Glossen 30

Hans Joachim Schädlich, Kokoschkins Reise. Bremen: Rowohlt Verlag, 2010.

Hans Joachim Schädlich schuf mit dem „gelernten Emigranten“ Fjodor Kokoschkin, der Mittelspunktsfigur in seinem neuen, facetten- und beziehungsreichen Roman ein literarisches Denkmal für die vor dem russischen Kommunismus und der nationalsozialistischen Diktatur Geflohenen des 20igsten Jahrhunderts, die eine Heimat verloren, und, wenn sie Glück hatten, auf verschiedenen Kontinenten Zuflucht, wenn nicht gar eine neue Heimat fanden. Zu ihnen gehören die im Buch erwähnten Iwan Alexejewitsch Bunin, Wladislaw Chodassewitsch, dessen Frau Nina Berborova und abertausend andere, wie z. B. der Vater von Wladimir Nabokov, der von russischen Agenten im Berlin der Weimarer Republik erschossen wurde, und der weniger bekannte Sprachwissenschaftler, Alexander V. Isacenko (Die russische Sprache der Gegenwart), mit dem Hans Joachim Schädlich an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin zusammengearbeitet hatte und der nach einem gemeinsamen Angelurlaub in Mähren kurz vor dem Einmarsch des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei nach Österreich fliehen konnte. Übrigens wäre Isacenko 95 Jahre alt gewesen, als der gleichaltrige Kokoschkin im September 2005 endgültig Abschied von Europa nahm.

Der Titel von Hans Joachim Schädlichs neuem Roman, Kokoschkins Reise, beschreibt einerseits die allegorische Lebensreise Fjodor Kokoschkins, eines fiktiven Sohnes des 1918 von den Bolschewiki ermordeten Abgeordneten der Verfassungsgebenden Versammlung Russlands gleichen Namens. Er verweist aber auch auf eine „reale“ dreiwöchige Europareise Kokoschkins, die er in Begleitung seines jüngeren tschechischen Freundes, Jakub Hlavácek unternimmt, um im Jahre 2005 Prag, St. Petersburg, Berlin und den kleinen Ort Bad Saarow am Scharmützelsee noch einmal zu sehen. Es ist eine Reise, die er mit einer sechstägigen Rückfahrt auf der QM2 von Southhampton nach New York beendet.

Daß es gerade diese Orte sind, die Kokoschkin besucht, ist kein Zufall. Prag ist seit dem 14. Jahrhundert die Hauptstadt des Römischen Reiches und kulturell-politisches Zentrum Mitteleuropas, dessen Schicksal neben dem seiner Emigranten im geschichtlich-politischen Zentrum des Romans steht. Die Stadt an der Moldau ist weiterhin auch sein erster Exilort nach seiner Flucht aus dem nazistischen Deutschland im Jahre 1934 und symbolischer Ort des Prager Frühlings, der bis zu seiner Zerschlagung durch russische Panzer im Jahre 1968 eine große Hoffnung für die Menschen im „sozialistischen Weltsystem“ darstellte.

St. Petersburg dagegen ist sein Geburtsort und gleichzeitig der Ort, in der er als Achtjähriger mit der Ermordung seines Vaters durch bolschewistische Soldaten zum ersten Mal den Konflikt zwischen Diktatur und Demokratie erlebt, ein Konflikt, der ihn sein ganzes Leben lang in der einen oder anderen Form verfolgen wird.

Der kurze Aufenthalt in Bad Saarow am Scharmützelsee südöstlich von Berlin gibt Kokoschkin Anlaß, über den russischen Autor Maxim Gorki und dessen verhängnisvoll ambivalentes Verhältnis zur Oktoberrevolution nachzudenken, ein modellhaftes Verhältnis, das sich vom Wesen her in allen folgenden „sozialistischen“ Ländern bei den so genannten kritisch-loyalen Autoren und Künstlern wiederholt.

