glossen: kurzgeschichte


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Esther Dischereit

Sein Schweigen im Körper

Sie zerrte gegen Morgen die Bettdecke über sich. Das Zifferblatt gab sechs Uhr und irgendetwas an. Sie dehnte ihren Körper und legte sich aus über die Breite des Bettes, dieses aberwitzig hohen Bettes mit den doppelten und trotzdem harten Matratzen

Sie fuhr ein fremdes Auto in einer Gegend, die einsam war und ohne öffentliche Verkehrsmittel oder andere Fahrdienste auszukommen hatte. Wieder und wieder drehte sie den Schlüssel in der Zündung, die nicht antwortete. Der Schlüssel wurde weich in der Umdrehung. Sie zog ihn heraus und besah seine Kerben. Ein Zacken war abgebrochen. Sie fühlte ihr Erschrecken zwischen diesen wildbewachsenen Hügeln, deren Schönheit gerühmt wurde. Als die Angst ihren Bauch heraufkroch, wachte sie auf.

Das Gefühl des abgebrochenen Zündschlüssels hielt den Tag über an. Sie versuchte sich zu erinnern an die Umstände und die Zeit, zu der sie losgefahren war. Wann war das geschehen? Wo war das gewesen? War sie wo angekommen ? Sie hatte eine Tochter, natürlich hatte sie eine Tochter.

Warum war sie weggefahren?

Das Haus war geräumig und bot ihnen mehr Platz, als sie da besaßen, wo sie herkamen. Es verfügte über eine gediegene, nicht sehr aufdringliche Einrichtung, die mit Topfpflanzen und Holztischen einen etwas stickigen Eindruck machte. Nicht unfreundlich, auch nicht ausgesprochen spießig, das war es nicht. Wahrscheinlich war es der Geruch von Familie, Familienereignissen, Familiensamstagen, der sie in diesem Haus ansprang und der sie nervös machte. Jedenfalls muß es das gewesen sein, warum sie wegging von dort, geradezu weggerannt war, und sich mit der Tochter in dieses Auto gesetzt hatte.

Neben ihnen lebten die reizenden Nachbarinnen. Die Geräusche der Absauggeräte für die Schwimmbecken und den Rasenmäher zogen durch die Luft und brachen sich an den Marshmellow-Vorräten in ihren Küchen. Judy, ja Judy, eine schwarzhaarige zierliche Person, japanischer Herkunft. Eine von denen, die mit Pearl Harbour binnen Stunden vom Genuß amerikanischen Lebens ausgeschlossen wurden. Obwohl sie als US-Bürgerin wirklich nicht wußte, wohin. Man hatte sie darauf vorbereitet, daß Judys Mann ekelhaft sei und jede Frau anmachen würde. Sie schaute durch die Zaunstäbe. Der Mann, dessen Taille verschwunden war, stand bekleidet mit einer Sportler-Hose, fischte sein Schwimmbecken nach heruntergefallenen Blättern und kleinen Ästen ab, tat irgend etwas Geschäftiges und schaute sich nicht um. Wahrscheinlich hatte das bei ihrer Entscheidung zu dieser Reise eine Rolle gespielt. Es war ihr nicht gelungen, einen Blick des Mannes auf sich zu ziehen. Das Aufbinden aufstrebender Sonnenblumen und Beobachten von Ameisen und Spinnen als Tagesprogramm langweilte sie. Sie haßte es, den Rücken krumm zu machen vor dem hart gewordenen Boden, der Umharken erwartete.

Sie sah in den Spiegel und fühlte, mehr als sie sah, daß ihre Haut sich rötete. Ein leichtes Jucken, ein untrügliches Zeichen dafür, daß sie sich in Umständen bewegte, die nicht zu ihr paßten. Früher war sie dann immer schlafen gegangen, jahrelang sogar. Sie war jahrelang schlafen gegangen.

Jetzt schrie sie, zankte mit ihrer Tochter, kratzte an den Stellen des Körpers, die aufschwollen.

Gegenüber wohnt eine Frau - eine Witwe - , hatte man ihr gesagt; die Golf spielte, hatte man ihr gesagt, und die in weißen Shorts herumlief, in denen sie aussah wie ein geschälter Baumstamm. Bei Männern, sicher, sahen diese Hosen noch scheußlicher aus. Das war das Beste an Europa, fand sie, daß es dort wenig Männer in Shorts gab.

