glossen: interview


  "Ich bin nicht in allem ein orthodoxer Freudianer." — Franz Fühmann im Gespräch mit Berliner Lehrerinnen und Lehrern.

Im Anschluß an seine Lesung bis dahin unveröffentlichter "Traumstücke" am 4. Juni 1984, sprach der schon vom Tode gezeichnete Franz Fühmann mit den Zuhörern über die Texte. Den Veranstaltungsrahmen bildete ein Lehrerfortbildungskurs des Pädagogischen Zentrums (PZ) über "DDR-Literatur seit Beginn der 70er Jahre". Die Leitung des Gespräches hatte Heinz Blumensath.

Blumensath (B), PZ: Zweierlei: Mich würde einmal interessieren das Verhältnis des Rohmaterials, also Ihrer Traumnotizen, wie es dann zu diesen ausgefeilten, symmetrischen Texten kommt. Das betrifft für mich insbesondere die eher lustigen, doch auch ein Lachen, das dann aber wieder im Hals steckenbleibt, provozierenden Texte. Und das zweite: Ich erinnere mich, daß Sie einmal sagten, Sie arbeiteten an einem Buch über Ihre Arbeit, über sich, und für dieses Buch und für dieses Schreiben sei das Bergwerksmotiv zentral. Sind das schon Texte aus dieser Arbeit?

Franz Fühmann (F.F.): Ja, zur ersten Frage, da kann ich Ihnen nur sagen: durch eine unendlich mühsame Arbeit. Viel weiß ich auch nicht. Ich weiß wenigstens aus meiner Erfahrung, daß sich dieses Rohmaterial in einer widerwärtigen Weise dagegen sperrt, literarische Formen anzunehmen. Woran das liegt, weiß ich auch nicht. Diese Stücke kosten unendliche Arbeit. Sie sind im Grunde genommen nie fertig. Bei jedem Lesen entdecke ich immer wieder Stellen, die nicht gehen. Woran das liegt, weiß ich auch nicht. Aus diesen 500, 600 hatte ich wirklich Mühe, für dieses Bändchen [1] da dreizehn Stück zustande zu bringen. Das andere: Das war ein Jahr lang intensiver Arbeit mit dem Ergebnis, daß es gestorben ist. Es liegt da unten im Papierkorb. Ich habe in der letzten Zeit eine fürchterliche Ausschußproduktion. Das ist gräßlich! Es sind ungefähr 150 Seiten fertig, dann habe ich es einigen Kollegen gegeben und meiner Lektorin zuerst, meiner Lektorin bei Hinstorff-Verlag, einem Lektor bei Hoffmann & Campe, dann meinem Freund Rolf Hauffs z. B. Das Urteil war eigentlich ziemlich einmütig: Vom Material her etwas, was jammerschade ist, weil ich wahrscheinlich der einzige bin, der diese Erfahrung hat. Denn ich habe ja wirklich praktische Erfahrung. Ich habe ja wochen-, monatelang Schicht gefahren. Aber so wie es ist, ist es nun auch mehr Rohmaterial, zum anderen: Ich habe mir etwas Falsches vorgenommen. Ich wollte das ganze theoretische Gebäude, die ganze theoretische Ästhetikideologie wollte ich umrennen. Ich wollte da durch diese Tür - das war alles mal in meinem Leben furchtbar versperrt - ich habe bei jeder Tür ungeheuer viel Lebenssubstanz und Kraft geben müssen, um die aufbrechen zu müssen. Jetzt bin ich durch das ganze Ding durch und sehe das eigentlich näher. Ich bin jetzt durch, und jetzt versuche ich das im Nachhinein irgendwie zu rekonstruieren und spüre keinen Widerstand. Ich baue mir Türen auf, durch die ich durch bin, um sie dann gewaltig einzurennen, und das mißlingt auf eine groteske Weise. Das Ding ist also mißlungen. Natürlich wehrt man sich, zuerst. Das ist so ein Stapel Material: Tagebücher, Notizbücher, ich weiß nicht was alles. Übrigbleiben werden - so dachte ich mir - Stoffe für Geschichten und eine sollte eben die sein, doch die ist auch mißlungen. Irgendwie haftet ein Fluch dadrauf. Also Hermes hat das verflucht. Es wird nichts mit dem Ding. Ich kann auch keinen Roman schreiben. Ich habe überhaupt keine Erfahrung. An zwei, drei Seiten solcher Texte arbeite ich drei bis vier Wochen dran. Die Vorstellung, also 800 bis 1000 Seiten zu schreiben, ist von einer solchen Abstrusität, daß man sich's nicht vorstellen kann. Ich habe es dann endgültig weggepackt, falls sich die Germanisten, die Nachwelt Zeit und Lust und nichts anderes zu tun hat, falls sie überhaupt noch da ist, sich dafür interessiert. Für mich ist's erledigt. Man muß dann radikal Schluß machen, auch nicht dann mehr Stoff herausnehmen. Es tut mir auch immer leid, wenn ich daran denke. Ich habe wahrscheinlich früher viel zu viel darüber gesprochen. Das war Quatsch, es war tot. Na, da kann man nichts machen!

