glossen: rezensionen


Was suchte ich zu erzählen? Zu Marion Titze: Das Haus der Agave. Erzählungen. Stuttgart: Klett-Cotta, 1997

Wenn sich in den vier so unterschiedlichen Erzählungen des Bandes eine Achse des Erzählens finden ließe, so wäre es genaue Erinnerungsarbeit. Behutsam werden Lebensmaximen, Haltungen, Handlungsmuster Schicht für Schicht freigelegt, bis zum Ursprung ihrer Entstehung zurückverfolgt. Marion Titze ist eine Archäologin der Ideen:

"Unterkellert wird solch ein Schlüsselwort in der Familie, daß ich, wenn etwas schiefgeht, heute noch denke: Es war nicht unterkellert." Soziale Prägungen werden in spielerischer Leichtigkeit analysiert und beschrieben, ohne Larmoyanz oder Koketterie. Die 1953 geborene ostdeutsche Autorin findet in ihrem zweiten Band eine Erzählhaltung, die Leichtigkeit und Tiefenschärfe miteinander verbindet. Der Rückblick auf alltägliches Leben in der DeDeEr enthält sich jeglicher Sentimentalität oder Didaktik, er ist einfach unterhaltsam, weil genau. Wo in ihrem Debütband Unbekannter Verlust (1994) die Absicht überdeutlich zu spüren war und ein moralisierender Ton störte, amüsiert hier die selbstironisch-souveräne Erzählerin:

"Ich trug die Ohrringe, die mir plötzlich standen. Sie waren nicht mehr das, als was ich sie lange empfunden hatte, ein zu großes Aufgebot." Ganz unvermittelt finden wir uns im Bilde, das erst Strich für Strich nachgereicht wird.

Oft trifft man auf überraschende Wendungen des Geschehens, erzeugt einzig durch einen winzigen Stilbruch: "Ein großer Zärtlichkeitswunsch überfiel ihn, schlug um in Verzweiflung und endete in einem Hustenanfall." Solcherart humorvolle Dramatik schlägt nie in Denunziation der Erzählerin gegenüber ihren Figuren um, wie sie umgekehrt sich auch vor allzu großer Nähe zu ihnen hütet. Einfühlung wird gebrochen durch den flugs eingestreuten Kommentar.

Auf solche Weise wird selbst ein so vielstrapaziertes Sujet wie die Mauer erzählbar: "Denn die Grenze, wenn sie im Garten verläuft, ist etwas anderes als eine Landesgrenze mit bunt geringelten Pfählen und rot-weißem Schlagbaum." "Die Mauer", das sind riesige Bogenlampen, die "noch den Schlaf in den Betten ausleuchtete(n)".

Auf diese Art wird tatsächlich noch etwas jenseits von Banalitäten über diese Gesellschaft sagbar: "Nie wieder wurden so viele Unser und Mein gebraucht wie in der besitzlosen Gesellschaft." Dennoch schrieb die Autorin kein "Ostbuch". Wer eingeschliffene soziale Muster wiedererkennt, liest sozusagen zusätzlich einen Text hinter dem Text, wer nicht, begegnet einer genauen Beobachterin alltäglichen Lebens, wie es jedem wiederfährt. Angst, Eitelkeit, Verhärtung, Liebe, Abschiede, Verzweiflung, nichts davon ist uns fremd und doch wird es uns auf immer neue Weise erzählt.

Zum Schluß noch einige unvermeidliche Rezensentinnen-Mäkeleien:

Obwohl manche der eingestreuten Sentenzen amüsieren, wie die von der "Zahnspangendemokratie, wo jeder wählen kann, wie er aussieht", tut die Autorin insgesamt des Guten doch zu viel. Wenn sich die Witzstruktur zum dritten Mal wiederholt, grenzt die ironische Floskel an den Kalauer: "Ich war jung genug, um mit Herzklopfen hinzugehen, aber er war alt genug, um nicht da zu sein" oder: "An der Universität wurden Studienplätze gestrichen, Semestergebühren erhoben". Dem "sanften Tourismus" wird das "hart" an die Kaimauer schlagende Wasser an die Seite gestellt, dem "infam Familiären" das "famos Gesellschaftliche" usw. Über die unmotiviert wechselnden Zeitformen war ich schon in Marion Titzes erstem Buch gestolpert, aber zum Thema Lektoren kann man ja einiges unter dem Titel "Die Lektion" bei ihr nachlesen...

Birgit Dahlke
Humboldt Universität Berlin



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