Niemals stellte sie sich ihren Geliebten vollkommen nackt vor. Ein Mensch ohne Taille. Sie träumte von Armen und Beinen, umschlingenden Beinen...Hände natürlich. Sie geriet manchmal durcheinander zwischen diesen und dem vorletzten, sodaß sich die nackten Beine des einen mit den Händen des anderen vermengten und sie es irgendwann aufgab, die beiden auseinanderzuhalten. Warum auch? Sie wußte auch nicht mehr, ob sie einen liebte. Hin und wieder hatte sie ein wahnsinniges Verlangen, ohne Beherrschung und geradezu auf der Stelle. Sie schlief wahrscheinlich mit dem, der der letzte gewesen war. Der Geliebte davor hatte ohnehin darauf bestanden, daß er die Hände führt und nicht sie. Er hat sich einfach nicht hingeben können, dachte sie später. Also träumte sie lieber von dem letzten, weil sie mit ihm eigentlich alles hat machen können, wozu sie Lust gehabt hatte und deshalb nahm sie ihn in ihren Träumen.

Damit und mit den Nachbarinnen gegenüber hatte es zu tun gehabt, daß sie bei sengender Sonne in dieses Auto einstieg und sich die Autobahnkilometer in die Haut und ihre Kleider brannte. Angestrengt, heiß, nass geschwitzt fuhr sie in die fremde Stadt, in der sie niemand verstand und sie sich mit diesem unbekannten Menschen verabredet hatte. Schon der Junge an der Tankstelle hatte sie nicht verstanden. Sie wollte, daß er die Luft an den Reifen prüfte. Sie gab es auf, den Luftdruck prüfen zu lassen und gab ihm ein Trinkgeld. Aus seinem erstaunten Gesicht schloß sie, daß ihr Verhalten merkwürdig war. Das muß der Zeitpunkt gewesen sein, an dem sie keine rationale Entscheidung mehr traf und sich den Ereignissen überließ.

Möglicherweise wären die Dinge anders verlaufen, wenn die, die vier Häuser weiter entfernt wohnten und eine angenehme Familie waren, eine Tochter im Alter der ihren gehabt hätten, sodaß man hätte zum Baden fahren können. Oder so.

Sie schob sich langsam von der Seite auf den Bauch, zog ein Knie dabei hoch, sodaß es ihre Brust berührte und spreizte das andere Bein ab; soweit sie konnte.

Was hatte sie in dieser Stadt gesucht, in deren Bars Unmengen von Eiswürfeln verabreicht wurden und ihr die Getränke nicht schmeckten. Die Verkäufer waren jung und ausdauernd freundlich. Warum waren sie freundlich? Sie verstand nicht. Sie verdienten fast nichts - und waren freundlich. Oder sie waren wenigstens freundlich? Keine Ahnung.

Dann war sie auf jenen Mann getroffen, einen, den man nur trifft, wenn man irgendwo fremd ist. Der Mann führte sie in seinem Haus herum und zeigte ihr, wie schön es war. Sie besah sich die Fotografien, auf denen er mit seiner Frau zusammen zu sehen war, ein stattliches Paar. Es folgte ein kleiner Raum, in der er zu jeder Zeit die Nachrichten empfangen konnte aus verschiedenen Ländern. Hier spielte er Politik. Er sagte, daß würde man heutzutage brauchen. Sie sagte “ja” und bewunderte seine Einrichtung. Der Mann las ihr die Briefe berühmter Leute vor, die ihm geschrieben hatten. Sie hatte aufgehört, sich zu fragen, warum sie hergekommen war. Auf seine Aufforderung hin erzählte seine Tochter eine Geschichte: die Polizei habe einen Mann festgenommen, der nur mit der Unterhose bekleidet in den Stadtbrunnen gesprungen war. Die Lehrerin des Mädchens hatte die Polizei geholt, weil der Mann später mit der offenen Weinflasche herumgelaufen sei und dies sei verboten. Der Mann sei in Handschellen abgeführt worden. “ Er war nicht richtig im Kopf”, sagte das Mädchen. Als sie später über eine Explosion eines Flugzeuges nahe New York sprachen, und keine Ursache hatte festgestellt werden können, sagte sie wieder:” Jemand war nicht richtig im Kopf.” Er parkte seinen Wagen vor der Haustür und sah einen anderen in der Nähe stehen ohne Parkerlaubnis. Der Polizistin sagte er, daß sie ihn abschleppen lassen soll . “ Der war nicht richtig im Kopf”, sagte er.

Drinnen ließ er sie noch einmal teilhaben an seinem Kunstverständnis und zeigte ihr Bilder eines Freundes - aus Tel-Aviv, wie er betonte.

