glossen: tagungsbericht


Tagungsbericht zum Colloquium Kunst und Freiheit — Literatur und Diktatur (Jena, 14. - 16. 11. 1997)

Aus den USA kommend, Landung in Frankfurt, sanft-bestimmte Geräusche der Ansagen, elegante Reklamen für Autos, Shampoo, Siemens-Nixdorf, investieren und nicht verlieren, jetzt billiger telefonieren, Paß zeigen, Zoll, Dr. Müllers Pornoshop, Rolltreppe zum anderen Teil des Flughafens, Autovermietung, schon saß ich in meinem dunkelgrünen Opel, suchte auf der Autokarte nach der E 40 Richtung Eisenach, Weimar, Gotha, Jena. Raus aus dem Parkhaus auf die Zufahrtstraße und in den Stau. Niesliger, kalter Regen und Berufsverkehr um Frankfurt herum, "stop and go"; hastig schlägt der Scheibenwischer aus, viel war trotzdem nicht zu sehen.

Seit knapp zwanzig Stunden war ich nun unterwegs und hatte Mühe, meine Augen offenzuhalten. Endlich dem Großraum Frankfurt entronnen, schnelleres Fahren wäre möglich: erst einmal auf eine Raststätte. Dann weiter. Farbige BMW- und Mercedeswagen rasen links an mir vorbei, hinterlassen Wolken von Wassertropfen. So schnell fährt man zu Hause in Carlisle nicht. Es wird bergig. Vielleicht wäre es besser, noch zu tanken, wer weiß, wie lange noch zu fahren ist. Zweieinhalb Stunden sollten es sein, die mich von der kleinen Universitätsstadt im Thüringischen trennten, genauso lange, wie ich schon unterwegs war. Alsfeld, Bad Hersfeld, lieber noch einmal vor der Grenze Halt machen. Doch die Grenze kommt nicht. Keine Mauer, kein Stacheldraht, keine nackten Streifen in der Landschaft, dann plötzlich die Raststätte Eisenach. Ich bestelle mir eine Bockwurst — sie schmeckt noch so, wie vor 25 Jahren unter dem Brückenbogen am S-Bahnhof Friedrichstraße —, knackige Haut, festes, leicht angeräuchertes Fleisch, das Brötchen nicht mehr ganz so hart, Vita Cola gibt's nicht mehr. Eine Gruppe von älteren Leuten mit gefütterten blauen Nylonanoraks drängt an mir vorbei, "Muddi, da müssen mer durch." Schließlich die Abfahrt Jena-Lobeda. Die Stadt fängt mit den häßlichsten Plattenhäusern an, die man in der Republik gebaut hat. Es regnet noch immer. Ich nehme im Schwarzen Bären Quartier — im Schwarzen Bären nimmt man Quartier und ißt gehobene deutsche Küche, noch immer, schon wieder, ich weiß es nicht.

Jena ist nicht nur bekannt durch die alt-ehrwürdige Universität, an der Friedrich Schiller seine akademische Antrittsrede "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte" hielt und an der es schon vor dem Machtantritt der Nazis den ersten deutschen Professor für Rassenkunde gab — im Beisein Hitlers 1930 in sein Amt eingeführt — oder durch die Schottwerke oder seine große Autorin Ricarda Huch. Jena ist auch der Ort, an dem zu DDR-Zeiten schon in den siebziger Jahren von Jürgen Fuchs, Wolf Biermann und Lutz Rathenow geleitete oder inspirierte dissidentische Gruppen entstanden. Also ein guter Ort für eine Tagung, die sich im Kern gegen jede Form der Diktatur richtete.

Das "Jenaer Colloquium über Kunst und Freiheit — Literatur und Diktatur", dessen geistige Väter wohl Jürgen Fuchs und Edwin Kratschmer gewesen sind, wurde von verschiedenen Organisationen und Einzelpersonen getragen. Zu nennen wären das Collegium Europæum Jenense, eine universitätsnahe Vereinigung mit enger Verbindung zu ehemaligen Dissidentengruppen in der DDR, die Böllstiftung, der Exil-PEN in London, die Universität Jena und, last but not least, die Jenaer Poetikvorlesungen, für die das Colloquium Zusammenfassung und Höhepunkt ihrer bisherigen Veranstaltungen war. Eingeladen und gekommen waren etwa 50 Autoren und einige Literaturwissenschaftler. Viele, einschließlich derer, die aus ihren Ländern vertrieben wurden, kamen aus Deutschland, andere aus England, Rußland, Kroatien, Südafrika, Rußland und den USA.

