glossen: artikel


  "Über Dreck, Politik und Literatur[1]" - Zu politischen und ästhetischen Positionen Hans Joachim Schädlichs nach dem Fall der Berliner Mauer
Wolfgang Müller

Hans Joachim Schädlich ist einer der wenigen Autoren aus der DDR, der, obwohl er wie viele bis in die späten sechziger Jahre glauben wollte, daß man in der DDR trotz allem demokratische Verhältnisse etablieren könnte, nie an der Epochenillusion[2] des Sozialismus gehangen hatte und dessen Texte nie als ein Dialog mit den Herrschenden anzusehen waren. Er ist auch nicht, wie die meisten anderen Schriftsteller, die zu lange in der DDR ausgeharrt hatten und denen nach dem Untergang des "ersten Arbeiter- und Bauernstaates" ihr "ganzer Text unverständlich wurde"[3], über die Mitgliedschaft in der SED zu ddr-kritischen Positionen gelangt, hat sich nie als DDR-Autor gefühlt und hat daher auch nicht "das Dilemma der zu frühen Bindungen und zu späten Abschiede gehabt"[4], wie Joachim Walther das einmal ausgedrückt hat, oder, um ein Wort Manès Sperbers zu gebrauchen, das "Mißverständnis der falschen Identifikationen"[5]. Er fühlte sich immer als Bürger, als Demokrat und deutscher Schriftsteller und war daher im Staat der Arbeiter und Bauern von öffentlich literarischem Wirken von Anfang an ausgeschlossen. Sein erstes Buch, der Erzählband Versuchte Nähe konnte erst 1977, dem Jahr seines Weggangs aus Ostberlin, bei Rowohlt erscheinen. Unter den Autoren aus der DDR nimmt er deshalb eine gewisse Sonderstellung ein, ja, er verkörpert wegen der Konstanz seiner politischen Haltung und seines moralischen Anspruchs, in diesem Punkte Heinrich Böll nicht unähnlich, so etwas wie einen moralisch ruhenden Pol — eine Bezeichnung übrigens, die er vehement ablehnen und eine Funktion, wenn es sie denn gäbe, die er weit von sich weisen würde. Und das nicht nur, weil sie seinem Temperament sondern auch, weil sie seinen Vorstellungen von der Rolle eines Autors widerspricht, die er nicht in der Hybris eines Präzeptors sieht, sondern in der bescheideneren desjenigen, der Geschichten für sich erzählt, die eventuell von anderen angenommen werden. Trotzdem hat er sich nicht erst nach dem Untergang der DDR politisch verhalten, hat sich in Interviews, Essays und durch seine Herausgebertätigkeit direkt und in vielen seiner literarischen Texte indirekt zu politischen Fragen geäußert. Seine politische Position läßt sich besonders deutlich anhand der Themen Stasi, Abgrenzung zu den sogenannten kritisch-loyalen Autoren aus der DDR, Vereinigung der PEN-Zentren Ost und West und seinem Verständnis der Einigung Deutschlands nachzeichnen.

Wenn man — metaphorisch — über den Dreck in Deutschland spricht, darf man das Erbe der Stasi nicht vergessen. Zwar wurde man in der DDR auch zu dunkel stalinistischen Zeiten nicht mehr wegen eines Gedichtes erschossen wie noch in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, aber die Verwüstungen, die dieses Regime, in diesem Fall die Stasi, in den Seelen von Opfern und, auf andere Weise, von Tätern hervorgerufen hat, sind erschreckend. Schon die Anzahl der "Soldaten an der unsichtbaren Front" ist erstaunlich. Allein auf der "Linie Kultur" waren laut Joachim Walther rund 1500 IM aktiv, und von den19 Präsidiumsmitgliedern des DDR- Schriftstellerverbandes wirkten im Jahre 1987 immerhin 12 als IM .[6] Die Namensliste derjenigen, die aus den einen oder anderen Gründen mitgemacht haben, sei, so Peter Dittmar, "beachtlich und erschreckend, denn sie reicht von Hermann Kant bis zu Erwin Strittmatter, schließt Paul Wiens, Fritz Rudolf Fries, Peter Edel, Bernhard Seeger, Fred Wander, Benito Wogatzki, Günter Görlich, Uwe Kant, den Kinderbuchautor Gerhard Holtz-Baumert, den Theatermann Manfred Wekwerth und immer wieder Klaus Höpcke ein, und setzt sich bei zahlreichen Mitarbeitern der Verlage und Hochschullehrern fort."[7]

