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  Jochen Gerz:.

Rede an die Jury des Denkmals für die ermordeten Juden Europas (14.11.1997)

Ich danke Ihnen für die Gelegenheit, meine Arbeit zu erläutern. Ich bin mir bewußt, daß ich kein traditionelles Kunstwerk, keine Skulptur und auch keine Museums-Installation im Außenraum vorschlage. Ich weiß auch, daß ich Ihnen zumute, den Rahmen der ästhetischen Erfahrung zu verlassen und sich auf etwas einzulassen, das in der Kunst bisher eine untergeordnete Rolle spielt: Zeit.

Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich habe Erfahrungen gemacht mit Arbeiten, die, was das Thema betrifft, vergleichbar sind: Das Mahnmal gegen Faschismus von Harburg (1986, gemeinsam mit Esther Shalev-Gerz), 2146 Steine - Mahnmal gegen Rassismus von Saarbrücken (1993) und Le Monument Vivant de Biron (1996). Alle drei Arbeiten gehören zu einem neuen Typus von Denkmälern, die die traditionell angestrebte kurze Betroffenheit des Betrachters ersetzt durch seine bleibende Mitautorenschaft und Mitverantwortung.

Eine visuelle Thematisierung der Shoah ist in keiner dieser Arbeiten zu finden, denn man hat mir immer wieder von jüdischer Seite gesagt, daß es keine Erklärung oder Darstellung davon geben kann. Der Skandal sei der Skandal und würde durch die Darstellung nur relativiert. Jede dieser Arbeiten hat unser Verhalten zum Thema. Jede ist ganz und gar öffentlich, jede existiert vor Ort und anderswo. Keine leidet an dem traditionellen Denkmal-Syndrom, das Musil 1936 so beschrieb: "Das Auffallendste an Denkmälern ist, daß sie niemand bemerkt". Die Auffälligkeit des Vergessens wird bei einem Platz von der Größe des geplanten Denkmals in Berlin zur nationalen Kalamität, zu einer dauerhaften Bestrafung derer, die dafür gestritten haben. Das traditionelle Denkmal verfehlt die Menschen. Es hält Menschen für Untertanen, für Beiwerk. Es ist ein Paradox und produziert deshalb Vergessen. Denn die Orte der Erinnerung sind Menschen, nicht Denkmäler. Ich bitte Sie, wo wir schon am Ende unseres Jahrhunderts stehen und hier etwas Neues entsteht: unterschätzen Sie nicht die Qualität des Betrachters, vergessen Sie nicht die heutigen Menschen.

Daß Menschen aus vielen Ländern und Kontinenten das Denkmal aus Deutschland erwarten und es aufsuchen werden, mit einer unbestimmten, ängstlichen, jedenfalls großen Erwartung, steht außer Frage. Zu fragen ist: Was werden sie dort finden, was werden sie tun, was hinterlassen können? Was wollen wir ihnen sagen? Und was können sie uns zeigen?

Seitdem über die Shoah gesprochen wird, werden auch ihre Konsequenzen für die Kunst diskutiert, Adorno ist da das bekannteste Beispiel. Obwohl es inzwischen weitgehend einen Konsensus darüber gibt, daß mit Hilfe des traditionellen Kunstbegriffs - sei es dem Tafelbild, der Skulptur - eine solche Arbeit nicht zu leisten ist, bleibt die Versuchung gerade deshalb so groß. Der erdrückende Gegenstand paralysiert die Darstellung und zugleich läßt sie die unverbesserliche Hoffnung immer wieder aufleuchten, daß die Tradition die Gegenwart beinhalten könne. Auschwitz hat fast alles erschüttert um uns und in uns, doch die Kunst bleibt die Kunst.

Hier nun was mir bei der Arbeit durch den Kopf ging, was mich bewegt hat, diesen Vorschlag - trotz aller Zweifel an mir selbst und ehrlich gesagt auch an Ihnen - zu machen:

Die Frage

Wenn man alles beiseite schiebt, wenn man alles vergißt, sich befreien kann von allem was man weiß und kennt von der Shoah, kommt man zu sich selbst, zu einer Frage an sich selbst: Warum ist es geschehen? (Why did it happen?). Diese Frage ist die gleiche für Menschen unterschiedlicher Erziehung, Herkunft, Nationalität, unterschiedlichen Alters und Geschlechts. Es ist auch die gleiche Frage für die Erben der Opfer und der Täter. Niemand wird sie beantworten und gerade deshalb ist sie zur Frage schlechthin geworden, gerade deshalb muß sie stehen bleiben und das geschieht, dieses Stehenbleiben der Frage, dank der Millionen Antworten, die sie in der Arbeit finden wird. Gerade darum ist diese Arbeit auch als ein immer neuer Versuch, ein vergebliches Anrennen und immer neues Versprechen für mich schlußendlich denkbar und auch machbar geworden.

