glossen: prosa


  Bernd Wagner Das Treffen

1

"Es ist die Zündung, wie ich gesagt habe", sagt der Vater, die Zigarre unter die Oberlippe geklemmt. "Wenn die Zündung nicht richtig eingestellt ist, verstehst du, Mutti, dann. .

"Ich will nichts hören!"

Im ausrollenden Auto ist es eng und heiß. Dem Jungen kratzt der Kragen den Hals auf.

"Raus, Werner! Wir schieben", sagt der Vater.

Die Mutter starrt auf das Armaturenbrett. Ihre Oberarme zittern. Der Junge versucht sich am Fahrersitz vorbeizuzwängen, ohne sie anzuschauen.

"Paß auf deinen Anzug auf!" schreit die Mutter. Links und rechts blühen Kirschbäume; vorn, hinter wassergrünen Buchen, liegt ein Dorf. Der Junge zieht die Jackenärmel hoch und stemmt sich gegen die Wulst des Reserverades; im gewölbten Spiegel der Radkappe sieht er sein Gesicht: die lange Nase, den dicken Mund, dazwischen, überdeutlich auf der Rundung hervortretend, der Pickel mit der gelben Spitze, dann, zurückweichend, die Stirn, Kinn, der Streichholzhals.

"Und looos!" Beide schieben, der von der Sonne weiche Asphalt knistert, die Straße ist abschüssig, der Wagen kommt ins Rollen, der Vater springt hinein, legt den Gang ein.

Jetzt, Werner! Schieb! Schieb!“ ruft der Vater. Der Junge schiebt, schiebt, läßt los, richtet sich abrupt auf.

"Das schaffen wir nie!" sagt er.

"Schaffen wir nie! Wenn man will, schafft man alles."

"Hör endlich auf, dich lächerlich zu machen! Da vorn kommen Leute", sagt die Mutter.

Die Buchen richten sich auf und werfen Schatten; das Auto rollt langsam und leise und irgendwie peinlich im Dorf ein. Rechts ist ein Feuerwehrteich, dann der Konsum, dessen Laden geschlossen ist, denn es ist Pfingstsonntag.

Neben dem Konsum hält der Vater und zieht die Handbremse an.

"Werner, komm raus, wir wollen sehen, ob wir den Schmied erwischen."

"Du brauchst dir keine Mühe zu geben", sagt die Mutter, "mit dem Auto fahre ich keinen Schritt weiter. Und wenn ich deinetwegen Inge nicht wiedersehe, weiß ich nicht, was ich tue."

"Bitte, von mir aus", sagt der Vater, "fahren wir eben mit dem Zug weiter. Aber das Auto unterstellen darf ich doch wenigstens."

Der Junge wird rot in Gedanken daran, was jetzt auf ihn zukommt:

Der Vater wird alle möglichen Leute anreden, mit "du" natürlich, und fragen, wo der Schmied wohnt, dem wird er auf die Schulter klopfen, eine Zigarre anbieten und eröffnen, daß sie Berufskollegen sind; dann kommt die Schilderung dessen, was passiert ist: daß er mit seiner Frau und dem Sohn hier (der auf die Oberschule geht) nach Berlin unterwegs ist, um nach zwölf Jahren das erste Mal wieder seine Tochter zu sehen, die mit ihrem Mann (einem Ingenieur) extra aus Lübeck über Westberlin in den Osten gefahren kommt. Wenn das Auto unter irgendein Dach geschoben ist, wird sie der Schmied, weil er einfach nicht anders kann, zum nächsten Bahnhof fahren, und es kommen die Peinlichkeiten im Zugabteil: der unaufhörlich erzählende Vater, die schwitzende, vor Wut und Scham zergehende Mutter, dazwischen, eingezwängt, er selbst.


2

Es ist kurz nach eins, sie stehen neben dem Parkplatz an der Friedrichstraße. Die Sonne knallt auf das Pflaster, sie spüren Staub auf der Zunge, zwischen den Zähnen, sie erschrecken jedes Mal aufs neue, wenn die S-Bahn über ihnen anfährt.

Die Mutter dreht die Tasche mit dem Schinken und dem Kaffeeservice in der Hand und hält Ausschau. Sie wechselt dabei ständig das Standbein.