Alte DDR-Ideologen, interessierte ehemalige "Kämpfer an der unsichtbaren Front" und vom gekränkten Ego vieler Ostdeutscher beflügelte Politiker haben es weitgehend erfolgreich verstanden, die Stasiproblematik als eine West-Ost-Kontroverse darzustellen, deren Kern darin besteht, daß die Westler die Stasimitgliedschaft von Ostdeutschen als Instrument benutzen, die Ostdeutschen aus ihren lukrativen Ostjobs zu hebeln. Man hört sogar das Wort Inquisitor, wenn von Joachim Gauck, dem die Verwaltung des in Akten festgehaltenen Herrschaftswissens der Stasi obliegt, die Rede ist, und das von Leuten, die es, wie Schädlich einmal ironisch anmerkte, leider versäumt hatten, den Chef der Stasi, Erich Mielke, als Inquisitor und die Stasi als Inquisition zu benennen.[8]

Hans Joachim Schädlich hat sich verschiedentlich zu diesem komplexen Thema und damit zum Verrat an Mitmenschen, Freunden, Ehepartnern und Kollegen, letztlich, zu Schuld und Verantwortung für die vierzig Jahre Diktatur in der DDR geäußert. Zuerst in seinen kleinen Erzählungen "Unter den Achtzehn Türmen"(1971) und "Kleine Schule der Poesie" von 1976, in denen er die Praktiken der Stasi anhand zweier jugendlicher Touristen in Prag und eines jungen DDR-Autors nachzeichnet.[9] Dann in seinem Roman Tallhover aus dem Jahre 1986, der nichts weniger versuchte, als eine Darstellung des Menschentyps, der sich zur Bewachung und Unterdrückung seiner Mitmenschen unter den verschiedensten Regimen berufen fühlt — zwar mit anderen Mitteln, aber ähnlich vielleicht der Studie zum autoritären Charakter von Horkheimer und Adorno aus den frühen vierziger Jahren. Eine weitere, direkte Auseinandersetzung mit der Staatssicherheit ist der von ihm herausgegebene Band Aktenkundig aus dem Jahre 1992, in dem verschiedene Autoren ihre Erfahrungen mit der Staatssicherheit darlegen. Am eindringlichsten jedoch ist seine kleine Erzählung "Die Sache mit B."[10], deren sprachliche Kargheit und Lakonie von der hilflosen Verzweiflung des Erzählers zeugt. Es geht hier um die Darstellung des Verhältnisses zweier Brüder, von denen einer, der bewunderte ältere, den Jüngeren über Jahre hinweg an die Stasi verrät — eine moderne Kain-und-Abel-Geschichte. Am Ende gesteht der Autor und Erzähler, daß die Erzählung kein Ende habe; die Leser wissen, es ist ja seine eigene Geschichte, die Geschichte des Autors Schädlich.

Viele wohlmeinende Leute hingegen, unter ihnen Politiker und Historiker wie Golo Mann, selbst einige ehemalige Bürgerrechtler, wie z. B. Schorlemmer, wollen am liebsten die Stasiakten schließen oder sie gar verbrennen. Für Schädlich hingegen ist die Aufklärung der Stasiverbrechen eine Arbeit, "ohne die eine demokratische Kultur in Deutschland — auch keine linke — keine Chance hat. Die Aufklärung der Stasiverbrechen ist Teil einer demokratischen Kultur."[11] Minimalbedingung einer demokratisch verfaßten Gesellschaft wäre laut Schädlich, "...daß ein MfS-Spitzel (von MfS-Offizieren ganz zu schweigen), der der SED-Diktatur gedient hat, darauf verzichtet, in der demokratischen Gesellschaft Abgeordneter, Anwalt, Beamter, Bischof, Lehrer, Offizier, Pfarrer, Polizist, Professor, Psychiater, Richter usw. sein zu wollen."[12] Doch danach steht vielen ehemaligen Tätern, Halbtätern und anderweitig in den Bann der Stasi geratenen nicht der Sinn. Sie schweigen über ihre Vergangenheit, fühlen sich von denen, die nachfragen, beleidigt, diskriminiert und sehen sich gern als Opfer. Besonders jene, die in Partei und Stasi an den Schalthebeln der Macht saßen wie z. B. Markus Wolf, berufen sich nun auf das gleiche bürgerliche Recht, daß sie so lange bekämpft hatten, um nun ihre Unschuld zu beweisen, statt sich zu ihren Taten zu bekennen und wenigstens für kurze Zeit, gleichsam symbolisch, ins Gefängnis "des Klassenfeindes" zu gehen — nach ihrer ehemaligen Ideologie eigentlich Ehrensache. Und sie finden im gegenwärtigen politischen Klima, in dem innere Einheit gefordert ist, damit auch immer mehr Gehör.