Im Berlin der Weimarer Republik erfährt er noch einmal den Verlust eines Elternteils. Seine Mutter folgt den Dichterfreunden Nina Berberova und Chodassevitch nach Paris und läßt ihren Sohn auf einer Freistelle im Templiner Joachimsthaler Gymnasium, einer Internatsschule, zurück. Am Eingang des Gymnasium gab es eine Inschrift: „Dic cur hic.“ Warum bist Du hier, warauf Kokoschkin für sich nur sarkastisch antworten kann: „Weil ich kein Zuhause habe.“(95)

Obwohl in der Internatsschule von wohlmeinenden Lehrern und freundlichen Mitschülern umgeben, ist er mit 15 Jahren nun wirklich allein, eltern- und heimatlos, ein Wunde, die selbst mit seinen 95 Jahren noch so schmerzt, daß er auf seiner Reise im Jahre 2005 nicht in der Lage ist, diesen Berlin nahe gelegenen Ort noch einmal zu besuchen. Zwar gewinnt er nach der Matura im Berliner Botanischen Garten eine gute Freundin, die ihn in der schweren Zeit der Wirtschaftskrise unterstützt, aber selbst diese Bindung kann ihn nicht davon abhalten, das mehr und mehr in einen nazistischen Gleichschritt verfallende Deutschland zu fliehen. Dem vorläufigen Exil in Prag folgt 1934 die Exilheimat Boston, wo er schließlich als Universitätsprofessor für Botanik, Spezialität Halme und Gräser, unterrichtet.

Die Chronik der sechstägige Schiffsreise von Southhampton nach New York fungiert im Roman als Rahmenhandlung, die immer wieder durch Erinnerungen an seine Lebensreise unterbrochen wird. Es wird eine ruhige Fahrt für Kokoschkin, eine Ruhe, die sich aus seinen Lebenserfahrungen speist. Nur sehr verhalten wird sie von seiner letztlich sublimierten Zuneigung zu der vierzigjährige Chicagoer Architektin Noborra beeinträchtigt; als Botaniker, der sich auf Halme und Gräser spezialisiert hat, könnte er ihrer professionellen Leidenschaft zur Begrünung von Dächern eine wissenschaftliche Basis geben, bedeutet er ihr. Sie verweist ihn lächelnd auf das Architekturbüro ihres Mannes. Eine Altersliebe seinerseits eben, der sie jedoch geschmeichelt und verständnisvoll ausweicht.

Neben Noborra sind auch Frank und Lucy Tischnachbarn, ein eher schmächtiges älteres Ehepaar aus England, das nur mal so zum Lunch mit Freunden nach New York reist und sich dann am Nachmittag auf das Schiff zurück begibt, um wieder nach Hause zu schippern; immerhin macht das zwei Wochen Ferien auf einem Schiff aus. Gesprächspartner am Tisch wird auch Sachnowski, ein jüngerer Russe, Musiker und Fagottspieler, der nach Europa gefahren war, um die europäische Orchestertradition kennen zu lernen, was ihm jedoch nicht gelungen war.

Auch andere Reisegenossen stellen sich ein. Um seinen ihm zugewiesenen Tisch gesellt sich eine gemischte Gruppe von Menschen, deren Vorlieben und Eigenarten teilweise merkwürdig erscheinen und sogar befremden. Doch Platz ist auf diesem Schiff für viele, und mit einer Ausnahme sind alle von einer Kultiviertheit, die sie ihre Idiosynkrasien, Eitelkeiten und Dummheiten mehr oder weniger vergeben läßt, auch wenn es manchmal im Wortsinne zu Auseinandersetzungen kommt, etwa wenn Josh Oakley sich aus Ärger über Frank und Lucy, einem unbedarften älteren Ehepaar aus England, das nichts mit gegenwärtigen politischen Ereignissen zu tun haben will, besonders nicht beim Essen, einen anderen Tisch sucht, übrigens erfolglos.

