glossen: rezensionen


Walter Kempowski: "Bloomsday '97". Albrecht Knaus Verlag, München 1997.
396 Seiten.

Das Fernsehen, von Walter Kempowski geschreddert

Kempowskis neues Buch ist gar nicht von Walter Kempowski. Handelte es sich um einen Film, müßte im Vorspann stehen: "Idee und Mithilfe bei der Realisation: Walter Kempowski. Realisation: Ein Team von Helfern." Fast könnte man sogar sagen, daß "Bloomsday '97" ein Stück Concept Art darstellt: Kennt man die Idee, ist die umständliche, bis ins letzte Detail durchgeführte Realisation fast überflüssig, und die Lektüre des Resultats ist problematisch, ja vielleicht eigentlich gar nicht möglich. Dennoch: das Ganze ist verblüffend intrikat, unter methodischen wie unter ästhetischen Gesichtspunkten.

Ausgangspunkt für Kempowskis Fragestellung und das daraus abgeleitete Konzept ist neben der Kenntnis von James Joyces "Ulysses" Hermann Brochs Wort, James Joyces "Ulysses" sei der "Welt-Alltag der Epoche", der am 16. Juni 1904 spielende Roman enthalte in seiner Großstadt-Typizität, im betont Durchschnittlichen seines (Nicht-)Helden Leopold Bloom und darin, daß in diesen Tag, in diesen Ort, in diesen Menschen möglichst viel von der ganzen Welt hineingespiegelt ist, so etwas wie eine Totalität von Welt, von den Ereignissen an einem abgelegenen Erdenfleck bis zum Kosmos. Konsequent und zugleich naiv witzig fragte Kempowski sich nun, wie denn eigentlich ein Tag des Jahres 1997 einzufangen, abzubilden, darzustellen sei - bei der im Gegensatz zum Jahr 1904 nun gegebenen Tatsache, daß trotz allen Zitierens authentischer Partikel des damaligen Dubliner Alltags es doch noch eines (künstlerischen) Autors und einer Romanfigur bedurfte, um den damaligen Welt-Alltag zu konstruieren, um eine "geschwätzige, allumfassende, mischmaschige Chronik" (wie der Ulysses sich selbst bezeichnet) eines Tages um die Jahrhundertwende, des 16. Juni 1904, zu schreiben. Ist aber schon der "Ulysses" voll der zitierten, der 'abgeschriebenen' Wirklichkeit und ein Buch, das in seiner Sprache und seinen Erzähltechniken die Medialität, sprich: die Vermitteltheit von Weltsicht und Weltdarstellung schon mitthematisiert, so muß ein "Autor" des Jahres 1997 (wenn man ihn denn noch so nennen will) einen Schritt weiter gehen: Wir haben das Fernsehen als das Medium, das Weltwahrnehmung entweder für uns erledigt oder sie sogar für uns ersetzt oder doch an der Formung unserer Weltwahrnehmung mindestens so sehr beteiligt ist wie dies um 1904 die Presse war. Also könnte mein Projekt so aussehen und sich begründen: Ich ziele durch die Beschränkung hindurch einmal experimentell auf Totalität, nehme nicht die Stadt Dublin als Rahmen bzw. als Brennspiegel des Weltganzen, sondern meinen Fernsehapparat, und nehme nicht als Totalität, was sich über Information und Bewußtsein an Welt in diesen Ausschnitt Dublin hineinspiegeln läßt, sondern erkläre das, was die 37 Kanäle meines Fernsehers mir ins Haus liefern, zur tendenziellen Totalität (schließlich gibt es in Mengen englische, französische und spanische Sender oder Sendungen in diesen Kanälen); als strikte Analogie zu Joyces 1904-Unternehmen behalte ich 1997 lediglich den 16. Juni, die 'Ereignisse' eines Tages von morgens 8 Uhr bis zum nächsten Morgen um 3 Uhr bei. Fragt sich also jetzt nur noch, wie ich mit meinem Material und dem Zugang zum Material umgehe. Joyce holte sich die Partikel aus dem Bewußtsein seiner Figuren, aus deren Position in bestimmten Perspektiven des Erzählens und aus sämtlichen Schichten und Stadien der Entwicklung der englischen bzw. angloirischen Alltags- und Literatursprache, inclusive der Journalisten- und Kneipensprache, Stand 1904. Die Fragmentierung all dieses Materials trieb Joyce nur so weit, daß es doch noch einzelne kontinuierliche Charaktere und eine einigermaßen erkennbare Handlung gibt, für ihn also offenbar als Organisationsprinzip noch geben mußte.