Um das Erinnern an Schuld und Verantwortung für das repressive Regime in der DDR geht es Schädlich auch bei seinen Auseinandersetzungen mit den sogenannten kritisch-loyale DDR-Autoren wie z. B. Christa Wolf, Volker Braun und teilweise Stefan Heym und Stephan Hermlin, denen er das Wort von den literarischen Mitläufern vorwarf.

"Der Anspruch mancher literarischer Mitläufer, das eigene Werk enthalte das eigentliche, gegen das System gerichtete subversive Potential, stellt eine weniger kuriose Variante selbstrettender Rechtfertigung vor. Angesichts der Opfer, die zum Schweigen verurteilt waren, mag von Anmaßung zu reden sein..."[13]

Ob man das polemische Wort von den literarischen Mitläufern für gerecht hält, das Schädlich auf diese Autoren gemünzt hatte[14], die Vehemenz und Konsequenz, mit der er sich so von den ehemals als kritisch gegoltenen Autoren abgrenzt, ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wie er selber von ihnen behandelt wurde. Denn für sie war er, als es die DDR noch gab, einfach nicht akzeptabel, weil die Ablehnung seines "bürgerlichen" Demokratieverständnisses die Bedingung ihrer eigenen, loyalen Kritik am realen Sozialismus war. Im Vergleich mit ihren Werken mußte sich z. B. Versuchte Nähe, das Texte aus den Jahren 1969 bis 1977 enthält, wie "Das Andere" schlechthin ausnehmen, das ihr eigenes Schaffen irgendwie gealtert, ideologisch vorbelastet erscheinen ließ. Da schrieb jemand, als kennte er die Regeln nicht, als wüßte er nicht, wo er lebte, als erwartete er tatsächlich, daß sich Lektoren für Bücher einsetzten, die viel mit der Realität des Landes zu tun hatten aber wenig mit dessen Ideologie. Da schrieb jemand, als gäbe es keine Partei, keine Staatsräson und keine Bedrängnis durch die Staatssicherheit, so als hätte der Schreiber nie etwas von Hetze gegen den Staat als eines Paragraphen des Strafgesetzbuches gehört. Hier bestand jemand auf bügerlichen Rechten, die offiziell, wie allgemein bekannt, doch schon lange mit "neuer Qualität" verwirklicht waren. Hier schrieb jemand, der wie selbstverständlich Tabus brach — ein moderner Kaspar Hauser unter den halbwegs Einsichtigen und Mitmachern. Ja wo leben wir denn und muß man dem denn alles erklären, werden sie sich gefragt haben? Daher die Gereiztheit des Tones von Kurt Batt, des damaligen Cheflektors des Hinstorff Verlages, der es als eine politische Zumutung betrachtete, daß man ihm überhaupt solche Texte vorlegte und es seinem Freund Bernd Jentzsch verbot, in seinem Beisein über Schädlich zu reden.[15] Daher die Ambivalenz in Christa Wolfs kurz vor seiner Ausreise gegebenen Rat an ihn, daß Leute, die getan hätten, was er getan hätte, besser das Land verließen, was entweder bedeuten konnte: Ich finde es richtig, daß du gehst und ich sympathisiere mit dir; oder aber: Ich finde es richtig, daß du gehst, weil du "uns" hier störst [16] — auf jeden Fall ein nichttröstender Satz, der die Kluft zwischen beiden Autoren schmerzhaft aufklaffen ließ. Und Stefan Heym wollte ihn gar aus seiner Wohnung entfernen, als er Mitte der siebziger Jahre anläßlich einer Zusammenkunft sich kritisch fühlender Intellektueller davon sprach, daß es die später ausgebürgerte Friedensgruppe in Jena war und nicht sie, die die eigentliche Opposition darstelle und daher Unterstützung verdiene. Stephan Hermlin rief noch 1984, der Zeitpunkt zu dem Günter Mittag wußte, daß die DDR ökonomisch bankrott war, den weggegangenen Autoren den bösen Satz nach: "Diese Herrschaften sind Ausreiser, Ausreiser mit Sack und Pack, bei hellichtem Tage, mit schönen Papieren, auf ihre eigene Veranlassung und oft mit freundlicher Verabschiedung."[17] Das heißt, Leute wie Schädlich wurden nicht nur vom Staat wie Feinde behandelt, sondern waren auch unerwünscht bei Autoren, die diesem Staat kritisch-loyal verbunden waren und sich nun aber vor allem an ihre Kritik zu erinnern scheinen.