Auftakt und offizieller festlicher Höhepunkt des Colloquiums war die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Collegium Europæeum Jenense an den 80jährigen Fritz Beer , der, als von den Nazis rassisch und politisch Verfolgter und Kämpfer gegen die braune Diktatur, seit vielen Jahren dem Exil-PEN in London als Präsident vorsteht. Gut, daß so viele Studenten unter den Zuhörern im überfüllten Auditorium Maximum der Universität waren, erlebten sie doch einen Mann, der sein Leben dem Kampf gegen Diktatur und Unterdrückung gewidmet hatte — eine ehrenvolle und vorbildliche Biographie. Lehrreich und bedrückend war am gleichen Nachmittag der Vortrag von Gabriele Pleßke , die anhand einer Familiengeschichte die Kontinuität der Verfolgung an der Universität Jena unter der Nazidiktatur und dem DDR-Regime nachzeichnete. Eindringlich und wortgewaltig wie eh dann auch Wolf Biermann, den viele unter den Jenaer Studenten zum ersten Mal gesehen haben mögen.

An den folgenden Tagen gab es dann eine Reihe von Vorträgen und Diskussionen — man hätte sich mehr von letzteren weniger von ersteren gewünscht —, Autorenlesungen, gemeinsame Essen, ein Empfang beim Bürgermeister und viele interessante Gespräche im kleinen Kreis.

Für jemanden, der wie ich von außen kam, war es schwer, sich zurechtzufinden, zumal das Colloquium innerhalb eines Gesprächskontextes stattfand, dessen Wurzeln bis in die frühe DDR-Zeit zurückreichte. Im unmittelbaren Hintergrund der Tagung standen die Auseinandersetzungen um die Vereinigung der beiden deutschen PEN Zentren, die schleppende, wenn nicht gar zum Stillstand gekommene Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, die Kälte der Vereinigung beider deutscher Staaten, die von vielen Ostlern noch immer als Kränkung empfunden wird, und schließlich die ganz elementaren Bedürfnisse der von verschiedenen Diktaturen exilierten Autoren, die im Augenblick in Deutschland zu leben und zu arbeiten versuchen. Dementsprechend war es fast unmöglich, in der Diskussion auf einzelne Vorträge, Erklärungen, Lesungen, so interessant sie im einzelnen waren, einzugehen, lief man doch Gefahr, immer nur zu einer kleinen Gruppe zu sprechen, befürchtend, daß man an den Interessen einer Mehrheit vorbeireden würde. So wurde auch über vieles geschwiegen.

Was werden Peter und Anette Horn aus Südafrika gedacht haben, denen die Kommunistische Partei als willkommener Bündnispartner im Kampf gegen das mörderische Apartheidregime erschienen sein muß, als der Vertreter von "Memorial" aus Petersburg von den Verbrechen der Kommunisten sprach; was bewegte Stevan Tontic, der seine Lyrik im Kugelhagel von Sarajewo geschrieben hat — und das ist keine Metapher —, als Ines Eck aus Jena, Dissidentin seit je, von ihrer miserablen finanziellen Lage sprach und für sich Veröffentlichungsrechte einklagte; was wird Hamid Skif gedacht haben, dessen Familienmitglieder von gedungenen Mördern der algerischen Regierung umgebracht wurden, und der, genau wie Bahram Choubine aus dem Iran, ein generöseres Asylrecht in Deutschland, allerdings nur für Demokraten, forderte oder Hans Joachim Schädlich, der in der DDR keinen seiner eigenen Texte veröffentlichen konnte und dem es in den ersten Jahren in der Bundesrepublik ausgesprochen dreckig ging, als sie von ehemaligen DDR-Autoren über deren gegenwärtig beklagenswerte Lage hörten? Oder Guntram Vesper, der sich noch vor kurzem der Wahl zum Präsidenten des PEN-West gestellt hatte, was mag ihm in den Sinn gekommen sein, als er in Jena in einem Raum mit Autoren saß, die, wie Fuchs und Schädlich, aus Protest aus eben diesem PEN ausgetreten waren und als Uwe Westphal, Generalsekretär des Exil-PENs den deutschen PENs vorwarf, sie hätten, "typisch deutsch", vorwiegend ihre eigenen nationalen Interessen im Sinne, wenn sie ihrer Vereinigung oder Nichtvereinigung so große Aufmerksamkeit schenkten. Welche Kränkungen bewirkten Dieter Mucke, Lyriker schon zu DDR-Zeiten, als er über die Vernichtung einer großen Anzahl von Büchern aus der DDR-Zeit durch ein Fuhrunternehmen sprach, diese verwerfliche Tat zum Sinnbild für die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik zu nehmen, vergleichbar vielleicht nur mit den Verhältnissen, deren Sinnbild die Bücherverbrennung 1933 vor der Berliner Universität war? Wie, schließlich, wird sich Jürgen Fuchs gefühlt haben, der 9 Monate im Stasiknast verbrachte und den die Stasi auch noch im Westen "zersetzen" wollte, als Ulrich Schacht, der viele Jahre seiner Lebenszeit in den Gefängnissen der DDR absitzen mußte, mit gebieterischem Gestus und geschliffenem Deutsch auf einer Remythisierung der Gesellschaft bestand.

