in einem in der DDR gedruckten Buch zu finden. Der Begriff “Klasse” als Gottersatz?

Auf einer zweiten, in der britischen Besatzungszone angesiedelten Erzählebene, vergleicht Martin, ein aus der Emigration zurückgekehrter jüdischer Journalist, das östliche mit dem westlichen Nachkriegsdeutschland. Obwohl er das östliche vorzieht, weil seiner Meinung nach die faschistische Vergangenheit dort nicht so unter den Teppich gekehrt wird wie im Westen, ist seine Kritik an dem, was im Osten unter dem Namen Arbeiter- und Bauernstaat im Entstehen begriffen ist, vernichtend. Meines Erachtens ist diese Kritik der Hauptgrund für die geradezu hysterischen Angriffe der Parteifunktionäre auf den Autor Bräunig. Für diejenigen, die sich immer noch wundern, warum das sozialistische Gesellschaftsexperiment fehlschlug, sollen Martins Gedanken hier wiedergegeben werden; sie treffen meines Erachtens den Kern: Unter dem Strich, so beendet Martin seinen Systemvergleich, ist das Leben einer Fabrikarbeiterin im Osten genauso schwer wie im Westen, durch Schlangestehenmüssen und dergleichen sogar noch schwerer. “Nur der Refrain”, fährt Martin fort, “war unvertraut, Privateigentum, Klassenkampf, ein Schock der Begriffe, sind die erst mal sicher, ist es wieder das Alte, und immer so fort. Veränderbarkeit? Gewiß. Aber bloß in den Formen und bloß peripher, was also kann das und wem nützt es, außer ganz wenigen, ganz wenigen Anführern?” Bis zum Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte sich Martins Erkenntnis, dass die ostdeutsche Gesellschaft sich nur der Form nach von der westlichen Ausbeutergesellschaft unterschied, in der DDR herumgesprochen, und als Michael Gorbatschow die Sicherheitsventile lockerte, war es mit dem sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat vorbei. Bräunig sagt nicht, dass er Martins Blick auf die Dinge teilt. Er ist Perspektivist. Der Blick Christian Kleinschmidts, Hermann und Ruth Fischers und vieler anderer Protagonisten auf die Welt widersprechen der Perspektive Martins. Jedoch Perspektivismus und Sozialistischer Realismus stehen in einem schreienden Gegensatz zueinander.

Rummelplatz war von Werner Bräunig als der erste Band eines mehrteiligen Romanzyklus geplant; nach der aggressiven Kritik der Partei an seinem Vorabdruck in der ndl hat er die folgenden Bände bedauerlicherweise nicht geschrieben. Selbst das Manuskript des hier vorliegenden ersten Bandes war nach der Wende nur als Fragment aufgefunden worden. Das Ende des 2007 bei Aufbau erschienenen Buches enthält neben dem Nachwort Angela Dreschers interessante editorische Notizen über dieses Manuskript, eine Kurzbiographie des Autors sowie Anmerkungen zu Spezialausdrücken, intertextuellen Bezügen und im Roman erwähnten historisch wichtigen Personen.

Obwohl Bräunigs unkritische Verwendung von DDR-üblichen Abkürzungen wie etwa “Gewi” für “Gesellschaftswissenschaften” für Leser, die nicht aus der DDR stammen, Verwirrung stiften mag, sollte das Buch in keiner Bibliothek einer Universität der USA, an der Deutsch als Fremdsprache gelehrt wird, fehlen.

Gabriele Eckart