Lehrer(L): Können sie uns noch ein paar Worte sagen über Ihren Science-fiction-Roman oder -Erzählung?

F.F.: Nein, das ist kein Roman. Ich hatte mal eine Geschichte geschrieben, und ich kann auch sagen, wo das war, in der Tschechoslowakei. Es liegt ziemlich zurück in den siebziger Jahren. Ich habe da mal einen Freund besucht, mit dem ich viele Nachdichtungen aus dem Tschechischen gemacht habe, meinen Freund Ludwig Kundera. Er ist nicht jener Milan Kundera, doch er muß dafür büßen, daß er Kundera heißt. Er ist an für sich ganz harmlos, ein völlig unpolitischer Mensch, der Chefdramaturg vom Brünner Theater gewesen ist, dem man in einer ganz dummen und grauslichen Weise mitgespielt hat und über den Sanktionen verhängt worden sind, aus heiterem Himmel, um nichts, das ist eine lächerliche Geschichte, die tief ins Existentielle gingen. Seine Tochter war schwer krank und bekam das bestimmte Medikament nicht, das sie kriegen mußte, das da auch war, was sie aber nie gekriegt hat, weil sie so hieß. Ich empfand diese furchtbare Ohnmacht, eine Entwicklung zu sehen, die so völlig blöde ist und so völlig sinnlos, die keinem nützt, niemandem. Man steht da und kann nichts machen! Natürlich helfen kann man immer, doch man kann das Große nicht aufhalten, man kann dann ein bißl Wasser auf den heißen Stein gießen. Ich habe irgend etwas gesucht, um dieser Ohnmacht nicht zu erliegen, um sie einfach im Schreiben zu sublimieren, und da stand in einer Zeitung eine Meldung, daß es der Physik gelungen ist, irgendwo im Bereich der winzigsten Zeit, der Mikro-Mikro-Mikrozeit, daß da die Kausalität gewissermaßen umschwappt und die Zukunft in die Gegenwart schlägt, daß also - was weiß ich - eine Nano-Sekunde oder wie das heißt, also unvorstellbare Zeitspannen, Späteres ins Frühere umkippt. Das war der Aufhänger für eine Geschichte. Ich habe es in einer Science-fiction-Weise aufgeblasen und dachte, einer hat jetzt so ein Ding und kann das Ding bis zu fünf Minuten dehnen. Er kann also sehen fünf Minuten, real, was sich ereignen wird, d.h. ja das, was unabänderlich ist. Man kann nichts machen, und er sieht, da fällt ein Kind aus dem Fenster. Er weiß, da spielt ein Kind, das sieht aus dem Fenster. Es passiert in fünf Minuten. Es ist herrenlos. Da ist eine unbeaufsichtigte Wohnung, das Fenster ist offen. Da ist ein Kind, das krabbelt raus, und jetzt fällt es runter. So. Das passiert aber erst in fünf Minuten. Fällt es nun runter? Kann man nichts machen? Ist es unausweichlich? Er fängt jetzt an zu rennen. Und dann kommt natürlich eine Straßenbahn, und er steht da. Dann ist die Straße aufgerissen. Dann kommt eine Demonstration. Am Schluß bleibt es offen, doch es ist ziemlich klar. Diese Geschichte heißt "Die Ohnmacht". Da hatte ich eine komische Figurenkonstellation. Da hatte ich drei Figuren. Das spielte in so einem Wissenschaftslaboratorium in einer Science-Fiction-Zukunft und mit einer ungeheuren Arbeitsteilung. Ich hatte da zwei Philosophen und einen Physiker. Jeder hatte sich auf ein winziges Teilgebiet spezialisiert. Der Physiker ist