Glossen 30



Susanne Schädlich, Immer wieder Dezember – der Westen, die Stasi, der Onkel und ich München: Droemer-Knaur Verlag, 2009


In ihrem zweiten, stark autobiographisch gefärbten Buch Immer wieder Dezember erzählt Susanne Schädlich wesentliche Teile der Geschichte ihrer Familie, d. h. der Familie Krista und Hans Joachim Schädlichs, die im Dezember 1977 mit zwei Töchtern, der damals zwölf Jahre alten Autorin und der acht Jahre jüngeren Schwester Anna in einem altersschwachen Auto russischer Bauart, einem grünen Lada, in Richtung Hamburg aus dem „ersten Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden" ausreisen wollte und ausreisen musste. Denn nach der Unterschrift des Vaters unter die Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und der unerlaubten Veröffentlichung seines ersten Buches, Versuchte Nähe (1977) im westdeutschen Rowohlt Verlag verengte sich der Lebensraum der Familie ins Unerträgliche; es gab seitdem auch weder für die Mutter noch für den Vater berufliche Möglichkeiten in der DDR.

Immer wieder Dezember enthält auch Geschichten der Freunde und Feinde ihrer Familie. Zu ersteren gehören u. a. Lilo und Jürgen Fuchs, Sarah Kirsch, Nicolaus Born, Hans Christoph Buch, Hermann Peter Piwitt, Uwe Bremer, Albert Schindehütte, Arno Waldschmidt und Kai Hermann, überwiegend Autoren, Künstler und deren Familien aus Ost und West. Zu den Feinden gehörte ihr geliebter Onkel, Karlheinz Schädlich, der unter dem Decknamen „Schäfer“ sowohl seine Freunde als auch die Familie an die Stasi verriet, und, letztendlich vergleichbar dem ewigen Spitzel Tallhover im gleichnamigen Roman ihres Vaters, knapp 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer Selbstmord beging – er erschoss sich auf einer Parkbank im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg.

Der Verrat und Selbstmord des Onkels, der in den deutschen Medien eine außerordentliche Beachtung gefunden hatte, weil er sowohl auf den bösen Kern des monströsen Versuchs der Errichtung einer stalinistischen Utopie in der DDR als auch auf die neuralgischen Punkte deutscher Debatten nach der Wiedervereinigung von 1990 verweist, bildet auch in Immer wieder Dezember eine Art Schwerpunkt, zu dem die anderen Erzählstränge immer wieder zurückkehren. 

Vor allem aber enthält Immer wieder Dezember die sehr persönlichen Geschichten der Erzählerin selbst, ihrer „Entführung“ aus den Märchenstraßen ihrer Kindheit im Ostberliner Stadtbezirk Köpenick – die Wohnung der Eltern lag z. B. in der Rotkäppchenstraße -- und ihrer langen Suche nach einem neuen Zuhause und einer anderen Identität, zu deren temporären Ankunftsorten Hamburg, Dahlenburg, Westberlin, Düsseldorf, New York, Los Angeles und schließlich wieder der Teil Berlins gehörte, der einmal die Hauptstadt der DDR ausmachte. Niemand hat die Zwölfjährige gefragt, ob sie ihre Freunde, die Schule, ihren Bruder und dessen Familie verlassen und mit den Eltern in den Westen wollte. Niemand hat sie später gebeten, sich um den Vater zu kümmern, doch hat sie es getan, so gut es eben in einem Alter ging, in dem sie sich selbst noch nach Liebe und Geborgenheit sehnte.

„Ich fange an zu rechnen. In den sieben Jahren unserer Ausbürgerung aus der DDR hatten wir, die Mutter, die Schwester und ich, vier Jahre gemeinsam unter einem Dach verbracht. In Hamburg zwei, in Berlin zwei. Fast zwei Jahre davon war der Vater nicht bei uns gewesen und ist dann ganz ausgezogen. Eine eindeutigere Sprache als die der Zahlen gibt es nicht.“(183) Was bleibt, fasst die Erzählerin so zusammen: „Verstreut in alle Winde, unbehaust, unstet.“ (178) Besonders tragisch an dieser lakonischen Feststellung ist, dass es gerade der verräterische Onkel war, der in ihr den Eindruck erweckte, als würde ihr durch ihn das Gefühl des Unbehausten genommen, und das in einem Maße, dass sie zu glauben begann, sie hätte an ihm einen zweiten Vater.

Ironischerweise ist es eine weitere Flucht, diesmal ihre eigene nach Kalifornien, wo sie sich etwa zehn Jahre lang, zeitweise illegal, als Kellnerin und Studentin durchschlug, die es ihr ermöglichte, ein eigenes Leben aufzubauen, zu sich selbst zu kommen, ihre eigene Sprache zu finden und schließlich in ihre Geburtsstadt zurückzukehren.

Susanne Schädlich erzählt in Immer wieder Dezember natürlich ihre eigene, einmalige Geschichte, und doch gibt sie auch einer ganzen DDR-Generation eine Stimme, die unter den Nöten, Kämpfen, Kompromissen und öffentlichen Wortmeldungen ihrer Eltern nicht oder kaum zu hören war. Vergleichbar vielleicht den in öffentlichen Äußerungen von Kindern der 68iger Generation in der Bundesrepublik enthaltenen Vorwürfen an die Eltern ist die ihrem Buch immanente Frage, in der auch ein leiser Vorwurf mitschwingt: Was habt ihr mit uns getan, als ihr für eine bessere Welt geschrieben habt, auf die Straße gegangen oder verstummt seid?

Susanne Schädlichs Bericht hält Leser nicht zuletzt wegen ihrer facettenreichen Sprache in seinem Bann. Der Vielfalt der realen Orte, in die es sie durch die Entscheidungen der Eltern verschlägt oder die sie für sich entdeckt, sowie der Erinnerungsorte von Freunden und Familienmitgliedern, die sie befragt hat, entsprechen die Mannigfaltigkeit ihrer stilistischen Mittel. Von eher ruhig fließenden Sätzen, die z. B. ihre Nachbarschaft in Los Angeles oder die Wohnung von „Großmama“ in Jena beschreiben, bis zu stark verknappten Sätzen, die die innere Aufgewühltheit der Erzählerin widerspiegeln, sowie Dialoge und Briefzeilen reicht das Spektrum. Dazu kommen die kalte, unfreiwillig komische und teilweise fehlerhafte Sprache der Spitzelberichte und stilistische Zitate aus Texten des Vaters, z. B. aus seiner kurzen Erzählung „Fritz“, dem damit ihre Reverenz erwiesen wird.

Manchmal aber versagt der Erzählerin die Sprache; sie verstummt, bricht einen Gedanken ab oder wechselt das Thema, was sowohl auf das Verstummen verweisen als es auch überbrücken will. Alles ist eben nicht sagbar. Auch jetzt noch nicht. Aber vielleicht und hoffentlich gibt es ja ein weiteres Buch, eines dessen Schwerpunkt in ihren schwierigen aber letztlich befreienden Erfahrungen an der amerikanischen Westküste liegt.

Wolfgang Müller