glossen: rezensionen
Christine Cosentino: Wolfgang Hegewald, Der Saalkandidat (Leipzig: Kiepenheuer, 1995), 215 Seiten, 32 DM.
An Literatur über den Staatssicherheitsdienst hat es nach der Wende
von 1989 wahrlich nicht gefehlt. Vorrangig traten jene Autoren an die
Öffentlichkeit, die sich als aktenkundige Opfer definierten. In einer
Flut von Essays, Rückblicken, Romanen, Erzählungen oder Gedichten
äußerten sich u.a. Sarah Kirsch, Hans Joachim Schädlich,
Jürgen Fuchs, Erich Loest oder Volker Braun. Die Beschäftigung
mit der Stasi steht zwar auch weiterhin in der Literatur im Vordergrund,
nur haben sich, so glaubt man feststellen zu können, die Akzente verschoben.
Das Thema eingesetzter Gewalt und effektiven Psychoterrors von Seiten der
Stasi greift in den letzten Jahren in andere Bereiche, erscheint
aufgefächert. Wolfgang Hilbigs Darstellung des Ich-Verlustes und der
Persönlichkeitsdemontage in seinem Roman Ich (1995) wäre
hier zu nennen oder eine Karikierung der Stasi, wie sie nur aus der Sicht
der jüngsten östlichen Autoren betrieben werden kann, etwa in Thomas
Brussigs Helden wie wir (1995). Auch Wolfgang Hegewalds Sammelband
Der Saalkandidat läßt sich in diesen Rahmen der
Themenausweitung einfügen. Der Band enthält zwei sehr unterschiedliche
Texte, die sich kaum mehr als thematisch berühren: die bereits 1987/88
geschriebene Erzählung "Verabredung in Rom" und die Novelle "Der
Saalkandidat", geschrieben 1993/94. Beide Geschichten leben von Hegewalds
phantastisch-witziger Erzählkunst, einer satirischen Zuspitzung, die
sich wahrscheinlich aus der größeren Distanz des Autors zum Thema
Stasi erklären läßt. Hegewald war bereits 1983 mit
Ausreisegenehmigung in den Westen gezogen.
Mit Humor und Hintersinn erzählt Hegewald in "Verabredung in Rom"
die Geschichte eines skurrilen Stasi-Agenten, der auf eine Gruppe nicht weniger
skurriler Ex-DDRler in Rom angesetzt wird. Der eigentliche Erzähler
jedoch, der "anonyme Erzähler", ist der Spitzel selbst, eine bizarre
Figur, die wenig zum Observieren taugt, sich fast selbst enttarnt und am
Schluß der Handlung eine gehörige Tracht Prügel kriegt.
Chamäleonartig wechselt der "allwissende" Berichterstatter seine
Identitäten: ein winselnder Greis, ein greinendes altes Weib, ein
hermaphroditischer Krüppel, ein Spitzel, der sich selbst nicht mehr
ernst nehmen kann, ein trauriges Opfer seiner Desillusionierungen. Der Spitzel
als allegorische Figur für den modernen Erzähler? Konturlos und
gesichtslos bewegt sich der beobachtende Erzähler in einem Geflecht
unüberschaubarer Vorfälle in Rom. Seine Allmachtsphantasien über
seine Opfer bringt er zwar aufs Papier, wird dann jedoch Zielscheibe einer
Attacke der Observierten: drei Figuren auf der Jagd ihres Observierers, also
Autors. Hegewald liefert eine ironisch vergnügliche Geschichte, deren
Reiz in ihrer Vielschichtigkeit liegt: Gedanken der Simulation und Konstruktion,
Allmachtsphantasien und "allwissendes Erzählen" durchdringen sich in
einer Farce, die "Beobachten" der Lächerlichkeit preisgibt, ohne jedoch
reale Stasiberichte zu verniedlichen oder zu verharmlosen.
Reich an witzigen Detailschilderungen und komischen Momenten ist auch
die Novelle "Der Saalkandidat", nach der der Band genannt ist. Aber über
weite Strecken krankt der Text an Langatmigkeit. Nur mühsam schleppt
sich die Handlung über 117 Seiten dahin. Einige Straffung wäre
der Novelle sicherlich förderlich gewesen. In dieser Geschichte geht
es um eine Dienstreise des Stasi-Agenten Sigmund Wenz lange nach der Wende,
wobei dem Leser nicht so recht einleuchtet, wem diese Reise denn nun eigentlich
diene, es sei denn, die konspirative Lebensart verlange es auch weiterhin
so. Der paranoide Finsterling Wenz kommt an seinem Zielort an und wird dort
von einem seiner ehemaligen Opfer, dem Lehrer Roland Hector, erkannt. Als
Wenz plötzlich ohne Erklärung eine Einladung zu einer
"Nonstop-Nonsense-Show" erhält, tappt der mit allen Wassern gewaschene
Spürhund blindlings in die Falle. Er geht dorthin. Täter wird Opfer.
Der ehemals bespitzelte Hector wird in der Show zum Saalkandidaten gekürt
und wettet prompt, daß er unter den Zuschauern wenigstens zehn Agenten
der verendeten Stasi ausfindig machen kann. Ein gewiefter Talkshow-Master
betreibt das öffentlich gesendete Enttarnungsmanöver mit einem
Maximum an Zynismus und Raffinesse. Der an seine Allmacht und an seine Strategien
glaubende Schnüffler wird von einem vergnügungshungrigen,
grölenden Publikum höhnisch ausgelacht. Aber auch Hector entflieht
dem Zirkus nicht. Vom Showmaster gedemütigt und ausgequetscht -- und
das weitaus effektiver als es die Stasi je vermocht hatte -- verliert er
die Nerven. Das Fernsehen mit seinen billigen Unterhaltungstricks als der
bessere Spitzel, als Arena für wirkungsvolle Verhöre? Ein Triumph
des Zynismus? Die Frage bleibt offen. Fest steht allein die Tatsache, daß
Täter und Opfer auf billigste Weise ad absurdum gelacht werden.
Beide Geschichten im Band Der Saalkandidat sind trotz qualitätsmäßiger Unterschiede lesenswert, gewinnen dem Thema Stasi neue Seiten ab. Allmacht, so wie sie von der Stasi und vielen ihrer Opfer verstanden wurde, erscheint demontiert, dem Gelächter preisgegeben.
Christine Cosentino
Rutgers University