Neutrinologe. Die Neutrinos sind ja bekanntlich nicht nachweisbar. Er beschäftigt sich damit sein Leben lang, die nicht nachweisbaren Neutrinos nicht nachweisen zu können. Da er sie nicht nachweisen kann, wird es ein ungeheurer Triumph der Wissenschaft seines Vaterlandes. Das ist so! Da wollte ich eine Zukunft, wie ich sie mir so vorstelle, wie das berühmte Jahr 2000 aussieht: Man wird Gedanken lesen können, stelle ich mir vor, aber man wird es nicht können, weil man dazu irgendwelche Drähte mit Schrauben festziehen muß, aber wir haben die Schrauben nicht, die gibt's im Augenblick nicht. Also kann man nicht Gedanken lesen. So, ja?! Dann hatte ich diese - das war ganz lustig, bevor es ganz schauerlich ernst war. Da hatte ich einfach diese Personengruppe und dachte, das trägt noch auch mehr. Das trug dann auch mehr, und es wurde dann ein Zyklus. Es ist ein Allerweltsschema, wie es sich anbietet. Da ist die Zukunft nach irgendeiner Zeit, nach einem Atomkrieg, und die Welt ist in zwei Teile geteilt. So ein übliches Schema. Es sollte eigentlich, aber das ist mißlungen, die Frage werden, was geschieht auf dieser Welt, wenn von diesen beiden Hälften, die nun mal da sind, sich jeweils das Negative durchsetzt. Wenn dann eine Art Einheitswelt kommt im negativen Sinne. Es spricht doch einiges dafür, daß es so läuft. Der Sozialismus hat ja einiges; und wenn sich das so zusammenfindet. Darauf sollte das zielen, und bei uns wird es in erster Linie verstanden durch die Erfahrungen, in denen sich vor allem die jungen Leute bei uns bewegen. Sie erkennen in den Geschichten Verschiedenes bei sich wieder. Es geht so von Hand zu Hand. Es ist aber ganz legal. Zu meinem großen Erstaunen ist es erschienen. [2] Hier [d.h.: in der Bundesrepublik] will es kein Mensch haben! Es gilt als zu kompliziert und unverständlich. Zum Titel vielleicht noch: Um zu warnen, daß es keine Science-fiction ist, so ernste, daß so wirklich die Zukunft ist, daß also hinter dem Milchstraßensystem ein Superspiralnebelsystem...also...Dahinter ist dann wieder eins, und dort spielt es dann und es ist genau wie hier. Aber bei mir sind es mehr oder weniger Alltagsgeschichten, und deshalb habe ich es, um es unmißverständlich zu machen, um keine falschen Erwartungen zu wecken, "Säienzfiktschen" genannt. Das traf sich so gut.

L.: Mich würde zu einer Geschichte interessieren: Warum ist der Krieg eine Frau?

F F.: Zuerst einmal: Ich habe den Traum so geträumt. Dann hatte das, war das tatsächlich eine reale Geschichte Ich übersetze mit Hilfe von tschechischen Freunden - ich spreche etwas tschechisch, ich bilde mir nichts darauf ein, es ist miserabel genug. Ich habe viel übersetzt von einem Mann, den ich für den bedeutendsten modernen tschechischen Lyriker halte. Der heißt Frantisek Hallas. Da ist mir ein sehr schönes Gedicht in die Hände gefallen, das hieß: "Guten Tag, Brünn". Und das fängt so mit folgenden wörtlichen Zeilen an:

"Sie ist rostig und rauchdreckig gewesen. Sie hat schrecklich gebrüllt und als sie weg war, dann haben die Leute vor Freude gesungen."

