glossen: rezensionen


Esther Dischereit, Als mir mein Golem öffnete, Passau: Verlag Karl Stütz, 1997.

Jorge Semprun hat der mitunter voreilig geschmähten deutschen Öffentlichkeit ein akzeptables Niveau der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bescheinigt. Es liegt auf der Hand, daß sich für diese Sicht manches gelten machen läßt. Die “Historikerdebatte”, der Streit um die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht ebensowohl wie derjenige um die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas hat engagierte und scharfsinnige Verächter des Nationalsozialismus und seiner zeitgenössischen Sympathisanten in die Schranken gerufen, deren Beiträge die Komplexität des Gegenstandes sorgsam ausloten. Mächtiger jedoch als die Rede der Aufklärer wälzt sich die trüber Unterströmung modischen Bewältigungsgeplauders durch den bundesrepublikanischen Diskurs der 90er Jahre.

Das nationalsozialistische Morden sei ein “Kapitel unserer Geschichte, über das wir immer noch trauern müssen, über das wir aber immer tiefer nachdenken müssen”, hieß es kürzlich in einer deutschen Talkshow.

Immer wieder mal irgendwie irgendwas müssen oder so, das ist die Parole, die unausgesetzt aus tausend Plapperstunden schallt, um die Mühen des Nachdenkens über das Unbegreifliche blechern zu übertäuben. Derlei Äußerungen sind längst keine Ausrutscher mehr, sie sind ohne Zahl. Es ist eben dieser peinliche Potpourri aus gebetsmühlenhafter Beteuerung und flottem Übergang zur Tagesordnung, der den derzeitigen Schnitt der Beschäftigung mit dem SS-Staat treffender repräsentiert als die geschichtsphilosophischen Analysen eines Habermas oder die schlecht verhohlenen Einverständniserklärungen der politischen Rechten.

Die wohlgelaunte Zerknirschung, die solche Sprüchlein wie das zitierte beflügelt, spiegelt den geschichtlichen Rollenwandel der Erinnerung an den Nationalsozialismus wieder, zu dem es im vergangenen Jahrzehnt in der Bundesrepublik gekommen ist. Bis in die frühen 60er Jahre weitgehend verleugnet und verdrängt, anschließend Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen, ist jene Rückbesinnung seither zum willkommenen Eideshelfer des properen Bildes avanciert, das breite Kreise der bundesrepublikanischen Gesellschaft sich von sich selbst machen. Ihr preiswerter Konsens hat zwar eine politische Spitze, rührt jedoch nicht aus eigentlich politischen Überlegungen her. Er verdankt sich vielmehr einer Ritualisierung der öffentlichen Rede, welche das Bedürfnis nach bequemem Ausgleich und nettem Miteinander bedient.

Der allfällige Einsatz mehrheitsfähiger Erledigungsfloskeln hat mittlerweile das Schweigen der fünfziger Jahre ersetzt. Aus einer sprachlosen Abwehr ist eine redselige geworden. Ihr Spektrum erstreckt sich vom Radebrechen der Festtagsredner bis zum Kauderwelsch der Demoskopen. Die Frage: was haben wir gewußt?, unmittelbar nach dem militärischem Untergang des Dritten reiches für einen geschichtlichen Augenblick eine Frage auf Leben und Tod, checkt politisch korrektes Infotainement heute mit lässiger Routine im bunten Kuchendiagramm. So gilt heute jede Manifestation aufgespreitzter Sprachnot, die einen bewährten Standardset starker Worte geschmackvoll mit ernster Miene und entgegenkommendem Tonfall kombiniert, für einen Tag als letzter Schrei in der attraktiven Angebotspalette topaktuellen Bekenntnischics.

Vor dem Horizont solchen Zeitgeistes ist das Werk der Erzählerin Esther Dischereit zu lesen. Ohne vorzugeben, daß das Grauen der Hitlerzeit vermöge von Sprache wieder heraufgerufen werden könnte, reizt sie deren Potential doch bis zu so weit vorgeschobenen Grenzen aus, daß sie eine seltene Angemessenheit an ihren Gegenstand erreicht. Ihr Thema ist die Unauslöschbarkeit des rassistischen Terrors aus der Erfahrung jener, deren Eltern von den Nationalsozialisten verfolgt wurden; die unablässige Wiederkehr eines Alps, der die schäbigen Requisiten des Nachkriegsalltags zu Metaphern des historischen Schreckens macht.