Als Aufruf zur Erinnerung an Verantwortung und Schuld und als Signal der Nichtversöhnung ist auch seine Gegnerschaft zur Vereinigung des PEN-Zentrums West mit dem PEN-Zentrum Ost zu verstehen, das als Institution trotz der Aufnahme vieler neuer Mitglieder für ihn symbolisch für die repressive Literaturpolitik der DDR steht. Zusammen mit Herta Müller, Richard Wagner, Sarah Kirsch und anderen hat er sich konsequent sowohl gegen die Vereinigung der Akademien als auch der PEN-Zentren gewandt. Es irritierte ihn, daß die ehemaligen Mitglieder des PEN der DDR im Gegensatz zu den Mitgliedern des Schriftstellerverbandes der DDR, die ihren Verband schließlich doch abschafften, nicht die Einsicht hatten, einen PEN-Club aufzulösen, der noch im Oktober 1989 in einer von Günter Cwojdrak, Friedrich Dieckmann, Fritz Rudolf Fries, Stephan Hermlin und anderen unterschriebenen Grußadresse an Erich Honecker geschrieben hatte: "...Die Richtlinien des internationalen PEN verlangen von uns, ... die Freiheit des Wortes zu verteidigen. Wir haben die Deutsche Demokratische Republik immer als einen Ort angesehen, an dem sich unsere Grundsätze verwirklichen lassen."[18] Es irritierte ihn, daß sich der Ost-PEN als Nachfolgeorganisation eines DDR-PEN definierte, der sich nie für die verfolgten, eingesperrten oder außer Landes getriebenen Autoren der DDR eingesetzt und selbst einen Klaus Höpcke in seine Reihen aufgenommen hatte. Und es irritierte ihn weiterhin, daß nach wie vor nicht ganz klar ist, wie viele gegenwärtige Ost-PEN-Mitglieder politischen Dreck aus DDR-Zeiten am Stecken haben.[19] Ich vermute, es irritiert ihn auch, daß ehemalige Freunde, wie Günter Grass, selbst einen Hermann Kant als anregenden Gegner im gemeinsamen PEN-Zentrum willkommen heißen würden, weil, wie Grass sagte, er ja schließlich gerade mit dem Ex-Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes den Streit seit Jahrzehnten gepflegt habe [20], während Stimmen wie die seine immer mehr als störend empfunden werden. Ja in Umkehrung der ehemaligen Verhältnisse auf dem Gebiet der DDR wird nun denen, die es mit der Erinnerung, mit Klarheit und mit Aufarbeitung der Vergangenheit halten, um noch einmal dieses überstrapazierte Wort zu gebrauchen, von einigen vorgeworfen, daß sie Gesinnungen erschnüffeln und zu Schuldbekenntnissen nötigen. Reinhard Lettau sprach in einem Interview sogar davon, daß man die "Motive der Dumpfmeister, die gegen eine Vereinigung sind, höchstwahrscheinlich nur noch mit Hilfe psychiatrischer Kenntnisse verstehen könne."[21]

Obwohl der West-PEN sich im Mai 1996 gegen die Vereinigung beider PEN-Zentren ausgesprochen hatte, wird sie letztlich nicht aufzuhalten sein. Die Rhetorik gegen die Vereinigungsgegner nimmt härtere Formen an. So hatte z. B. Günter Grass diesen Beschluß vom Mai als "Siegerattitüde" bezeichnet, die ihn an die Rückkehr in die Zeiten des Kalten Krieges erinnere. In diesem Klima ist es dann nur zu verständlich, wenn Hans Joachim Schädlich wie auch Herta Müller, Sarah Kirsch, Richard Wagner und Bernd Jentzsch und früher auch schon Jürgen Fuchs aus dem PEN-Club austraten, womit, wie Lutz Rathenow anmerkte, ein "dissidentenfreier PEN" geschaffen wäre, der alle Einigungsprobleme los sei".[22]

Es wäre kurzsichtig, die Ursachen seiner kompromißlosen Haltung gegenüber den Symbolen, den Tätern, den willigen und halbwilligen Opfern der Diktatur in persönlichen Kränkungen, unangenehmen Erfahrungen mit dem Staatsapparat der DDR oder der Verfolgung durch die Stasi zu sehen. Umgekehrt, es ist diese Haltung, die ihm viele Unbilden eingebracht hat. Auch würde es ihm nicht gerecht werden, wenn man nicht sähe, daß seine Gegnerschaft Diktaturen gegenüber prinzipieller Natur ist und jedes repressive Regime meint — man denke nur an seine Rede anläßlich der Verleihung des Kleistpreises (1996), seine Romane Tallhover (1986) und Schott (1992) und die kleine Erzählung "Fritz"(1985) — und seine ganze Person betrifft. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sie in seiner ästhetische Position eine Parallele findet.