Die Frage ist, wer ist das, "sie"? So. Das Gedicht ist an und für sich ein Liebesgedicht. Es ist ein Liebesgedicht an seine Stadt, an Brünn. Er ist dann nach Prag gezogen wieder in Ministerium. Das Prag hat er gehaßt. Er wollte wieder nach Brünn zurück. Dann spielte seine erste Liebe damit rein. Und jetzt, auf wen bezieht sich dieses "sie"? Dann haben wir gerätselt und gerätselt. Dann habe ich andere gefragt. Ich kam nicht drauf. Die Stadt Brünn ist eindeutig sächlich, Brno! Das Tschechische hat wie das Deutsche drei Geschlechter: männlich, weiblich und sächlich. Brno ist sächlich. Miesto die Stadt ist auch sächlich. Verkleinerungsformen Brünnchen, Städtchen und so sind alle sind sächlich. Was uns auch eingefallen ist, und was wir mit dem Gedicht angeboten haben, es war nichts zu wollen. Es kam kein "sie" heraus. Während hier die Endungen - das ist ja wie in den slawischen Sprachen so auch im Tschechischen, ist es ganz eindeutig. Es war eindeutig ein "a" hinten dran. Es war eine weibliche Endung. Es bezog sich auf eine "sie". Wer ist diese "sie"? Es ist nicht herauszukriegen gewesen! Dann habe ich andere Übersetzungen nachgeschlagen - das Gedicht ist zweimal übersetzt worden. Einmal hat der sich sehr elegant gerettet. Er wußte es auch nicht, der er übersetzt hat, und hat es in die zweite Form als Anrede genommen: "Du bist ja rostig und rauchig gewesen". Und der Leser soll sich kümmern! Wer dieses Du ist. Die Jugendliebe schwer vorstellbar, daß also ein junges zwölfjähriges Mädchen oder ein achtjähriges Mädchen rostig und rauchig ist und warum singen die Leute, wenn sie vorbeigegangen ist? Die zweite Übersetzung hat sich auch so drumherumgewunden, und dann kamen wir drauf. Das ´sie" ist die Krieg. Im Tschechischen heißt es "Valka", ist weiblich wie im französischen "la guerre". Die Krieg ist im Tschechischen wie in den slawischen Sprachen eine Frau. Es gibt doch das berühmte Bild von Rousseau "La Guerre"; da ist ein wildes apokalyptisches Pferd, wo eine sehr junge Frau mit fliegendem Haar drauf sitzt. Und davon mag das also gekommen sein. Es gab da bei einem anderen Gedicht, auch von Hallas, einem großartigen Gedicht, gab es auch eine unübersetzbare Stelle. Das Gedicht heißt "Sentenzen". Es ist eine lockere Szene, es ist ein Gedicht von erotischen Begegnungen. Der Mann und die Frau. Ganz kurz wie in einem Film ruckt das vorbei, und es spielt auch in einem Kino. Immer ganz kurz und jedesmal ist eine Frau im Mittelpunkt. Ganz am Schluß da geht er ins Kino, und da weist ihm eine Frau den Platz an. Aber ganz vorne. Und das ist eine unübersetzbare Stelle im Tschechischen. Ich weiß jetzt nicht, was Platzanweiserin im Tschechischen heißt. Dann ist es die Platzanweiserin "Smyrt". Und "Smyrt" ist die Tod, "Ta smyrt" ist auch weiblich. Das ist die letzte Frau, die ihn umarmt. Im Deutschen ist der Tod ja ein Mann, und der Totentanz ist dann der Tanz mit diesem Tänzer Mann. In den slawischen Sprachen ist der Tod eine Frau. Und das Todeserlebnis ist für den Mann dann auch das letzte erotische Erlebnis, diese große letzte Umarmung mit "Ta Smyrt", mit "die Tod". Das ist unübersetzbar. Der Traum war dann auch so, was nichts besagt. Er ist außerdem einer von den schwächsten, dieses kleinen Stückes. - Ich hänge nicht sehr daran, aber es ist im Augenblick so, daß ich an dieser Stelle etwas brauche.

