Glossen 30

Michael G. Fritz
Warum ich nicht vom Schreiben lassen kann

Nein, ich habe keinen Grund, mich zu beklagen. Ich arbeite in einem statistischen Amt, wo ich Zahlen zusammentrage und aneinanderreihe, was sie hier Zahlenkolonnen nennen, deren Summe ich ziehen muß -- an sich kein sehr anstrengender Dienst. Nur bin ich stets wieder verblüfft, was gezählt wird, ob Fahrräder oder Autos, absolut oder aufgeschlüsselt auf jeden Kopf der Bevölkerung vom Säugling bis zum Greis, ob die Menge produzierter Briketts oder die geernteter Äpfel, ob die Anzahl von Flüchtlingen aus Bosnien -- alles wird durch Zahlen erfaßt. Mein Pensum ist mittags geschafft, ich schiebe meinen Stuhl energisch an den Schreibtisch und gehe nach Hause. Diese Zahlen, man kann es so sagen, ernähren mich, und zwar halbwegs (das Wort trifft genau: Sie ernähren mich zur Hälfte), lassen mir aber genügend Zeit, um am heimischen Schreibtisch zu sitzen und die andere Hälfte zu verdienen: die Ohren durch Ohropax verstopft, ausgerüstet mit einem Päckchen Zigaretten, einem halben Dutzend gespitzter Bleistifte sowie einem Stoß weißen Papiers mache ich mich am Nachmittag an die Arbeit. Doch die andere Hälfte hole ich nicht herein. Das einzige Gefühl, zu dem ich fähig bin, gilt den Lektoren in den Verlagen, denen ich meine Erzählungen zusende, und, ich gestehe, es ist Mitleid. Ich kann mir vorstellen, wie sie vor dem Öffnen des Umschlags dem Absender entnehmen, daß ich ihnen noch nicht untergekommen, also ein sogenannter namenloser Autor bin. Sie werden das Manuskript durchblättern, ich will nicht ungerecht sein, vielleicht auch die eine oder andere Zeile lesen, und dann schreiben sie mir einen Brief. Diese Briefe ähneln sich alle, sie zeugen auf rührende Weise von der Hilflosigkeit der Lektoren: Was sollen sie mit Erzählungen? Kurze Prosa wird, wie man hört, immer seltener gelesen, die von namenlosen Autoren erst recht, bei denen lohnt eigentlich nicht die Investition. Und weil die Lektoren sich nicht entschließen können, das auch auszusprechen, führen sie eigene Überlastung ins Feld, beklagen jahrelange Vorausplanungen, die mit beträchtlichem Warten verbunden seien, oder schreiben kurz und knapp, daß eine Publikation in ihrem Verlag nicht infrage käme. Immerhin, ich habe es kein zweites Mal beim selben Verlag probiert, wie gesagt, ich leide mit den Angestellten, schließlich müßten sie sich meinetwegen nochmals an die Schreibmaschine setzen (oder an den Computer) und wieder neue Formulierungen finden.

Dabei bin ich kein völlig unbeschriebenes Blatt, wie ich im übrigen bis jetzt den jungen Autoren zugerechnet werde. Habe ich schon erwähnt, daß ich aus dem Osten komme? Mein Debütband wurde seinerzeit in stattlicher Anzahl unter die Leute gebracht. Bärisch, sagt mein Freund Heinrich heute noch, für den man getrost das Wort Dichter verwenden darf (nicht nur weil er Gedichte schreibt) und der seinen sächsischen Dialekt nicht aufgeben will, bärisch starke Auflage. Er wiegt dann anerkennend den Kopf hin und her und streicht durch seinen schütteren Bart. Der Verkauf stagnierte im Verlauf des Jahres, in dem das Land, in welchem ich gelebt und das mein Land zu nennen ich nie bereit gewesen war, den vierzigsten Jahrestag seines Bestehens begehen wollte. Im Herbst, in dem die Demonstrationen losbrachen, wurde kaum ein Dutzend verkauft, und im darauf folgenden Frühjahr, man konnte längst absehen, daß dieses Land aufhören würde zu existieren, galt mein Buch als nicht mehr absetzbar. Wer will das jetzt lesen, sagte ich mir, man hat freilich Wichtigeres zu tun. Der Verlag, der später einging, sandte mir den restlichen Bestand zu, ohne mir einen Pfennig in Rechnung zu stellen -- nein, ich habe mich nicht zu beklagen.