Beim Verlassen des Hauses empfahl er wieder den falsch parkenden Wagen der Aufmerksamkeit der Polizistin. Sie gingen hinaus in die gleißende Sonne, eine Prachtstraße hinunter. Ins Café Jaffa lud er sie ein, denn sie waren Jüdinnen, und in Israel war er am liebsten gewesen. Ihre Tochter ließ den Humus stehen. Er liebe das Essen im Café Jaffa, sagte er, er und seine Frau. Daß sie einen Faible für Speckgebratenes hatte, verschwieg sie und bestellte einen Salat, den keiner mochte. Er redete über dieses und jenes in der Stadt, die Kultur, die Denkmäler und ihre Bedeutung und war freundlich. Er stopfte seine Münzen in den Telefonapparat, denn sie war ungeschickt mit dem fremden Geld und brauchte eine Ewigkeit. Das wiederholte sich in den Geschäften.

Dann kaufte er ihr eine Eintrittskarte zu einer Videoausstellung, die er ganz außerordentlich gefunden hatte, schob sie in das Dunkel und würde solange mit dem Mädchen spazierengehen. Aus der Hitze des Tages sprang sie das Dunkel an - und die Stille, die sie plötzlich überfiel, als der Körper angefüllt war von den Sirenen der Krankenwagen und Feuerwehren. Sie bemerkte, daß sie sich in einer Installation vor Monitorbildern befand. Ausgezehrte halbnackte Menschen über den Bildschirmen.

Heute nicht. Nicht jetzt, nicht an diesem Tag, nicht unter diesen Umständen. Sie wollte nicht. Wollte entscheiden, nicht an diesem Tag. Sie versuchte weiterzugehen und klammerte sich schließlich fest an einer seltsamen Arbeit: in grellroten Farben bewegten sich drei Frauen aufeinander zu, seziert in der Bewegung, endlos langsame unmerkliche Bewegungen der Hände und Augen. Sie kommunizierten miteinander, aber sie konnte nicht herausfinden, wie. Es waren Bilder ohne Worte. Waren die Frauen zueinander herzlich, enttäuscht, konkurrent und wieder versöhnt? Bruchteile von Sekundenbewegungen wieder und wieder, langsam und in scharfer Einstellung, und doch konnte sie sich ihrer Sache nicht gewiß werden, so häufig und stetig ihr die Bewegungen auch vorgeführt wurden. Ein winziges Lächeln nur, aber es wollte ihr nicht gelingen, es auf den Punkt genau gesehen zu haben. Sie blieb unruhig. Hatte sie noch mehr übersehen? Ihre Tochter ging mit dem Mann in der unbekannten Stadt spazieren. Vor der Zeit wartete sie am Ausgang des Gebäudes

Warum schrien die Vögel? Gewöhnlich weckten sie sie bereits gegen fünf Uhr morgens, und später nochmal. Auch am Tage schrie manchmal ein einziger Vogel in der Nähe, sodaß sie zusammenfuhr. Sie versuchte ihre Zehen zu bewegen, einzeln spreizen, zusammenführen und noch einmal. Warum hat er in ihrem schweren Halbschlaf auftauchen müssen, in der Zeit zwischen den Vogelschreien? Ausgerechnet er, von dem sie gehofft hatte, sie könnte ihn endlich verlassen. Er hatte sie um die Oberschenkel gefaßt, und sie mit beiden Händen wie eine Schale gehalten, während er vor ihr kniete.

Mit schweren Atem war sie neben ihm nicht eingeschlafen, fast sitzend, nicht gesund. Lange dachte sie, es sei deswegen. Seine Augen waren geschlossen, sein Körper entspannt. Er redete nicht mehr mit ihr, auch nicht gegen den Schmerz, und faßte sie nicht mehr an. Irgendwer hatte sie in ein Krankenhaus gebracht. Sie verlor das Bewußtsein. Beim Aufwachen sah sie ihn dastehen, weit weg, und wieder versank sie irgendwohin. Die Monate in den weißen Krankenhausbetten vergingen. Ihre Blutungen setzten aus. Bis sie eines Tages wieder ankam in jenem Zimmer, in dem er neben ihr geschlafen hatte. Er ging am Abend in ein anderes Zimmer, sah morgens kurz nach ihr. Sie war noch benommen von der angehaltenen Zeit. Auch am Tag danach ging es so und dann am nächsten.