Schädlich geht, besonders seit den frühen 90er Jahren, von der Autonomie der literarischen Sphäre aus, die seiner Meinung nach demokratische gesellschaftliche Verhältnisse voraussetzt. Seine Werke sind nicht als Gesinnungsliteratur zu verstehen. Fern liegt ihm das Anliegen zu überreden. Fern liegen ihm auch quasi-religiöse Bedürfnisse, die nach Lebenssinn und Autorität in Literatur und Kunst suchen bzw. diese in der Literatur schaffen wollen. Er überzeugt gerade deshalb, weil er nicht predigt. Selbst seine frühen Texte, die in ihrer Opposition gegen die Verhältnisse in der DDR eng an sie gebunden scheinen, wie zum Beispiel die Beschreibung des Bahnhofs Friedrichstraße in Berlin ("Einseitige Ansehung") oder des Bombasts eines Staatsbesuches in "Besuchs des Kaisers von Rußland bei dem Kaiser von Deutschland" aus seinem ersten Erzählband, Versuchte Nähe (1977), verbleiben in einer distanzierten, verfremdenden Objektivität, die durch Wertschätzung des Details, skrupelöse Akribie der Beschreibung, Ironie und einen Sinn für Geschichte gekennzeichnet ist, der verhindert, daß die Texte in den Fehler einer bedeutungslosen Faktographie, wie Wolfgang Emmerich es nannte, verfallen.[23] So lauten zum Beispiel zwei Absätze aus "Einseitige Ansehung":

Am Fuße der zweiten Treppe blickt einer flüchtig nach links, wo die Straße in überblickbarer Entfernung auf eine größere Straße trifft, die — von Südsüdost nach Nordnordwest — links über eine Brücke führt, rechts aber, in einigem Abstand, nicht sichtbar, zwischen Eisengeländern fortgeht unter einer Brücke, die zwei Teile des gleichen Gebäudes miteinander verbindet.

Einer blickt nach rechts. Er sieht das Lastschiff aus Hamburg mit Nahmen Wilhelm Sohl an einen Bohlensteg anlegen, der der linken Ufermauer vorgelagert ist. Vergleichbar bekleidete Personen, eine begleitet von einem schwarzbraunen Schäferhund, besteigen das Schiff.[24]

Diese Sätze, Teil einer längeren, "kalten" Beschreibung der Äußerlichkeiten des Ostberliner Bahnhofs Friedrichstraße, seiner geographischen Lage und des Standorts des Erzählers, ermöglichen dem ostdeutschen Leser verschiedene Aspekte seiner politischen Situation in den siebziger Jahren wiederzuerkennen: Ein Schiff aus dem deutschen Hamburg wird von Uniformierten (vergleichbar gekleidete Personen) mit Schäferhund im deutschen Berlin durchsucht; einer der bekanntesten Orte in Ostberlin, der Bahnhof Friedrichstraße, eigentlich Ort des Reisens und der Kommunikation wird hier als Trennlinie zwischen Ost und West deutlich, in diesem Falle auch als eine Art Endstation für Schiffe, die symbolisch für Weite, Offenheit und das Leben selbst stehen; ein Schiff legt an; kein Schiff läuft aus; es wird durchsucht; den Erzähler scheint das nichts anzugehen; er registriert nur (ändern könnte er das sowieso nicht); die genaue, hölzern verfremdende Sprache spricht von der Unnatürlichkeit der Situation und, in Verbindung mit dem Bild des schwarzbraunen Schäferhundes, evoziert Ahnungen von ihrer Affinität zur Situation früherer deutscher Umstände, ja selbst zum Grenzübertritt Heinrich Heines, wie er ihn in seinem Deutschland, ein Wintermärchen in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben hat. Schon die Wahl des Erzählobjekts war wohl ein Affront gegen die herrschende Sicht von der Literatur als eines Vehikels der Verschönerung nicht allzu schöner gesellschaftlicher Umstände.

Doch ist der Text insgesamt von anderen Lesern auch anders zu verstehen. Ohne das hier weiter auszuführen, was schon in seinen ersten Texten aus der Versuchten Nähe erkennbar wird und was sich dann in späteren Werken, besonders in seinem Roman Schott, sehr verstärkt, ist, daß Schädlich in einem großen Teil seiner fiktiven Texte auch Raum "für das Belieben des Lesers oder Zuschauers"[25] läßt, indem er ihnen trotz aller Detailfreude mit seinen Beschreibungen Modelle von Wirklichkeit liefert, nicht deren Abklatsch. Somit entgeht er der Gefahr, eine Literatur zu schaffen, die sich in ihrer pädagogischen, emanzipatorischen oder in ihrer dissidentischen Funktion erschöpft und damit zu einer Behauptungsliteratur - einer Art umgekehrtem sozialistischem Realismus — verflacht. Daß diese ästhetische Grundierung seiner Literatur, der Raum, den er dem Leser und auch sich selbst als Autor läßt, schwer zu vereinbaren sind mit den Texten — Texten hier im weitesten Sinne verstanden — politischer Diktaturen, liegt auf der Hand.