Meine Wohnung ähnelte einem Warenlager, packenweise verschenkte ich das Buch an Freunde und Bekannte, die ihrerseits versprachen, es weiterzugeben. Heinrich schickte ich eine große Kiste nach Berlin, in den Westteil, wo er seit Jahren lebte. Er stammte aus dem Erzgebirge, wurde einiger Gedichte wegen verhaftet und nach über einem Jahr Gefängnis nach eben Westberlin abgeschoben. Wir hatten uns lange davor kennengelernt, in einer im gleichen Maße schmuddeligen wie verräucherten und dennoch gemütlichen MITROPA einer Kleinstadt, in der ich studiert hatte. Weder er noch ich wollte verreisen, wir kehrten auch von keiner Fahrt zurück. Wenn einem an warmen Sommerabenden der Sinn nach Bier stand, fand man oft schwer, mitunter nie Platz in einer Gaststätte, einzig der Weg in die MITROPA mußte nicht völlig vergeblich sein.

Mancher Leser, wenn es ihn denn einmal geben sollte, der zudem die Verhältnisse in diesem vergangenen Land nicht vergessen hat und gleichfalls passionierter Biertrinker ist (ich hoffe, ich verlange nicht zuviel), wird sich vielleicht erinnern. Um etwas Biographisches einzustreuen: Mich hatten sie gerade von der Hochschule geworfen, wobei ein aus der Sowjetunion ausgebürgerter Schriftsteller keine unwesentliche Rolle spielte, ebenso ein öffentlicher Protest dagegen und ein Verfahren, bei dem man allein vor ungefähr zehn Leuten Platz zu nehmen hatte und nicht die Spur einer Chance besaß, worüber bei jedem Klarheit herrschte. Muß ich mitteilen, daß ich damals schon geschrieben habe und unbedingt der Ansicht gewesen bin, ohne diesen Protest nicht weiterschreiben zu können, ich meine, so, wie ich seither geschrieben habe? Unser Thema an dem Abend in der MITROPA, obwohl wir uns bis dahin völlig fremd gewesen waren, war genau jener russische Schriftsteller, dessen Namen man außerhalb der eigenen Wände besser nicht laut aussprach. Wir konnten uns wohl nicht zuletzt deshalb nicht ganz aus den Augen verlieren.

