glossen: rezensionen


Klaus Schlesinger: Die Sache mit Randow. Roman (Berlin: Aufbau-Verlag, 1996), 318 Seiten.

Hier handelt es sich um eine Rückschau auf die unmittelbare Nachkriegszeit im noch jungen DDR-Staat, abgehandelt im Ostteil Berlins, genau gesagt im Prenzlauer Berg, im südlichen Teil der Dunckerstraße, genannt die Vorderduncker. Schlesinger zog zwar 1980 in den Westteil der Stadt, kommt aber vom Thema Ost nicht los; und so muß wohl auch dieser Erinnerungsroman im weitesten Sinne als ein Versuch gesehen werden, die Geschichte der DDR neu zu schreiben. Weniger um historisch belegte, dokumentierte Wahrheiten geht es hier jedoch, vielmehr um das eigene Verstricktsein in Ereignisse, die das Gedächtnis verdrängt hat. Schlesinger mobilisiert im zerfallenden DDR-Staat Erinnerungen seines Ich-Erzählers, die schmerzhaft sind. Eine Gedächtnisschicht nach der anderen trägt dieser Erzähler narrativ ab, indem er Geschichten über das Damals erzählt, farbenreiche Detailschilderungen mit Lokalkolorit -- bis dann zum Schluß, auf der letzten Seite, das gelöschte Bild, die eigene Verstrickung und das Mitmachen, freigelegt wird. Vierzig Jahre hat es gedauert, den gestört/verstörten Blick auf ein Ereignis zu lenken, das im Prozeß der Umstrukturierung von 1989 und der Neuinterpretierung von Gesetz und Justiz als eine historische Wahrheit erkannt wird: das juristische Fehlurteil über die Sache mit Randow/Gladow. Worum geht es?

Die Rekonstruktion des politisch aufgeladenen Kriminalfalles wird am Beispiel des Führers einer Halbstarkenbande, an Randow, abgehandelt, einer fiktiven Figur, um die sich historische Motive eines wirklichen Kriminellen, des berüchtigten achtzehnjährigen Bandenführers Gladow ranken, der als Minderjähriger nach einem alten Nazi-Sondergesetz für Jugendliche in der sozialistischen DDR hingerichtet wurde. Im Umfeld der Wende recherchiert der Ich-Erzähler, der Fotograf Tommie Thomale, der ein Jugendfreund Randows war, diesen Fall sozialistischer Rechtsbeugung. Mißtrauisch bemerkt Thomale das Interesse seines Vorgesetzten von der Zeitung, dem es in der neuen politischen Situation Ende der achtziger Jahre um Medienwirksamkeit geht. In Gestalt eines ehemaligen Cliquenmitgliedes taucht dann auch die Stasi taucht auf, die Enthüllungen verhindern will. Verhindern und blockieren will vor allem aber Thomale selbst. Er weiß es nur nicht. Es ist ihm nicht bewußt, und so schweift er immer wieder neu vom Thema ab, erliegt erfolgreich den Tricks der Verdrängungsmechanismen. Er lenkt den Blick auf Nebenschauplätze, auf scheinbar Unwichtiges. Schlesinger verknüpft zwei Zeitebenen und zwei Ich-Perspektiven, von denen die erste, die des sich erinnernden erwachsenen Thomale, blaß und konturlos -- wie die vergehende DDR -- wirkt . Die zweite Ebene führt in die farbenreiche, aktionsgeladene Welt des sechzehnjährigen Tommie, der in unmittelbarer Nachkriegszeit in Ostberlin die Anfänge der DDR erlebt. Hier liegt der Schwerpunkt.

In einer Fülle von Episoden, Erlebnissen, Vignetten, Detailschilderungen führt Schlesinger Reales und Subjektives vor: ein Zeitbild und Sittenbild entsteht, die von Augenzeugen erlebte Historie; das alles auf der Folie Berlins, lokal eingefärbt, von Humor durchdrungen. Der Leser hört von den auf den Straßen herumlungernden, noch vom Krieg geprägten Jugendlichen, von Banden- und Cliquenbildung, von Kinobesuchen in Westberlin, Filmschauspielern, Boxern, Sex, kurzum, von einer authentischen Halbstarkenwelt Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre. Das alles auf einer sozialgeschichtlichen Folie, die Einblick gibt in Schwarzmarkt, Schmuggel, Schiebereien, Währungsmanipulation, politische Indoktrinierung und Republikflucht. Vor allem aber hört der Leser von Randow, dem bewunderten Bandenführer, der Raubüberfälle verübt, einen Juwelier und Polizisten erschießt und sich dann auf dem Dachboden verbirgt bis -- ja, bis ihn jemand verrät, mit der Macht kooperiert, also mitmacht. Ein verdrängtes Erlebnis wird wieder sichtbar: der Erzähler selbst, Tommie Thomale, erscheint im Gespräch mit dem Polizeikommissar. Nicht überraschend wird in dieses Thema der Verstrickung bzw. Mitschuld schlaglichtartig auch der Gedanke an den eigenen Vater eingeblendet. In der Minute des Verrats denkt Thomale an ihn, "genaugenommen den Schatten, den sein Körper an die Wand mit dem Hitlerbild geworfen hat", als er in der Frühe auf Nimmerwiedersehen an die Westfront gefahren ist. Schatten, Vertuschung, Nichtwissenwollen, Vergessen überall in diesem Buch der Zäsuren.

Sucht der Leser in dieser Rückschau jedoch nach Anschuldigungen oder nach einem moralischen Anliegen des Autors, so tut er das vergeblich. Das mag im Rahmen geleisteter Erinnerungsarbeit auf diesen oder jenen Leser unbefriedigend wirken. Für andere wiederum liegt gerade in dieser Aussparung die Stärke des Romans, sein Reiz. Schlesinger läßt die Farbe und die Lebhaftigkeit des authentischen Details für sich sprechen. Ansonsten ist sein Roman eine einzige nüchtern-distanzierte Bilanz: So war es nun einmal in der Welt der Mitläufer, und so können kleinere zu größeren Verbrechen führen, nicht unbedingt aus politischen Motiven, Wichtigtuerei und Angeberei tun es auch. Das überzeugt. Das weitgespannte Spektrum kaleidoskopartig zusammengefügter Einzelheiten und die dahinter versteckten psychologischen Motive machen Schlesingers Werk zu einem Roman, der vieles in einem ist: ein Berlin-Roman, ein Geschichtsroman, eine Reportage oder Sozialgeschichte, nicht zuletzt aber auch eine äußerst spannende Art von geschichtlichem Kriminalroman oder Psychokriminalroman. Die Lektüre lohnt sich. Der Roman ist durchaus zu empfehlen.

Christine Cosentino
Rutgers University



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