Einer kam sie besuchen, der ihr Freund war. Er trat in ihr Zimmer ein und sagte ihr was. Da nahm sie eine Tasche, gepackt mit Kleidern und schleppte sie zum anderen Ufer des Flusses, der die Stadt teilte, - in ein Zimmer, das ihr jemand vorübergehend überließ. Sie blieb drinnen liegen, bis es Zeit war, ins Krankenhaus zu den Terminen zu gehen.

Ihr Körper konnte seine Abwesenheit nicht begreifen, die Abwesenheit seines Schweigens. Sie hatten dabei nicht gesprochen, nie. Nicht in den frühen Morgenstunden, wenn sie still, fast verbissen kämpften. Nicht, wenn der Tag nachtschwarz wurde. Das Wasser aus der Dusche rann ihnen in ihre sich lautlos öffnenden Münder. Dieses Schweigen hatten ihr die Vögel jetzt noch zugeschrien, einen Kontinent weiter und fast ein Jahrzehnt danach. Konnte er sie nicht in Ruhe lassen? Wenigstens das könnte er tun.

Der Verkäufer ging ihr auf die Nerven. Sie hatte nach einem Paar Schuhen verlangt, und er hatte gegrient und gesagt, kein Problem, zum Probieren sofort und sooft Du willst. Und auch eine Nummer größer und griente wieder. Draußen wartete der aufgeschlossene hemdsärmelige Mann auf sie, der niemals genug Anerkennung zu haben schien für das beachtliche Gehalt, daß er seit mindestens fünfzehn Jahren bezog. Auch er verfügte über einen Etat in beträchtlicher Höhe, sodaß ihn die Empfänger dieser Zuwendungen sicherlich regelmäßig ihre Wertschätzung versicherten. Und er war ja auch kein blöder Mensch. Sie hatte zugehört, als er sagte, daß er vor allem keinen jüdischen Nachnamen seiner Frau bieten könne. Das täte ihm leid.

Sie begriff allmählich, daß er seinen Tag mit ihr verbrachte und ergänzte die Liste seiner Defizite in Gedanken um das entscheidende: um die Sache mit der Vorhaut. Aber das behielt sie für sich.

Heute war eigentlich alles gut geworden. Als sie nach dem Weg fragte, schickte sie die Frau an der Tankstelle geradeaus und dann halten sie rechts, hatte sie gesagt, nicht links bei ‘Friendlies’, dann sind sie schon zuweit. Tatsächlich war sie zu weit gefahren, zu ‘Friendlies’. Immer wieder wäre sie zu ‘Friendlies’ gefahren, das machte ihr nichts aus. Denn ihr Großvater, von dem sie gehört hatte, hatte ‘Freundlich’ geheißen und irgendwo hier in diesem weiten Land gelebt. So fühlte sie sich, als wäre sie bei ‘Friendlies heimgekommen und dachte bei sich, schön, hab ich sie endlich, all meine Verwandten sind hier; und dann noch gleich massenhaft. Also fuhr sie gerne zu ‘Friendlies und schrie, alle meine, hörst Du, gehört alles uns. Dann lachte sie. Ihre Tochter schaute unsicher aus dem Wagenfenster und sagte nichts.

Immer noch stand er, der ja nichts für seinen arischen Namen konnte, vor dem Laden und wartete , daß sie fertig würde. Anschließend fuhr er sie umher und wehte zu den Themen und Plätzen, die ihm wichtig waren. Er war von massiger Statur wie sein Jeep und hatte ein breites gutes Gesicht. Er war auf E-Mail Trip, heute oder gestern oder morgen. Mit einem Minimum an Anpassungsleistung könnte sie zu ihm zurückkommen.

Der Tag würde unentschlossen bleiben zwischen Sonne und Regen. Sie würde nicht zu ihm gehen. Wozu auch?

An der Wand, hinter dem Fußende dieses merkwürdig hohen Bettes, war eine breite Spiegelfläche angebracht. Sie konnte sich darin betrachten. Ungewöhnlich, fand sie. Im Schrank hingen die maßvollen Kleider. Wenn sie beide Arme weit ausstreckte, mit diesem hochgezogenen, angewinkelten Knie, sah sie gekreuzigt aus; ihr nackter Körper auf dem weißen Laken. Sie sah sich zu, als sie die Beine abspreizte, beide langsam zusammenführte. Und wieder. Eine Hand an den Brüsten. Und wieder. Er sah ihren Körper im Spiegel, wie er sich hob und senkte zwischen den Fingern ihrer Hand. Sie atmete, von seinem Schweigen getrieben und begann ihren Mund zu öffnen, ihren Mund der nicht schrie.

Stunden später nahm sie einen Stein und warf ihn in den Spiegel.


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