Was hätte ich gesagt? — Marko Martin, ein junger Autor und pfiffiger Journalist, schrieb in der taz, daß man den "protestantisch-larmoyanten" Aufarbeitern endlich einmal ein paar freundliche Backpfeifen verabreichen sollte, es aber leider noch nicht an der Zeit sei, weil der tatsächliche Konsens in Deutschland noch immer sei, die Verbrechen der DDR-Diktatur zu verdrängen (taz vom 19. 11. 97), was die "Aufbereiter" notwendig mache. Nun ist das, was Martin "protestantisch-larmoyant" nennt, älter als die DDR, gilt die individuelle Beknirschung in Deutschland doch seit langem als Zeichen intellektueller Tiefe. Und doch wünschte man sich, daß gerade die Autoren, zu denen Martin sprach, die Erfahrungen Tontics, Horns, Choubines, Skifs, mit Krieg, mit mörderischen Diktaturen und mit Literatur ernst nehmen und erkennen, daß diese Bundesrepublik mit allen ihren Fehlern, Arbeitslosen und Gangstern, mit all ihrer Kälte ein Staat ist, in dem man leben kann. Was wissen die vielen in der Bundesrepublik Asylsuchenden, das diese Autoren nicht für sich entdecken? Fiele es nicht leichter, sich den wirklich Verfolgten gegenüber solidarisch zu verhalten, wenn man sich nicht selbst, wie einige der "Protestantisch-Larmoyanten" — so hat es jedenfalls den Anschein — als Opfer sähe? Handelte es sich bei der Darstellung persönlicher Betroffenheit und Klage in einigen Vorträgen und Lesungen um Widerstand, der in der DDR angemessen gewesen wäre, nun aber nachholend auf einen demokratisch verfaßten Staat übertragen wurde? Ob verstanden wurde, warum Hans Joachim Schädlich bei seiner Lesung gerade die Stelle aus seinem Schott vortrug, in der es um ein Tagungsgespräch ging, auf der ein Herr Dulla der Mittelpunktsfigur Schott seine Forschungsergebnisse über unterschwellige Reize bei Huftieren erläuterte: "Man hat an Huftieren, die eigentlich fliehen sollten, ein sonderbares verharrendes Stampfen mit den Vorderläufen beobachtet, sagt Herr Dulla", ..."zum Beispiel bei Gemsen, Rupicapra rupicapra." ..."Domestizierte Rinder schütteln in dieser Lage den Kopf."

Um es deutlich zu sagen, die Bedeutung des nicht Gesagten oder nur Angedeuteten, wich zurück hinter dem Anliegen der Tagung, Autoren und interessierte Laien in ihrem Kampf für das freie Wort, gegen jede Form der Diktatur zu stärken, Erfahrungen auszutauschen, Solidarität zu üben und gegen das Vergessen der Opfer und der Täter einzustehen. Die Tagung war vor allem auch eine Zusammenkunft ähnlich Gesinnter, man war unter Freunden. Auch die meisten der Deutschen, von denen viele Gegner der PEN-Vereinigung und Mitglieder des Berliner Autorenkreises der Bundesrepublik Deutschland waren, hatten ihre schmerzhaften Diktaturerfahrungen — ein Zusammenhalt, der nicht so schnell zerbricht. Helmut Schmitz hatte schon recht, als er in der Frankfurter Rundschau  über die Jenaer Tagung schrieb, "Die Deutsche Demokratische Republik war als Staatsgebilde in allen seinen Ausformungen der Repression gegenwärtig, vom Vergraulen bis zum Einkerkern, von der Behinderung über die Schikane bis zur Zerstörung der Persönlichkeit."(18. 11. 1997)

Jede Tagung mit so vielen Teilnehmern muß bei aller Freude auch ein organisatorischer Alptraum für die Veranstalter sein. Die Organisation dieses Colloquiums verlangte viel Energie, Geduld und Sachverstand, besonders von Margret und Edwin Kratschmer, Jürgen Fuchs, Christel Fenk und vielen anderen, die sich mit Herz um alle großen und kleinen Belange der Gäste kümmerten. Überhaupt ist die Gastfreundschaft der Jenaer, vom Bürgermeister der Stadt bis zu den Studenten, die in den wenigen und kurzen Pausen zwischen Lesungen und Vorträgen den echauffierten oder mitgenommenen Teilnehmern belegte Brötchen und wahlweise Juice oder Kaffee verabreichten, von mir und anderen Teilnehmern als ausgesprochen angenehm empfunden und mit Dankbarkeit aufgenommen worden.

Die Fahrt am Morgen nach der Tagung zum Frankfurter Flughafen ging schnell. Das andere Tempo auf den deutschen Autobahnen erschien nicht mehr so fremd. Die Sonne war zu einem brillianten Herbsttag aufgegangen. In der Empfangshalle checkte mich ein junger Italiener ein. Woher ich denn komme, wohin ich flöge. Er sei schon zwei Jahre in der Bundesrepublik, wolle Geschichte studieren und verdiene sich jetzt bei der Lufthansa sein Studiengeld. Ja, schöne Reise noch!

Wolfgang Müller

Eine ausführliche Darstellung der Jenaer Tagung läßt sich in Volume 3/1 in der von Peter Horn herausgegebenen Zeitschrift IsiBongo, nachlesen.


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