glossen: rezensionen



"ich ziehe einen kreis" - Geschichten von Nadja Klinger, Alexander Fest Verlag Berlin 1997

Sie hat den Blick. Die Geschichten von Nadja Klinger haben mich vom ersten Augenblick an fasziniert. Bereits die "Freitag"-Kolumnen der 1965 geborenen Ostberliner Journalistin waren mir aufgefallen, weil sie stets zu kleinen Prosastücken gerieten, in heutigen Zeitungen eher eine Seltenheit.

"Ich ziehe einen Kreis" heißt das Credo, das sich poetologisch durchaus in seinem genauen Gegenteil niederschlagen kann: Einkreisend und zugleich öffnend, in Geschichten kreisend und dabei entdeckend, daß der Spiegel voller Sprünge und das eigene Gedächtnis voller Lücken ist. Das aber ist auch schon das Höchste an Pathos, im weiteren wird Großes im Kleinen erzählt, gänzlich unpathetisch, manchmal voller Wehmut, manchmal voller Selbstironie, nie mit Bitterkeit. Nadja Klinger kann "ich" sagen, ohne Nabelschau zu halten (auch das ist in der Gegenwartsliteratur eher selten). Sie erzählt vom eigenen Vater, den Großeltern, der Katze, vom Familienleben im Dorf und in der Stadt, ohne daß es wichtig ist, ob hier "authentische" oder fiktive Literatur vorliegt. Die Autorin bürgt auf jeden Fall für eine Wahrhaftigkeit der Geschichten, die unabhängig von Fakten ist. Es ist die Erzählhaltung, die überzeugt. Hinter den Texten ist eine enorme moralische Kraft zu spüren, die sich jedoch nie im moralisierenden Gestus manifestiert, sondern in einer klaren, mitunter auch schonungslosen Sicht auf gelebte Haltungen und erlebte Situationen. Ohne Entschuldigung, aber auch ohne Verurteilung wird der kommunistische Großvater gezeichnet: in seinen Freundschaften zu den alten Genossen, in seiner Ehe, in seiner Beziehung zur Enkeltochter. Kunstvoll geht die Perspektive des nähesuchenden Kindes in die heutige über, wird große und kleine Geschichte in einen Zusammenhang gebracht. Gesellschaftliche Strukturen werden in genauen Alltagsbeobachtungen zur Diskussion gestellt, ohne daß der Autorin irgendein missionarischer Zungenschlag unterlaufen würde. Stets steht auch die Erzählende selbst in frage, deren Unsicherheiten, Eitelkeiten, blinde Flecken bleiben nicht verborgen. Am stärksten sind die Texte, die sich der familiären Vergangenheit widmen, wogegen die Gegenwartsreflexionen vor allem am Schluß des Buches dem dadurch gesetzten ästhetischen Anspruch weniger standhalten.

Die Geburt der Tochter wie der Tod des Vaters werden auf eine bestechend genaue und originelle Weise literarisiert, die die Lesenden an keiner Stelle zu Voyeuren werden läßt. Was Nadja Klinger sieht, unterscheidet sich von einer ganzen Flut von Mutter-Tochter oder Vater-Tochter-Romanen. Dabei kann ich die Originalität ihrer Sicht auf die Welt und deren literarischen Niederschlag kaum auseinanderhalten: "Ich habe den Gedanken regelmäßig fotografiert" - ist das konkret oder poetisch originell?

Sprachklischees sind selten, schöne poetische Bilder nicht: "Wir stillten das Verlangen nach uns" heißt es in bezug auf die stillende Mutter und ihr Baby. "Meine Mutter ist fast ihr ganzes Leben lang auf halber Sohle gelaufen." "Sein Gesicht war so fehlerfrei, als würde seine Mutter regelmäßig darin aufräumen." Hier muß nichts poetisiert, hochgehängt, stilisiert werden, weder das "altersschwache Haus im Prenzlauer Berg, das die Zeit nur so verschlungen hat, in die ich mich jetzt eingemietet habe", noch der Garten, "...der uns glauben ließ, wir träten ins Freie, wenn wir hinausgingen... Gegangen aber sind wir immer nur bis zum Zaun". Noch mehrere andere gehören zu meinen Lieblingssätzen in diesem Buch. In meinen Kreis sind Nadja Klingers Geschichten gedrungen.

Birgit Dahlke
Humboldt Universität Berlin



zurück zum inhaltsverzeichnis