Wir aber haben die Fernbedienung und können zappen, sagt sich Kempowski; so stellen wir Weltausschnitte her, und so könnte man einen modernen Weltquerschnitt herstellen: Man zappe, d.h. man wechsle alle ca. 20 Sekunden den Kanal, und das 19 Stunden lang bei 37 Kanälen; die Bilder und die Tonspur dessen, was da jeweils zu sehen und zu hören war, nehme man auf und schreibe hinterher die Tonspur ab. Gesagt, getan, am 16. und 17. Juni 1997 von Kempowski und einem Aufnahme- und später Abschreibe-Team, und zur Buchmesse ist dann das Buch da: "Bloomsday '97", eine Zitatmontage, urheberrechtlich ein Buch von Walter Kempowski, obwohl keine Zeile darin von ihm stammt, ähnlich wie bei seinem anderen und umfangreicheren historischen Zitatprojekt, den (bis jetzt) vier Bänden des "Echolot".

Und nun? Bücher liest man, normalerweise, aber dies ist ein Buch, das man nicht kontinuierlich von Anfang bis Ende lesen kann, was man ja beim "Echolot", sehen wir einmal vom Umfang ab, noch kontinuierlich und mit großer Faszination tun kann; es ist zwar in der Tat eine Art Roman von der Welt, vermittelt durchs Fernsehen, aber mehr als einige Seiten sind darin nicht am Stück lesbar, denn das Läppische, das Repetitive, das zumindest durch die Fragmentierung Blödsinnige, auch die Frustration dadurch, daß man sich auf nichts einlassen darf, weil man ja doch gleich weitergerissen wird, sind ganz unerträglich. Ich halte das aber nicht für einen Einwand gegen das Buch als Projekt. Man denke an Andy Warhols "a" aus den späten sechziger Jahren, desgleichen an Franz Mons Roman "Herzzero" oder Ludwig Harigs "Sprechstunden für die deutsch-französische Verständigung", auch Arno Schmidts "Zettels Traum", allesamt aus den Jahren um 1970, und man denke an - ihnen allen 1939 vorausgehend - Joyces "Finnegans Wake" - sie alle sind nicht im herkömmlichen Sinne 'lesbar', und dies nicht des Umfangs wegen (vielleicht spielt dies allerdings bei "Zettels Traum" doch eine gewisse Rolle), sondern weil sie "Verstehen" sabotieren oder wenigstens hinausschieben, weil eine demonstrative Diskontinuität ihr Prinzip ist, weil sie epische Kontinua sowieso aufkündigen oder als Schein darstellen wollen und weil in ihnen bzw. durch sie grundsätzlich eher Fragen aufgeworfen als diese durch vollendet-geschlossene literarische 'Gestaltung' (ein verräterisch altmodisches Wort in diesem Zusammenhang!) beschwichtigt werden sollen. Gerade in diesem Sinne ist Kempowskis Buch keineswegs abwegig oder gar gescheitert; wenn man sich die Mühe macht, es eher als ein Bündel von Fragen, als einen methodisch interessanten Gestus zu sehen, der auf Probleme sprachkünstlerischer und erzählerischer Art verweist, die die zur Zeit, in einem Moment der allseits begrüßten Rekonventionalisierung des Erzählens, die Autoren fast wieder zu wenig beschäftigen, dann ist dies Unternehmen gar nicht so leicht beiseitezuschieben.

Erstens ist da die Absicht auf 'Totalität', auf symbolisch oder stellvertretend angelegte Welt-Repräsentation: ein Durchschnittsmensch soll hier nicht Durchschnittsmensch sein, sondern jedermann (sozusagen: Jedermann), eine Großstadt soll für alle Großstädte stehen, eine Frau soll für Weiblichkeit einstehen usw. Nun wissen wir alle, wie sehr dies im "Ulysses" geglückt ist; Kempowski aber kommt, wie dies bei seiner hochgradig naiven Intelligenz oft der Fall ist, auf die Idee, daß dies heute gar nicht mehr zu schaffen wäre, sondern Totalität anders hergestellt oder signalisiert werden muß - nicht mehr über individuelles Schöpfertum, über Imagination allergrößten Formats, sondern übers Zitat bzw. über Zitatmontage. Zweitens: Kempowski theoretisiert nicht viel, schon gar nicht im Buch, aber auch außerhalb des "Bloomsday '97" hat er nicht viel an Programm oder theoretischer Reflexion verlauten lassen, doch was er tat, hat, ob er sich davon nun genaue Rechenschaft gegeben hat oder nicht, Implikationen, und die heißen: Autorschaft im alten Sinn ist unter bestimmten Aspekten obsolet und kann durch einen Zitat-Arrangeur ersetzt werden, durch einen Ideen-Lieferanten, Konstrukteur und Realisationsüberwacher. Was das Imaginieren und Erzählen angeht, wird also persönliche Sprache, stilistische Kreativität ersetzt durch die Kombination von vorgefertigtem Material - das Prinzip Collage oder Montage wird total. Ist dies nur konsequent oder doch eine Kapitulation vor der Aufgabe des Selber-Durcharbeitens? Drittens: Aufgegeben ist auch das Prinzip, den betreffenden Tag zu konstruieren mit dem Zentrum einer einzigen Person (wenn man Stephen Dedalus hinzunimmt, sind es im "Ulysses" zwei Personen), also der Glaube, daß man einen solchen Tag nicht anders fassen kann als über ein menschliches Element, ein individuelles.