Doch warum noch jetzt, fast 10 Jahre nach dem Fall der Mauer der Zorn über die Taten der enthusiastischen und halbfreiwilligen Vertreter des alten Regimes? Sind nicht der Verrat der Herrschenden an den Beherrschten und der Verrat am Nächsten typisch für den Lauf der Welt? Warum nun nach dem Fall der Mauer der Ärger über ihre Kehrtwendungen und Gedächtnislücken? Ist nicht Veränderung das Gebot der Stunde? Wurde nicht auch aus einem Saulus ein Paulus? Verbirgt sich nicht gerade in der Fähigkeit, sich relativ schnell neuen Normen anzupassen, eine, fast möchte man sagen, evolutionäre Notwendigkeit? Nun gut, die Stasileute machen jetzt auf Unternehmer; die meisten Autoren der DDR waren schon immer im Widerstand oder wenigstens auf "aufregende Weise immer mittendrin in den Auseinandersetzungen"[26]; eine Reihe dieser Widerständler holt nun ihren Widerstand gar an der Bundesrepublik nach, verspätet und am falschen Objekt; andere verschönern die Jahre vor 1989 und bessern so auch ihre eigene unspektakuläre Biographie nach, verfallen der Ostalgie — ist anderes zu erwarten?

Schädlich erhofft sich tatsächlich anderes. Für ihn gibt es mit dem 3. Oktober 1990 keine Stunde Null, zu der alles Vergangene ausgelöscht und ein neuer Anfang gefunden werden konnte, so sehr sie "dem Menschen in seiner Neigung zum Vergessen oft als wünschenswert erscheint".[27] Denn die Vergangenheit lebt in der Gegenwart weiter, und die Wunden der Opfer würden nicht weniger schmerzen, wenn sie "alles auf sich beruhen ließen" Außerdem fragt er sich mit Bezug auf die Täter: "wie kann das Böse wieder gutgemacht werden, wenn in der sogenannten Stunde Null das Vergessen ausgerufen wird?"[28] Denn nicht "das Vergessen von Schuld, nicht die selbst gelieferte Rechtfertigung, sondern daß einer eigene Schuld annimmt, kann den Schuldigen befreien".[29] So wünschte er sich , daß die Einzelnen, die von der Diktatur in der DDR profitierten, ihre Rolle gerade nicht vergessen, sondern über sie nachdenken und womöglich die Schuld auf sich nehmen, die sie haben. Das Vergeben würde dann schon folgen. Einige wenige haben es getan, insgesamt ist man davon jedoch weit entfernt. Schädlichs Einspruch gegen diese Art des Verschweigens und Vergessens wirkt immer anachronistischer. Seine Forderung, "daß jemand, der seine Ansicht und sein Tun an eine Gewaltherrschaft geknüpft hat, sich ganz und gar verantworte vor anderer Ansicht und anderer Ordnung"[30], — es geht Schädlich hier nicht um strafrechtliche Verantwortung, sondern um individuelles Aufarbeiten von moralischer Schuld — scheint im heutigen Deutschland vollkommen utopisch, obwohl gerade das mehr zur Klarheit über die individuelle und kollektive Vergangenheit von DDR-Bewohnern und damit mehr zur inneren Einheit beitragen würde, als alle gemütvollen Versuche des gemeinsamen gesamtdeutschen Vergessens und Verzeihens.

Ohne diese individuelle Klarheit verbleiben viele im Stadium der Melancholie, der Ostalgie (einer Mischung aus Melancholie und Nostalgie), neuerdings auch im Stadium des Osttrotzes befangen. So berichtet der Spiegel in seiner Ausgabe vom 4. 11. 96, daß den Ostdeutschen die DDR um so liebenswerter erscheint, desto länger Mauersturm und Wiedervereinigung zurückliegen. "Werden Ostdeutsche nach ihren Empfindungen bei der Wiedervereinigung befragt, so erinnern sich lediglich sieben Prozent an das schöne Gefühl 'Freiheit', gut dreimal so viele aber an ihre Ängste vor beruflichem und sozialem Abstieg, vor der Zukunft und einer Verschlechterung der persönlichen Lebensverhältnisse."[31]