Die schillerndste Person am Tisch Kokoschkins ist Oakley, der, wie es offenbar der Zufall so wollte, den Spezialisten für Gräser und Halme einmal vor zwei Straßenräubern gerettet hatte. Oakley scheint kein weiteres Interesse an Europa gehabt zu haben, er war auf der QM2 von New York nach Southhampton dienstlich unterwegs und ist nun als Privatreisender wieder auf dem Nachhauseweg. Auf jeden Fall stört er die insulare, harmlos genießende Lebensweise auf dem Schiff, in dem er die Tischgesellschaft mit dunklem Humor und Andeutungen von einer eventuell an Bord zu Tode gekommenen 62jährigen Deutschen beunruhigt. Im vollkommenen Gegensatz zu den bewußt unpolitischen Frank und Lucy, die Oakley für einen unkultivierten Grobian halten, ist er ein leidenschaftlich politischer Mensch, der vor allem mit den Sicherheitsvorkehrungen des Ozeanriesen vertraut ist, aber auf die Frage der Mitreisenden, ob es eine Antwort auf einen U-Boot Angriff gäbe, bedeutungsvoll schweigt.

Wie viele von Schädlichs Texten ist auch dieser in weiten Teilen metonymisch aufgebaut. Die mit großem Können und Liebe zum Detail beschriebenen Orte von Kokoschkins Lebensreise wie z. B. das Berliner Bayerische Viertel oder der Botanische Garten, der Hradschin in Prag oder Studená nahe Tel? stehen gleichzeitig für ein Europa, das es nicht mehr gibt bzw. so wahrscheinlich auch nie gegeben hat.

Auch ist die QM2 nicht nur ein Verkehrsmittel. Wie die Titanic vor ihr, umhüllt und schützt sie auf dem unberechenbaren Meer Repräsentanten traditioneller bürgerlich-aristokratischer Werte wie Standesbewußtsein, Haltung, höfliche Umgangsform, heitere Distanziertheit, die sich z. B. in der Kleiderordnung, dem zur Unterhaltung der Passagiere von einem polnischen Streichquartett gespielten Mozartschen Divertimento und raffinierten Menüs ausdrückt, welche der Erzähler mit viel Genuß beschreibt – man kann übrigens sicher sein, daß diese Menüs auf der QM2 genau so sind, wie beschrieben. Das Flaggschiff der Cunard Line wirkt daher wie ein Container, in dem der europäische Traum, dessen letzte Protagonisen, Lucy und Frank sind, konserviert wird.

Es ist allerdings ein gefährdeter Traum, der Container ist rißempfindlich, vor allem weil die Träumer, Frank und Lucy diese Gefahr zwar ahnen, aber nicht wahr haben, geschweige denn reflektieren wollen. Die Amerikaner sind da von anderem Schrot und Korn. Es geht aus den Tischgesprächen hervor, wie Oakley, Kokoschkin, Noborra und Sachnowski der Möhlichkeit des Zusammenbruchs der europäischen Zivilisation sehr gewahr sind, wenn sie das auch in unterschiedlicher Form ausdrücken. Diese Gefahr käme aus der asiatischen Steppe, die gleich hinter dem Baltikum begänne und rühre von dem Einbruch des militanten Islam nach Europa und der Verantwortungslosigkeit europäischer Politik her, die dieser Gefahr nichts entgegensetzen will oder kann.

So gesehen evoziert die QM2 das Bild anderer älterer Schiffe, Schwesternschiffe, wenn man so will. Man denke an Sebastian Brants „Narrenschiff“, an Thomas Manns „Esperanza“, in seinem Tod in Venedig oder die ebenfalls fiktive „Vera“ in Katharine Ann Porter Ship of Fools. Kein Wunder daher, daß Kokoschkin zwar die Menüs, die technische Ausstattung und das Entertainment auf der QM2 genießt, aber doch auch froh ist, daß er bald in der Neuen Welt sein wird, seiner Welt. Und Leser werden wahrscheinlich nicht fehl gehen, wenn sie die letzten Wörter des Romans: „Nach Boston. Nach Hause“ als die Reverenz des Autors an diese Neue Welt interpretieren.

Wolfgang Müller