Die zeitliche Achse

Die überraschende Vorgabe des Raums, die mutige Dimension, ja Maßlosigkeit des Platzes kann nur beantwortet werden durch die Equivalenz der Zeit. Raum und Standort alleine können der Referenz Speer nicht entgehen. Nur die Zeit gibt dem Zweifel und der immer neuen Entscheidung für die Herausforderung einen Platz im Werk selbst Nur die Zeit gibt Erinnerung und Vergessen wieder und unsere eigene Angst vor dem Ende. Nur sie gibt dem Engel der Mimesis den zweiten Flügel zurück, ohne den er nicht fliegt. Sie läßt das Denkmal zum Versprechen werden, das der Gegenwart und der Zukunft gegeben wird, nicht zum immer wieder zu Recht befürchteten Sargdeckel, der auf der Geschichte zuklappt. Für diese Geschichte gibt es keinen Sargdeckel. Nur die Zeit ist das Messer, das die Wunde offenhält und macht, daß diese Arbeit, auch nach der Einweihung, eine immer zu Leistende bleibt. Die Arbeit ist kein Ende, sie ist ein zeitliches Plenum und ihre Zeitlichkeit ist auch das einzige Mittel gegen die übermächtige Gewalt ihrer Bedeutung, die jeden Versuch zum Denkmal kastriert.

Die Menschen

Es wäre eine unglückliche Antwort auf die Geschichte, wenn gerade diese Stelle den Besuchern die eigene Leistung verweigerte. Die "zentrale" Arbeit kann nur der eigene Beitrag, die Antwort sein. Niemand kann das stellvertretend tun für den Besucher des Berliner Denkmals, kein Künstler, Politiker, kein Auslober. Die menschliche Emotionalität ist keine Statue. Die Menschen im Ausland wissen dank der Shoah mehr über uns als wir über sie. Wer will von Berlin aus den Menschen in aller Weit sagen, was sie bewegt? Wir haben da die allerschlechtesten Karten. Ich muß deshalb den Platz leer und offenhalten für die Besucher, deshalb heißt das Gebäude Das Ohr. Unsere Haltung kann nur die der Bescheidenheit sein, des Zuhörens, des Platz-Machens für den Beitrag der Anderen. Es wird ein Platz sein, an dem Niemand sich selbst liest, aber jeder wird das suchen und sich vertiefen können in das, was Andere geschrieben haben. Dieser Beitrag der Anderen ist ein Vertrauensbeweis in uns und Andere - für viele Besucher ein Anfang, ein erstes Mal. Ein Schritt der Anderen, für den ich dankbar wäre, für mich selbst, meine Generation, aber mehr noch für die Kinder in Deutschland. Es geht bei der Arbeit nicht darum, etwas zu denunzieren oder darum, späte Tränen zu vergießen. Es geht darum, an der totesten Stelle der Welt, die hier ist, nicht in Auschwitz, zu säen. Mit Hilfe von Menschen, die von überall herkommen. Denn die Schuld der einen ist heute nicht mehr die Unschuld der Anderen. Wir alle haben mit dieser Erinnerung zu tun und ihren selbstzerstörerischen Folgen. Der Platz muß ein gesätes Feld sein, mit Körnern in allen Sprachen. Die Jahreszeit der Saat ist so lang wie die Vernichtung groß war, die ihr vorausging. Das haben die Auslober so gewollt, als sie diesen unübersehbaren Platz in Berlin für das Denkmal freigaben und so habe ich den Auftrag verstanden.

Das historische Vorbild von Interaktivität ist die Demokratie. Wie in der Demokratie gibt es in dieser Vorstellung von Kunst den Betrachter eigentlich nicht, es sei denn als einen Teil des Werks. Alles ist zu kurz gedacht und - mit Zögern hier ausgesprochen - zu anekdotisch, wenn das Denkmal nicht ein Halt für die Demokratie wird. Die Geschichte der radikalsten, nicht zuletzt auch kulturellen Entmündigung kann nur beantwortet werden mit der Zurückgabe und mit dem Wiederfinden der eigenen Stimme, der eigenen Spur - im Kunstwerk selbst.