Was heute im versöhnungsbereiten Westen und im neutrotzigen Osten oft vergessen wird, ist, daß es kein moralisches Äquivalent zwischen einer Diktatur (auch wenn sie sich proletarisch nennt) und einer demokratisch verfaßten Gesellschaft geben kann. Schädlich hat sich stets gegen so eine Verwischung der Grenzen ausgesprochen. Sätze von Vertretern eines sogenannten Osttrotzes, nach denen in der DDR nicht alles falsch gewesen war,[32] welche auf die Gleichsetzung beider gesellschaftlichen Systeme zielen, müssen in Schädlichs Ohren so klingen wie: "Der Führer hat ja schließlich die Arbeitslosigkeit beseitigt und die Autobahn gebaut", denn sie relativieren und degradierenden die sehr persönliche Verzweiflung über den Verrat des Bruders, den Schmerz der anderen Opfer in der DDR und die weitergehende, ohnmächtige, hilflose Wut über die Toten in den Lagern Sibiriens, in den Steppen und Städten der Kulturrevolution Chinas und in den "killing fields" von Kambodscha. Doch Verzweiflung und Wut beginnen nun scheinbar zu verstummen vor der imaginierten Gemütlichkeit der Kampfgruppeneinsätze, der Lagerfeuer und der anregenden Gespräche im ach so engen Freundeskreis. Und die durch mangelnde Freiheit erkaufte soziale Sicherheit auf kleinstem ökonomischen Nenner sowie die aus der gemeinsam erfahrenen Unterdrückung scheinbar entstandene kollektive Wärme in der DDR, werden nun vielen als wünschenswerte Alternative zur neuerworbenen Kälte der Freiheit in den westlichen Demokratien angesehen.

Die Sorge um diesen Mangel an Freiheitswillen und an demokratischem Bewußtsein macht es verständlich, daß Schädlich die Wiedervereinigung Deutschlands nicht als nationale Aufgabe im Sinne der Schaffung einer einheitlichen deutschen Nation als der den Phantomschmerz des Wärmeverlustes stillenden und sinnstiftenden Heimat sieht, sondern daß er das Zusammenwachsen der Deutschen vor allem als Demokratisierung des Ostens begreift. Sein Patriotismus ist, in diesem Punkte Jürgen Habermas' ähnlich, ein Verfassungspatriotismus.

"Wenn man das in Ostdeutschland in die Köpfe bringen könnte, die Grundsätze einer demokratisch verfaßten Gesellschaft, dann wären die beiden Teile Deutschlands — also in Westdeutschland ist das ja auch gar nicht immer klar — dann wären die innerlich vorangekommen im Sinne einer Einigung. Und dazu braucht man nicht das Nationale, überhaupt nicht, denn gerade das verbindet ja mit anderen Demokratien, unabhängig vom Nationalen. So denkt man ja auch in England oder Frankreich oder in Holland, besonders in Holland."[33]

Schädlichs Rigorismus beim Bestehen auf Wahrhaftigkeit und Genauigkeit und sein Erinnern an die Details der Unterdrückung in einem Deutschland, das auf Versöhnung aus ist, wirken isolierend auf ihn zurück. Um noch einmal Manès Sperber zu zitieren: "Niemand ist so einsam wie ein Mensch, der es ablehnt, zu vergessen."[34] Er nimmt es in Kauf. Mag das Vergessen und Vergeben die Sache der Mehrheit sein, wünschenswert ist, daß wenigstens ein paar Unverbesserliche auf unpopulären moralischen Position bestehen, auch wenn sie manchem als selbstgerecht erscheinen sollten. Wenn das Vergessen- und Nicht-zur-kenntnis-nehmen-wollen nach dem Zusammenbruch einer anderen deutschen Diktatur ein Beispiel ist, wird es nur noch gute zwölf bis fünfzehn Jahre dauern, bis Stimmen wie die seine wieder mehr Gehör finden. Ob das ein Trost ist?

Anmerkung: Obiger Artikel erscheint auch in "Colloquia Germanica", 4/97,eine Zeitschrift, die im Francke-Verlag herausgegeben wird.


Endnoten

[1]. Der Titel dieses Aufsatzes entspricht dem des von Hans Joachim Schädlich herausgegebenen Buches Über Dreck, Politik und Literatur, (Berlin: Literarisches Colloquium Berlin, Westkreuz-Druckerei, 1992).

[2]. Siehe H. Domdey, "Die DDR-Literatur als Literatur der Epochenillusion."   Zur Literaturgeschichtsschreibung der DDR-Literatur. Die DDR im vierzigsten Jahr. Geschichte, Situation, Perspektiven. XXII. Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. 16. bis 19. Mai 1989. (Köln: 1989).

[3]. "Und unverständlich wird mein ganzer Text" - aus dem Gedicht Volker Brauns "Das Eigentum" ("Nachruf"). Volker Braun, "Das Eigentum."DIE ZEIT vom 10.8.1990; unter dem Titel 'Nachruf' auch in: Grenzfallgedichte. Eine deutsche Anthologie, hrsg. v. Anna Chiarloni und Helga Pankoke (Berlin: 1991), 109.