Heinrich ist in Berlin nie heimisch geworden. Wahrscheinlich, ich denke sogar ziemlich sicher, hat dieser Satz einiges mit dem folgenden, wesentlich längeren Satz zu tun: Er hat eine Weile regelmäßig eine Frau namens Lisa besucht, deren Beruf man landläufig als Hure bezeichnet. Wenn er von ihr erzählt (beharrlich in seinem Dialekt), wiegt er den Kopf hin und her, wobei es dazugehört, man kann darauf warten, daß er durch seinen Bart streicht. Von Heinrich habe ich erfahren, daß viele Männer auch deshalb zu Huren gehen, um mit einer Frau sprechen zu können. Er schenkte Lisa, einer kleinen Brünetten, die sanfte Augen haben wird, wie ich annehme, und den vier anderen Frauen in dem Bordell mein Buch. Von nun an bin ich über eine weite Strecke lediglich auf den Bericht angewiesen, den mir Heinrich gegeben hat, indes verbürge ich mich dafür, daß ihm jedes einzelne Wort zu glauben ist. An einem Sonntag regnete es schon seit dem Morgen, und am Nachmittag schien der Regen eher zuzunehmen; nicht nur kein Kunde schaute herein, sondern auf der Straße zeigte sich ebenfalls niemand, nicht mal das Telefon läutete. Im Empfangsraum, in dem roter Plüsch überwiegen mag, hing neben dem obligatorischen Duft von Parfüm noch Kaffeegeruch, obwohl die Kanne schon leer war. Die Frauen hatten bereits die Zigarette zum Kaffee ausgedrückt und die nächste angesteckt, sie klapperten unlustig mit den Nadeln des Strickzeugs, machten selbst beim Kreuzworträtsel keine Fortschritte mehr, bis sie Lisas Vorschlag aufnahmen -- er muß von Lisa gekommen sein, davon bin ich überzeugt, obgleich mich Heinrich hier im unklaren läßt -- und die Bücher suchen gingen. Bald blätterten sie darin, befühlten das rauhe, fast gelbliche Papier, musterten die ganzseitigen Illustrationen, und dann fiel den Frauen ein, sich gegenseitig die Erzählungen vorzulesen: in den Sesseln hockend, die Beine angezogen, wegen des Regens möglicherweise nicht all zu leicht bekleidet. Im Hintergrund kann man sich das Geräusch denken, das durch heftigen Regen auf Fensterbleche entsteht. Irgendwann, in diesem Punkt vermag mir Heinrichs Bericht nicht weiterzuhelfen, ich kann nur mutmaßen, bei welcher Erzählung, welchem Abschnitt oder bei welchen Worten (vielleicht reichen dafür wirklich einzelne Worte aus), ich weiß auch nicht, welche Frau zuerst oder ob alle gleichzeitig -- irgendwann schließlich konnten sie nicht mehr an sich halten und begannen, ja begannen zu weinen. Es muß ein Weinen gewesen sein, das dieses Wort auch verdient und dessen sie sich nicht schämten -- hätten sie den Vorfall sonst überhaupt erwähnt? Ich sehe die Frauen vor mir, ab und an schneuzen sie in Taschentücher, die Augen gerötet wie die Nasen; vom Kaffee sind sie zu Schnaps übergegangen, zu einer harten Sorte, weshalb sie lediglich an den Gläsern nippen und sich nicht mehr als zwei genehmigen, dabei jedoch nicht aufhören zu lesen.

Nun bin ich der festen Überzeugung, daß wohl nicht nur mein Buch daran schuld gewesen sein mag, daß die Frauen ihren Tränen freien Lauf gelassen, ihr sorgfältiges Make-up vergessen haben und somit jeglichen Geschäftssinn (kein Mann, der Huren aufsucht, möchte verweinte Gesichter vorfinden) -- ohne die drückende Stimmung, die Regen an Sonntagnachmittagen zuweilen verbreitet, wäre das nie geschehen. Aber offensichtlich muß mein Buch über Wirkungen verfügen, die ich nicht im entferntesten für möglich gehalten, auch beim Schreiben nicht im Sinn gehabt habe, ganz abgesehen davon, daß sich ein Autor ebenso schwer die Wege ausrechnen kann, die sein Buch nimmt, wie auch jede Wirkung seiner Worte: einmal geschrieben, führen sie ein Eigenleben, auf das er beim besten Willen keinen Einfluß hat. (Übrigens, von meinem Buch besitze ich noch einen beträchtlichen Restposten.)

Heinrich, der nicht zurück in seine Stadt im Erzgebirge zieht, weil er sonst diejenigen träfe, sagt er, die ihn damals ins Gefängnis gebracht haben, Heinrich hat den Frauen versprochen, mich ihnen vorzustellen, was leider in Vergessenheit geraten ist. Doch ich vermute, er hat das absichtlich vergessen, er will nicht, daß ich Lisa kennenlerne, wofür ich allerdings Verständnis aufbringe. Ausgemacht ist ja nur gewesen, daß er mein Buch verschenken soll, nichts anderes, und schließlich kann man nicht jede Leserin kennenlernen, auch nicht, wenn sie klein und brünett ist und über sanfte Augen verfügt, wie ich ganz sicher annehme. Aber Lisa und ihre Kolleginnen haben nach meinem nächsten Buch gefragt -- und genau das ist es, diese Frauen, deren Beruf man Hure nennt und die in ihren freien Stunden lesen, wegen dieser Frauen hat man als Autor keine Wahl.