Ich sehe kein anderes Kunstwerk, das schon vor seinem Entstehen so erwartet, diskutiert, befürchtet, gewollt, kritisiert und immer wieder in Frage gestellt wurde wie das Denkmal von Berlin. Kein anderer Auftrag wird national, aber vielleicht mehr noch international, intensiver diskutiert seit Jahren, ist Gegenstand von so hervorragendem Diskurs, wie dieser.

Im Zentrum des Empfindens vor der organisierbaren Auslöschung des Lebens steht für den Besucher der Schrecken der Ohnmacht im eigenen Leben. Diesem Schrecken vor der Wiederholbarkeit des Einmaligen kann nicht der traditionelle Kunstbegriff entgegenstellen, sondern die Befähigung zum Beitrag, zur eigenen Stimme. Das Kunstwerk wird zur Erfahrung dieser Befähigung. Es geht darum, einen neuen Ort zu schaffen.

Susan Sonntag schrieb Mitte der sechziger Jahre: The supreme tragic event of modern times is the murder of the six million European Jews... no one understands this event. The murder of the Jews cannot be wholly accounted for either in terms of passions, private or public, or of error, or of madness, or of moral failure, or of overwhelming and irresistible social forces. Some twenty years after there is more controversy about it then ever... How did it happen?

Zur Architektur:

50 Jahre nach Kriegsende weiß jeder, was der Holocaust ist. Der Gegenstand dieser Arbeit, den wir "die Vergangenheit" nennen, hat Deutschland seit 1945 in der Weit bekannter gemacht als alles Andere. Auch deshalb habe ich keine skulpturale Metapher dafür vorgeschlagen.

Der Platz ist umgeben und definiert von Bauwerken und auch von Wald. Das Leer- und Offenlassen erhält ihn als die eigentliche Vorgabe des Auftrags, deshalb ist er nicht mit Bäumen gefüllt, sondern im Gegenteil bis an den Tiergarten erweitert. Auf diese Weise wird die Ebertstraße mit ihrem Verkehr (und ihren täglichen unfreiwilligen "Besuchern", den Verkehrsteilnehmern) Teil der Arbeit. Der Platz soll ein urbanes, pulsierendes Zentrum sein, das möglichst vielfältig angeschlossen ist an die reale Stadt. Er soll keine verschämte Ecke im Park für Holocaust-Spezialisten sein. Das hieße den Auftrag verschenken.

Der Platz ist ein großes Stück Himmel in und über Berlin, er bleibt nach oben offen - ohne Dach. Die 39 Lichtpole, die gläserne Brücke, die Schrift im Stein und das Gebäude Das Ohr sind Schnittstellen zum Betrachter, aber auch zur Abwesenheit. Im Raum der Stille - dem Zentrum des Gebäudes - mit seinem schwachen, zuerst nicht erkennbaren Licht vom Himmel, ist der Platz noch einmal wiederholt.

Der Platz will keine Konkurrenz zum Tiergarten oder zur entstehenden Architektur seiner Umgebung sein. Er ist eine unbesetzbare, konkave Stelle, so wie die Erinnerung an die Shoah eine unbesetzbare Stelle ist. Alles ist unvollständig ohne das Leben.

Der Platz ist ein existierender Ort, der seine Vergangenheit hat. Er wird das Bild von Deutschland mitbestimmen. Nicht den Ort gilt es zu gestalten, sondern seine Bedeutung.

Das Gebäude Das Ohr hat nur eine Funktion und die ist sicher nicht, eine Gedenkstätte im Denkmal zu sein. Es ist ein Instrument, das es erlaubt, den Besucher auf seine Antwort vorzubereiten auf die Frage: "Warum ist es geschehen?". Das Ohr ist ein Angebot, es ist aber auch ein Erlebnis, dem der Besucher sich nicht leicht entzieht, weil er sich nach und nach immer mehr erlebt als einen Verantwortlichen. Er soll den Ort verlassen in dem Gefühl, etwas getan zu haben. Und das Gebäude soll ihm den Stolz und den Sinn für den eigenen Beitrag vermitteln. Es geht fast physisch um die Übernahme des Denkmals, um die Existenz des Denkmals in der Geschichte, die weitab von Berlin - in den Erzählungen, Reisefotos, in der Erinnerung der Besucher, in den Pressemedien - weitergeht. Es geht um den Menschen, der Denkmal wird - um das "nie wieder".


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