L.: Sie haben sehr viele Geschichten, die vom Träumen handeln. Können Sie mal erklären? Sind das wirklich ihre realen Träume oder verarbeiten Sie sie, und welche Funktion hat der Traum bei Ihnen?

F.F.: In meinem Leben hat er eine riesige Funktion. Ich träume sehr viel. Ich erfahre es auf der anderen Seite z.B. aus dem Elend, also meine Frau, die unglücklich ist, weil sie manchmal 6, 8, 10 Wochen nichts träumt. Träumen tut jeder Mensch, doch sie erinnert sich nicht daran. Sie ist unglücklich und beneidet mich immer und sagt: Wenn ich mich doch nur erinnern könnte! - Für mich spielt der Traum eine riesige Rolle. Wie es zur Literatur gekommen ist? Ich bin in den ersten neun oder zehn Jahren während meines DDR-Daseins nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, 1950, in einem politischen Gremium einer Block-Partei gesessen, aus dem ich dann 1958 rausgeflogen bin. Es war eine Gesellschaft, in der damals die Ver- und Mißachtung der Psychologie gang und gäbe war. Das also aller Orten geherrscht hat, und das auf eine besonders scheußliche Weise zum Ausdruck kam. Der Traum, von der Psychoanalyse gar nicht zu reden, galt als konterrevolutionärer Blödsinn. Die Bourgeoisie, die will uns einreden, nicht, da soll etwas zu bedeuten haben. . . das war einfach aus Trotz. Ich wußte es anders. Da habe ich fast jede Geschichte wegen der blöden Affen, die mich ärgerten, als Traum bezeichnet. Da fand ich heraus, daß Sie im Traum literarisch manches ausdrücken können, was Sie sonst auf keine Weise ausdrücken können. Sie haben ein bestimmtes Alltagserlebnis. Im Traum kommt die Korrektur, die kann nur da kommen. Etwas in Ihnen weiß es besser. Das meldet sich dann in der Nacht. Das ist dann da. Sie werden mit Wünschen oder Abgründen konfrontiert, die Sie am Tag vor sich zudecken; und in der Nacht sind sie da. Da sehen Sie es, ja. Deswegen!

L.: Ich habe heute im Kollegium im Lehrerzimmer gesessen und habe gesagt Ich gehe heute nachmittag zu Franz Fühmann. Will noch jemand mitkommen? Da sagte ein Kollege: Ach, das ist doch der Autor, der der Romantiker der DDR ist. Da sagte ich: Nanu, das habe ich doch noch nie gehört, diese Kennzeichnung. Das blieb mir aber hängen. Als Sie jetzt die Geschichte lasen vom "Wassertheater", wie der Tod neben Ihnen in der Gondel sitzt und Sie ein Glücksgefühl empfinden, da kommen Stichworte, die für mich negativ sind, die Sie ganz positiv nehmen: Einsamkeit und Tod. Da fiel mir wieder das Stichwort von der Romantik ein, die ja auch den Tod sehr positiv sieht. Aber vielleicht interpretieren Sie das ganz anders. Darüber wollte ich Sie befragen.