[4]. Zitiert in: Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, (Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1996) 475.

[5]. Manès Sperber, Wie eine Träne im Ozean. Vorwort. (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1980) 5.

[6]. Joachim Walther, Sicherungsbereich Literatur (Berlin: Ch. Links

Verlag, 1996) 557-558.

[7]. Peter Dittmar, "Keine Wanzen, weil die Dielen knarrten," Die Welt, 2. Oktober 1996.

[8]. Hans Joachim Schädlich, hrsg., Aktenkundig (Berlin: Rowohlt, 1992) 7.

[9]. Ein scheinbar fiktiver Vorgang, der sich ironischerweise aber in fast der gleichen Form als Lehrfilm der Stasi wiederfindet. Im Lehrfilm wird ein Mitarbeiter der Stasi, welcher überlaufen wollte, aufgrund eines vom ungarischen Geheimdienstes mitgeschnittenen Telefonanrufs durch die Analyse seines Dialekts identifiziert. Yaak Karsunke, "Benennungsverbote," Auskünfte von und über Hans Joachim Schädlich, Fußnoten zur Literatur, Hrsg. Wulf Segebrecht (Bamberg: Universität Bamberg, 1995).

[10]. In Kursbuch Heft 109. Auch in Fußnoten zur Literatur, Nr 32.

[11]. Schädlich, Aktenkundig , 9.

[12]. Schädlich, Aktenkundig, 169.

[13]. Hans-Joachim Schädlich, "Thesenpapier," gelesen auf einer Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung, am 10. 2. 1991. Die Welt am Sonntag Nr. 7 vom 17. 2. 1991.

[14]. Hans Joachim Schädlich, "Thesenpapier," gelesen auf einer Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung am 10. 2. 1991, Die Welt am Sonntag Nr. 7, 17. 2. 1991.

[15]. Siehe "Der andere Blick," Über Dreck, Politik und Literatur, 112.

[16]. Wolfgang Müller, "'Das beste ist natürlich, man hat gar nichts mit Diktaturen zu tun:' Ein Gespräch mit Hans Joachim Schädlich." GDR-Bulletin, Vol. 22, No 1, (1995): 22-23.

[17]. Zitiert in Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, 258.

[18]. Zitiert nach Hans Joachim Schädlich, Kommentar bei der Veranstaltung "Unheimliche Aufklärung I" (Henryk Broder, Karl Corino und Hans Joachim Schädlich sprechen über den Umgang mit Karl Corinos Buch und den Legenden des Stephan Hermlin) am 9. Januar 1997 im Berliner Literaturhaus.

[19]. Zu den bekannten IMs, die im PEN operiert haben, siehe Joachim Walther, Sicherungsbereich Literatur, 801-815.

[20]. Zit. in Jost Nolte DIE WELT, 20.11.1995.

[21]. Berliner Zeitung, 24.02.1995

[22]. Berliner Zeitung, 20.07.1996.

[23]. Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR. (Leipzig: Kiepenheuer Verlag, 1996) 426.

[24]. Schädlich, Versuchte Nähe, 94.

[25]. Hans Joachim Schädlich, "Zwischen Schauplatz und Elfenbeinturm," Edwin Kratschmer, Hrsg., Erinnern und Provozieren. Jenauer Poetik-Vorlesungen "zur Beförderung der Humanität" 1995/96, (Köln: Heinrich-Böll-Stiftung, 1996) 107.

[26]. Daniela Dahn, Westwärts und nicht vergessen (Berlin: Rohwolt, 1996) 23.

[27]. Hans Joachim Schädlich, "Die Stunde Null oder ist heute gestern?" Dichter predigen in Schleswig Holstein, Hrsg. Hans Joachim Schädlich (Stuttgart: Radius-Verlag, 1991) 47.

[28]. Schädlich, Dichter predigen, 54.

[29]. Schädlich, Dichter predigen, 54.

[30]. Schädlich, Dichter predigen, 55.

[31]. Der Spiegel, 4. November, 1996.

[32]. Zit. in "Mangelnde Gleichheit kann lebensgefährlich sein," Frankfurter Rundschau, 30. September 1996.

[33]. Wolfgang Müller, "'Das beste ist natürlich, man hat gar nichts mit Diktaturen zu tun': Ein Gespräch mit Hans Joachim Schädlich," GDR Bulletin, Vol.22, No.1, (1995): 22-23.

[34]. Manès Sperber, Wie Tränen im Ozean, 477.


zurück zum inhaltsverzeichnis