Man könnte einwenden, daß Kempowski halt keinen Roman schreiben wollte, sondern einen Tag konzentriert dokumentieren, doch sind eben "Ulysses" und "Bloomsday '97" beide als 'Roman eines Tages' vielleicht am besten beschreibbar, und das Wegfallen einer den Text durchziehenden verbindenden menschlichen Figur bei Kempowski ist dann kein Zufall. Noch ein bißchen weitergetrieben: Ist gewissermaßen das Bewußtsein, in dem sich alles focussiert, außerhalb des Buches geraten und heißt nun eben nicht Leopold Bloom, sondern: Walter Kempowski?
Jedenfalls baut Kempowski sich selbst als mechanisierten Assoziationsmechanismus ein: als Zapper, der von Kanal zu Kanal springt wie die Assoziationen Stephen Dedalus', Blooms und am Ende Molly Blooms von einem Gegenstand zum andern, so daß manche Passagen im "Ulysses" so sprunghaft und so schwer zu verstehen sind wie die bizarren Übergänge von einem Fernsehprogramm ins andere in "Bloomsday '97". Man kann das noch zuspitzen: Kempowski betätigte sich am 16. Juni 1997 als Schredder: er häckselte alle Progamme und alle Sendungen klein, die ihm vor die Fernbedienung kamen, und zugleich griff er nicht 'gestaltend', nicht einmal pointierend oder das aus dem Fernsehen Zitierte zu Quasi-Gedichten arrangierend ein, wie dies etwa Rainald Goetz in den drei Bänden von "1989. Material" (1993) tat. Klaus Kreimeier hat Kempowski in seiner Rezension von "Bloomsday '97" vorgeworfen ("Zapperlot! Wie Walter Kempowski einmal sein TV-Gerät mit der Fernbedienung zertrümmerte." In: Frankfurter Rundschau, 18. Oktober 1997): "Kempowski hat keine Ahnung vom Zappen." Da kann man nur zurückfragen: Gibt es ein "richtiges" Zappen und ein "falsches" Zappen? Untypisch an Kempowskis Zappen ist in der Tat, daß er bei keinem Sender bzw. Programm länger als allerhöchstens zwei Minuten bleibt, während man ja wohl, wenn einem beim Durchzappen etwas wirklich gefällt, einfach dabeibleibt; insofern hat er die Progamm-Realität verzerrt: er hat die Fragmentierung mechanisch, und das heißt: rücksichtslos weitergetrieben, und das ist in gewissem Sinn ein Stilisierungs-, bzw. ein Pointierungsprinzip. Und noch in einer anderen Hinsicht verhielt er sich nicht 'realistisch' und konsequent: Er hat ja von seiner 19-Stunden-Zapperei kein Videoband herstellen, sondern nur die Tonspur abschreiben lassen, also seine Zapperei auf einen Aspekt reduziert, und der muß nun stellvertretend und suggestiv für das Ganze stehen. Das aber tut er nun wieder ganz ausgezeichnet. Denn am verblüffendsten bei der Lektüre von "Bloomsday '97" ist, daß man das Bild gar nicht vermißt. Man kennt die Fernsehbilder ja und sowohl das Aussehen der Prominenten wie auch derer, die sich in ihres Nichts durchbohrender Gewalt im Quassel-Medium Fernsehen immer uninhibierter auslassen dürfen. Man kann sich dies alles beim Lesen ganz leicht ergänzen, und durch die Beschränkung auf die Sprache schärft sich wiederum unsere Aufmerksamkeit auf diese, wobei die meist läppisch bunten Bilderchen ja nur stören würden.