Esther Dischereit, die im Jahre 1988 mit ihrer “jüdischen Geschichte” “Joëmis Tisch” debütierte und 1992 den Roman “Merryn” folgen ließ, hat nun einen schmalen Band Gedichte vorgelegt. Die Literaturkritik, die ihr Werk begleitet hat, wird dies nicht überraschen, ist doch der prononciert lyrische Ton, den die Dichterin schon in ihrer Prosa anschlägt, immer wieder bemerkt worden. In der Tat bestätigt die kleine Sammlung Als mir mein Golem öffnete einmal mehr ihren seismographischen Sinn für Bilder von hartnäckiger Unanschaulichkeit, fahl konturierte Negative, die man nur einen Augenblick lang entziffern zu können meint: I n d e n V ö g e l n z e r f l i e ß e n d i e W o l k e n/W i n t e r k ä l t e, i m H i m m e l v e r d e h n t/A b g r ü n d e ü b e r m i t t e l m ä ß i g e n S t r a ß e n/z e r s t o b e n in d i e H ö h e d e r E s s e n u n d S c h l o t e” - Zeilen, die die Figur eines Werkes umreißen, das in immer neuen zirkulären Anläufen das Trauma einer ursprünglichen Verletzung in feste Form zu bannen versucht. Man stößt hier fröstelnd auf eine Revolte der Dinge, die unverhofft ein Eigenleben zu führen beginnen, dessen man nach einiger Lektüre kaum noch Herr wird. Unter diesem Eindruck beginnen die Proportionen der gewohnten Welthabe sich höhnisch zu verzerren, weicht man erschrocken zurück vor rücksichtslosen Worten, die einander nicht anreden, sondern fortstoßen: eine Sprache, die mit schneidender Gestik ihre angestammten Mittel von sich wirft, um mit seiltänzerischem Risiko auf eine gleichsam körperliche Artikulation zu setzen:

“S o n n e z e r t e i l t u n s e r e n M o r g e n/g e g e n M i t t a g b i n i c h g e b r a n n t/d a s f r ü h e G e s c h w ä t z d e r Vö g e l/W a n d e l t s i c h i n L ä r m u n d S c h r e i e/S c h ü c h t e r n e K n o s p e n ö f f n e n s i c h/a u s l a d e n d in d e n H ü f t e n/”.

Esther Dischereits Golem notiert Worte an die Zellenwände einer Gefangenschaft, die jeden Hoffnungsschimmer zum grausamen Vexierspiel macht:

“S t a r r e n M ü n d e r/m e i n e s c h w a r z e n F e d e r n/s c h ü t t e l i c h m e i n H a a r/d i e N e b e l f l i e h e n/” heißt es einmal, und: “D e n M u n d v o l l/m i t S t e r n e n/g l ü h e n m e i n e L i p p e n/A u g e n d i c h z u k ü s s e n /b r e n n e n m i c h/i n h e i ß e m L i c ht/u n d s t e c h e n/d u r c h d i e H a u t /a t m e n m i r d i e H a a r e/s c h w e r an d i e s e m S c h i m m e r / g i b d e n T a u b e n /i h r e n G l a n z z u r ü c k.”

Der Duktus dieser Zeilen drückt so schwer neider, daß darunter wieder neues Leben keimt. Es sind immer wieder die peinigenden Konsequenzen, die das Fremde für den eigenen Leib hat, eine unnachsichtige Fragmentierung des körperlichen Erlebens “einer Welt, deren Kälte die Verständigung zum Stillstand bringt, während die toten Dinge sich immer dreister gebärden.
Über die Ohnmacht der Sehnsucht, die den Golem zum Leben erweckt, triumphiert die Eigenmächtigkeit der Sachen. Deswegen fällt in dieser Lyrik das höchste Ausdrucksvermögen mit dem Schock des Sprachverlustes zusammen. In jenen Gebilden, die in angstvollen Andeutungen den Holocaust ahnen lassen, gewinnt die Beschwörung der leiblichen Gefährdung ihre historische Dimension:

“I h r h a b t m i c h g e t a u c h t/i n d i e s e i m m e r w ä h r e n d e S c h w ä r z e/i h r h a b t d i e J ü d i n u n d d a s M ä d c h e n/I n e u r e n W ä n d e n a u f g e h ä n g t /a n m e i- n e n s c h w a r z e n H a a r e n/e u e r G l i e d g e r i e b e n//n a c h d e m M o r d b e s t e i g t i h r/ e u r e O p f e r/w i e i h r s i e l i e b t, d i e T o t e n .”

Hier zittern die obszönen Torturen der nationalsozialistischen Herrschaft nach als eine Beschädigung des Lebens, welche mit jener noch längst kein Ende hat. Die Lyrikerin sucht den Alp zu bannen im Medium kunstvoller Entstellung, die bang nach jener Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart tastet, welche das Trauma der Erinnerung gespenstisch zum Verschwinden zu bringen droht:

“D ü n n w a n d i g s t a n d i c h / z w i s c h e n d e n e n, d i e / s t e h e n s t i e ß en s i c h/ a n m i r d a n n b ü c k t e n / s i e s i c h u n d/ h a l f e n m i r/ d i e S c h e r b e n a u f z u s a m m e l n”

Eine Handbreit vor dem verletzten Filigran dieser Zeilen ist der überwältigende Biedersinn in Stellung gegangen, der die unaussprechlichen Greuel des Nationalsozialismus allen Ernstes wieder gut machen will. Vor dem Skandal der fatalen Formel von der Wiedergutmachung ringen die einsamen Worte dieser Lyrik ihre Hände. Sie zerteilen den Surrealismus einer Wirklichkeit, in der gerade die massivste Materialität der Dinge jegliche Orientierung verweigert. Die unleugbare Physis der Sachen, einmal zum Fluchtpunkt der Hoffnung geworden, zerrinnt zwischen den Fingern und läßt nicht mehr zurück als die Häme eines leeren Versprechens. Gegen den Druck solcher Faktizität verwahrt sich der Golem Esther Dischereits mit jener schütteren Handschrift, die an die Dauer des Unfaßlichen gemahnt.


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