glossen: rezensionen
Sie hat den Blick. Die Geschichten von Nadja Klinger haben mich vom
ersten Augenblick an fasziniert. Bereits die "Freitag"-Kolumnen der 1965
geborenen Ostberliner Journalistin waren mir aufgefallen, weil sie stets
zu kleinen Prosastücken gerieten, in heutigen Zeitungen eher eine
Seltenheit.
"Ich ziehe einen Kreis" heißt das Credo, das sich poetologisch
durchaus in seinem genauen Gegenteil niederschlagen kann: Einkreisend und
zugleich öffnend, in Geschichten kreisend und dabei entdeckend, daß
der Spiegel voller Sprünge und das eigene Gedächtnis voller
Lücken ist. Das aber ist auch schon das Höchste an Pathos, im weiteren
wird Großes im Kleinen erzählt, gänzlich unpathetisch, manchmal
voller Wehmut, manchmal voller Selbstironie, nie mit Bitterkeit. Nadja Klinger
kann "ich" sagen, ohne Nabelschau zu halten (auch das ist in der
Gegenwartsliteratur eher selten). Sie erzählt vom eigenen Vater, den
Großeltern, der Katze, vom Familienleben im Dorf und in der Stadt,
ohne daß es wichtig ist, ob hier "authentische" oder fiktive Literatur
vorliegt. Die Autorin bürgt auf jeden Fall für eine Wahrhaftigkeit
der Geschichten, die unabhängig von Fakten ist. Es ist die
Erzählhaltung, die überzeugt. Hinter den Texten ist eine enorme
moralische Kraft zu spüren, die sich jedoch nie im moralisierenden Gestus
manifestiert, sondern in einer klaren, mitunter auch schonungslosen Sicht
auf gelebte Haltungen und erlebte Situationen. Ohne Entschuldigung, aber
auch ohne Verurteilung wird der kommunistische Großvater gezeichnet:
in seinen Freundschaften zu den alten Genossen, in seiner Ehe, in seiner
Beziehung zur Enkeltochter. Kunstvoll geht die Perspektive des
nähesuchenden Kindes in die heutige über, wird große und
kleine Geschichte in einen Zusammenhang gebracht. Gesellschaftliche Strukturen
werden in genauen Alltagsbeobachtungen zur Diskussion gestellt, ohne daß
der Autorin irgendein missionarischer Zungenschlag unterlaufen würde.
Stets steht auch die Erzählende selbst in frage, deren Unsicherheiten,
Eitelkeiten, blinde Flecken bleiben nicht verborgen. Am stärksten sind
die Texte, die sich der familiären Vergangenheit widmen, wogegen die
Gegenwartsreflexionen vor allem am Schluß des Buches dem dadurch gesetzten
ästhetischen Anspruch weniger standhalten.
Die Geburt der Tochter wie der Tod des Vaters werden auf eine bestechend
genaue und originelle Weise literarisiert, die die Lesenden an keiner Stelle
zu Voyeuren werden läßt. Was Nadja Klinger sieht, unterscheidet
sich von einer ganzen Flut von Mutter-Tochter oder Vater-Tochter-Romanen.
Dabei kann ich die Originalität ihrer Sicht auf die Welt und deren
literarischen Niederschlag kaum auseinanderhalten: "Ich habe den Gedanken
regelmäßig fotografiert" - ist das konkret oder poetisch originell?
Sprachklischees sind selten, schöne poetische Bilder nicht: "Wir stillten das Verlangen nach uns" heißt es in bezug auf die stillende Mutter und ihr Baby. "Meine Mutter ist fast ihr ganzes Leben lang auf halber Sohle gelaufen." "Sein Gesicht war so fehlerfrei, als würde seine Mutter regelmäßig darin aufräumen." Hier muß nichts poetisiert, hochgehängt, stilisiert werden, weder das "altersschwache Haus im Prenzlauer Berg, das die Zeit nur so verschlungen hat, in die ich mich jetzt eingemietet habe", noch der Garten, "...der uns glauben ließ, wir träten ins Freie, wenn wir hinausgingen... Gegangen aber sind wir immer nur bis zum Zaun". Noch mehrere andere gehören zu meinen Lieblingssätzen in diesem Buch. In meinen Kreis sind Nadja Klingers Geschichten gedrungen.
Birgit Dahlke
Humboldt Universität Berlin