F.F.: Nein, nein, das ist schon im wesentlichen so. Mit der Romantik ging es mir zu Hause ähnlich wie mit Träumen. Die war ja auch dank Georg Lukacs, der eine verheerende Rolle in dieser Hinsicht gespielt hat, war sie also in Acht und Bann getan, mit ganz konkreten Auswirkungen. Die einzige Ausnahme, die er zuließ, war ja E.T.A. Hoffmann. In einer solchen Gesellschaft, die Ideologie als Machtinstrument benutzt, gibt es dann Folgen. Es gab die berühmte Geschichte, daß ein Intendant abgesetzt wurde, weil er den "Prinzen von Homburg" inszenierte und so. Ich hatte dann also immer eine Lanze für die Romantik gebrochen.- Ich bin auf der einen Seite von der Romantik, ganz sicherlich von Novalis und den "Hymnen an die Nacht" und auch von E.T.A. Hoffmann und so, zu der Frage des Todes gekommen und dann von der Psychoanalyse her, von Freud. Ich habe jetzt ein Bändchen Freud - das ist mir nach 6 oder 7 Jahren Kampf gelungen bei einem Verlag von uns - herausgebracht, das ja dahin ein völliges Tabu war. Das hat eine ungeheure Welle ausgelöst. Man muß nur mal einen Durchbruch machen. Jeder Verlag bringt jetzt Freud, Aufbau bringt Freud und Kiepenheuer, der Insel-Verlag und Reklam bringt Freud. Ja, da auf einmal schießt's. Doch bevor man das Loch durch den Berg mal durch hat! Ich bin nicht in allem ein orthodoxer Freudianer. Er hat doch die Theorie vom Todestrieb ausgebaut, die die meisten Freudanhänger nicht mit nachvollziehen. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Ich glaube, daß es ein verhängnisvoller Zug in der modernen Gesellschaft ist, diesen Fragen auszuweichen, nicht, dieses Abschieben des Sterbenden, den Tod nicht wahrhaben wollen. Er kommt dann nur weg von zu Hause. Bloß um Gottes willen nicht! Zu Hause wird nicht mehr geboren. Darüber kann man befinden. Vielleicht, ich weiß das nicht, das müssen die Frauen entscheiden, ist eine gebärende Frau in einem Kreißsaal oder in den Händen von Ärzten besser aufgehoben — ganz sicherlich nicht in den meisten dieser Kreißsäle, wo das Baby sofort weggenommen, gemessen und gewogen wird. Ich glaube, das gehört, daher (zeigt auf die Brust). Der Sterbende, auf jeden Fall, der gehört nach Hause. Ich lag ja selber in dem Todesloch. Ich lag vier Wochen in der Intensivstation. Ich hatte einen Ileus. Ich wohne draußen im Wald, und habe mich in die Charité geschleppt. Ich bin operiert worden. Nach fünf Tagen kam die zweite Operation, weil der Post-Ileus kam. Am 5. Tag brauchen Sie die größte Kraftreserve. Da hat man mich aufgegeben. Da hat man mich für tot erklärt, d.h. vorsorglich. Man hatte der Obrigkeit mitgeteilt, daß ich nach menschlichem Ermessen nicht mehr rauskommen werde. In dieser Nacht nach dieser Operation, war ich schon mit einem Fuß drüben! Da hatte ich wirklich ein Erlebnis, da stand ich auf der Kippe. Dann besiegte ich eine ausgewachsene Blutvergiftung durch irgendeinen ganz seltenen Pilz, den sie nicht finden konnten. Dann lag ich über drei Wochen jeden Tag über 41 Grad Fieber. Dann haben sie mich wieder ins Eiswasser geworfen. Dann sauste es wieder runter auf 35 Grad. Dann habe ich wieder geklappert. Dann haben sie mich unter den Lichtbügel gelegt. Dann schoß es wieder auf 41 Grad in die Höhe. So ging das drei Wochen lang. Da war ich sehr intensiv mit dem Meister. Und immer wenn ich in der Charité bin, hänge ich mir ein Bild hin von Grießhaber aus dem "Totentanz". Eine fürchterliche kahle Wand ist das, eine gräßliche, kahle Fläche und da, wo ich hinschaue und wohin ich mich lege, an meinem Stückchen Wand, da hänge ich mir immer den Meister aus dem Holzschnitt von Grießhaber hin. Ich muß zu einer existenziellen Beziehung zu ihm kommen. Er war oft genug da. Und von da kommt das auch. Es gibt auch so diese Momente, wo Sie wirklich daliegen, wenn Sie die Kraft noch dazu haben, und dann überlegen, ob Sie die nächste Stunde noch erleben. Dann fängt man an zu denken, würdest Du es anders machen, was würdest Du anders machen? Da bekommt man ganz konzentrierte und tiefe Einsichten, und manchmal spürt man schon die Hand dadrauf. Dann ist auch das Leben viel schöner. Wenn Sie nach vier Wochen aus diesem Todesloch nur mit künstlichem Licht, nur am Tropf, nur unter Sauerstoff und so kommen, dann hat das Leben wieder ganz andere Seiten. Also das ist schon eine Dimension im Leben - man verarmt sich, wenn man die rausnimmt. Die Familie verarmt, wenn man das rausnimmt. Am unglücklichsten ist dieser arme Teufel da, den sie denn da abschieben: hinter Kacheln und schön sauber - und da stirb dann! Also deswegen! - Ja, zwei Fragen gehen noch.