Beschränkung auf Sprache - das ist eigentlich das Erstaunlichste, Radikalste, ja das speziell Sprachkünstlerische an Kempowskis Idee, mit dem Fernseher umzugehen. Er will ja gar nicht den "Ulysses" "in die Schranken fordern", wie Klaus Kreimeier etwa unterstellt; Kempowski hat dies nirgends, weder außerhalb noch gar innerhalb des Buches behauptet. Er bezieht sich zwar auf den "Ulysses", aber der Bezug wird nicht übers Literarisch-Ästhetische hergestellt, denn auf das Prinzip literarisch-kreativer Gestaltung verzichtet er bei seinem Buch ja gänzlich und setzt wo ganz anders an. Welt als Welt-im-Fernsehen zu nehmen und aus dieser Welt nur die sprachliche Seite zu beachten, sich dergestalt nicht auf totale Reproduktion zu werfen, sondern auf einen selektiven Approach zu beschränken: darin muß man doch ein literarisches Verfahren sehen, und zwar eines, das es nicht mehr auf ein sinnvoll durchstrukturiertes Erzählwerk absieht, sondern auf etwas wie die Dokumentation eines Projekts, noch moderner gesprochen: eines "Events". Vielleicht ist dies das Verblüffendste und Überzeugendste an Kempowskis Buch, daß hier einer seltsam stur und mechanisch einmal das Porträt eines Fernseh-Tages hergestellt und als Text uns präsentiert hat, ohne zu wissen oder zu sagen, was dies eigentlich 'bedeuten' soll. Denunziation des täglich Gesendeten als Dreck, wie dies Patrick Bahners Kempowski in seiner schlechtgelaunten Rezension unterstellt ("Das Zappen nach der verlorenen Zeit. Walter Kempowski guckt in die Röhre." In: Frankfurter Allgemeine, 2. Dezember 1997), war jedenfalls nicht von vornherein und als feststehendes Resultät Kempowskis Absicht. Seine Absicht war viel unbestimmter, für Überraschungen offener; er will es vielmehr uns überlassen, der sich selbst inszenierenden Pop-Kultur-Institution "Fernsehen" unsere (persönliche) Wahrheit abzugewinnen.

So etwas wie kontinuierliche Lektüre ist mir in Kempowskis neuem Buch, wie gesagt, nicht gelungen, aber dem anarchischen Herumschnuppern eröffnen sich doch viele Möglichkeiten. Wenn einer in planlosem Streifzug in 37 Kanälen herumzappt, muß ja Kurioses herauskommen, einmal durch die harten Schnitte bei diesem Verfahren, das zu bizarren und irritierenden Konfrontationen und Nachbarschaften führt, dann aber auch weil man entweder bei vielen der kleinen Texte sich absolut nicht vorstellen kann, aus welcher Art von Sendung sie überhaupt stammen könnten (was ja selbst wieder ein 'literarischer' Effekt ist, möglich und verbreitet in jener Literatur des 20. Jahrhunderts, die dem Montageprinzip alle seine Möglichkeiten ablockt), oder weil sie eben genau so hirnrissig sind, so verplappert und haltlos und verlogen und ungeschlacht wie man sich die Welt der Gegenwart im Grunde schon immer vorgestellt hat. Zugespitzt gesagt: Durch die Mechanik des Zerhackens von kontinuierlichen Sinnzusammenhängen der einzelnen Sendungen hindurch stellt sich am Ende sowas wie Mimesis des Weltzustandes her: So ein wirrer Haufen ist die Welt, wenn man einmal vordergründige Konsistenzen des Redens über sie beiseiteschiebt bzw. umgeht. Walter Kempowskis Buch scheint mir am Ende doch ein äußerst effektiver Auslöser von Überlegungen zur Repräsentierbarkeit der Welt und der Möglichkeiten ihrer Darstellung im Fernsehen und in der Literatur zu sein. Wie bei vielen anderen seiner Bücher hat man den Eindruck, daß Kempowski seinem eigenen Produkt intellektuell gar nicht recht gewachsen ist: er hat da wieder mehr und Komplexeres erfunden als er selbst weiß. Ärgerlich ist dabei nur, daß der für die Transkription englisch-sprachiger Sendungen Verantwortliche entweder einen Hörschaden und/oder sehr begrenzte Englischkenntnisse hat: Meine Fehlerliste ist über zwei Seiten lang!

Übrigens hat der Albrecht Knaus Verlag (im Hause Bertelsmann angesiedelt, wie man weiß) schon kurz vor Erscheinen von "Bloomsday '97" ein sechzehnseitiges Heftchen herausgebracht mit Aufzeichnungen Kempowskis zu dem Projekt in den Tagen seiner Realisation, also um den 16./17. Juni 1997. Sollte jemand in "Bloomsday '97" keine Komik finden und das ganze Unternehmen für trocken und humorlos halten, kriegt er Komik und gravitätische Ironie des Autors auf konzentrierteste in den (bei der Presseabteilung des Bertelsmann Verlages in 81673 München anzufordernden) "Notizen zum Bloomsday '97", dieser stolzen Selbstbespöttelung Walter Kempowskis, die fast den Rang seines Tagebuchs "Sirius" von 1990 hat. In diesen Notizen kommt übrigens der "Event"-Charakter der ganzen Veranstaltung sehr deutlich heraus: Unabhängig vom Resultat müssen Walter Kempowski und das Aufzeichnungsteam einen Heidenspaß an der Verrücktheit des Unternehmens gehabt haben.

Jörg Drews



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