L.: Da Sie schon Grießhaber erwähnten, würde ich mal fragen, welche Beziehung Sie zu bildenden Künstlern haben. Ich könnte mir vorstellen, daß es so einige Epochen in der bildenden Kunst gibt, die Sie sehr beeindrucken, vielleicht die Surrealisten, vielleicht auch die symbolistische Malerei des vorigen Jahrhunderts?

F.F.: Ja, ganz sicherlich, all das, was phantastische Kunst ist. Naive Kunst nicht so sehr, aber diese Realisten, die Symbolisten, die Manieristen, natürlich. Gerade dann so einzelne. Ich habe mit einigen Künstlern, vor allem mit dem Wieland Förster bei uns eine sehr tiefe, doch weit in die Arbeit hineingehende Freundschaft. Und die mit Grießhaber, die hat sich einfach ergeben. Wir stießen aufeinander, das war in Rostock am Meer. Jetzt könnte ich wieder einige Anekdoten erzählen. Es entwickelte sich dann etwas, was sehr selten ist, nämlich eine nicht kitschige und wirklich also Bestand habende Männerfreundschaft, die dann dahin führte - ich weiß nicht, ob das Ihnen ein Begriff ist - "Der Engel der Geschichte", das ist seine Hauszeitschrift, die er gemacht hatte. Die letzte Nummer habe ich für ihn dann zu Ende gemacht. Da starb er darüber. Das ist der letzte "Engel der Geschichte". Da verband mich eine sehr tiefe Freundschaft.

L.: So im Sinne von Geben und Nehmen?

F.F.: Nein, von mir aus sicherlich sehr viel mehr Geben. Er gab sehr viel, er gab sehr gern. Er hatte die für mich unersetzbare Erfahrung des aktiven Antifaschisten. Die für mich unersetzbar ist, und die ich eben nicht habe. Er war es, er ist es gewesen - er hat großartige Geschichten gemacht! Er hat wirklich mit bildender Kunst Widerstand geleistet, und auch in persönlichen Sachen, da hat er wahnsinnige Geschichten gemacht., z.B. in Grafeneck, da unten in seiner Gegend in Schwaben, das war ja die erste Anstalt, wo die Morde auch an Zigeunern stattfanden. Auch die Zigeuner, die Sinti und die Roma haben es endlich errungen, daß sie als Opfer des Faschismus im Prozeß des Anerkanntwerdens sind. Es gibt eine einzige Gruppe, die völlig herausgefallen ist, das sind die geistig Behinderten, die auch von den Nazis zu Tausenden ermordet wurden. Die ersten Vergasungen geschahen an den Menschen, und die geschahen eben in Grafeneck. Er hat als Soldat eine zur Vergasung vorgesehene schizophrene Frau dadurch bewahrt, daß er sie als Soldat geheiratet hat, ohne jede Liebe, ohne alles, und er hat sich in Uniform vor ihre Tür gesetzt. Sie ist nicht in den Gaswagen gekommen. Das sind natürlich Sachen, Erfahrungen, wo er nur gibt. Wenn man vor einem solchen Leben steht, da kann man nichts anderes sein als nur dankbarer Zuhörer, wenn er solche Sachen erzählt. Ich habe ihm ein bißchen was geben können, sicher ja, aber in ungleichem Maße war er der Gebende.

B.: Bei uns sind Sie es, und dafür möchten wir Ihnen ganz herzlich danken.

Anmerkungen

[1] Fühmann bezieht sich offensichtlich auf einen damals von dem Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg, geplanten Band seiner "Traumstücke" mit Grafiken von Nuria Quevedo. Der Band ist inzwischen erschienen.

[2] 1987 ist im Hinstorff-Verlag, Rostock, bereits die dritte Auflage erschienen.



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