Der Vater beginnt umherzustolzieren. Langsam nähert er sich dem Parkplatzwächter, gleich wird er ihn ansprechen. Der Junge beobachtet an der Mauer der Mitropagaststätte seinen in der Hüfte geknickten Schatten; er findet, daß sein Kopf zu groß ist und daß er die Knie mehr durchdrücken müßte. Er versucht es.

"Da sind sie, da sind sie" ruft die Mutter plötzlich und zeigt auf ein Auto, das langsam die Friedrichstraße entlangfährt.

Inge! Inge!!!" Sie schreit, die Leute drehen sich urn, aber ihr ist jetzt alles egal, sie winkt mit der Hand, das Auto fährt weiter.

"Das war doch ein BMW, und sie haben einen Opel", ruft der Vater herüber.

"Aber es war Inge darin. Und rot war das Auto auch."

Der Junge sagt: "Die Frau saß allein im Auto."

"Aber ich hab sie erkannt. - Da siehst du, sie kommt wieder."

Das rote Auto nähert sich nun von der anderen Seite dem Parkplatz. Die Mutter stellt die Tasche hin und rennt los. Die Frau am Steuer hebt die Hand. Sie biegt scharf links ein und steuert einen freien Platz an; die Mutter läuft ins Leere, ändert, als sie das erkannt hat, die Richtung und ist als erste beim Auto. Sie umarrnt die Tochter und schluchzt.

"Meine liebe Inge! Wie dünn du geworden bist."

Der Junge steht mit der Tasche in der Hand daneben, der Vater hat sich vom Parkplatzwächter verabschiedet.

"Ich denke, ihr habt einen Opel, das ist doch ein BMW", ruft, er. "Und wo hast du deinen Mann gelassen?" Dann nirnmt er die Zigarre aus dem Mund und umarmt die Tochter.

Nun ist der Junge dran. Die Schwester sieht ihn lächelnd an: "Du bist ja ein richtiger junger Mann geworden. Gut steht dir der Anzug."

Ja, es ist das erste Mal seit der Jugendweihe, daß er ihn wieder anhat", sagt die Mutter.

"Ich habe wahnsinnigen Hunger." Die Schwester zieht das a bei "wahnsinnig" in die Länge. Ihre Sprache ist sehr gerade und steif. Die Mutter schaut sie immer wieder von der Seite an und weint. Es gibt keinen Zweifel: das ist ihre Tochter; die roten Äderchen auf den Wangen, die durchsichtig-blauen Augen.

"Wo wart ihr nur so lange? Ich war schon richtiggehend wütend. Zuerst eure schlechten Straßen, dann die blödsinnigen Vopos. Eine Stunde mußte ich warten. Die ganzen Mickymaushefte für Werner haben sie mir abgenommen. Ich hab denen vielleicht was erzählt. Zuerst wollte ich gleich wieder abfahren. Dann habe ich es mir anders überlegt, dir zuliebe, meine Mama, warum weinst du denn?"

Die Mutter holt ein Taschentuch aus der Handtasche.

"Kommt, steigt ein, wir fahren irgendwohin essen", sagt die Schwester.

Der Vater nimmt vorn Platz, die Mutter und der Junge auf dem Rücksitz. Durch einen Knopfdruck läßt die Schwester das Schiebedach zurückgleiten, so daß ein frischer Wind die Haare aufwirbelt, als sie anfahren.

"Das ist was, mein Sohn." Der Vater lacht. "Schiebedach, viertürig, Knüppelschaltung. Warum habt ihr euch eigentlich einen BMW und keinen Opel gekauft?"

"Du kannst das nicht mehr mit früher vergleichen, Papa, BMW ist jetzt besser. Sie haben die stärkeren Motoren. Und bei dem Verkehr bei uns braucht man Maschinen mit starkem Anzug!"

Die Mutter beobachtet im Rückspiegel das Gesicht der Frau, die ihre Tochter ist; ihre Fingernägel spielen nervös und derb mit den Fingernägeln des Jungen. Der Junge hat das gern, obwohl er sich dafür zu alt vorkommt.

"Warum hast du eigentlich Heinz nicht mitgebracht? Ich hätte ihn so gem gesehen", fragt die Mutter in den Rückspiegel.

Ja, Heinz. Er wäre auch sehr gern mitgekommen, aber die Arbeit. Das müßt ihr verstehen. Sie haben jetzt wieder einen neuen Kessel bekommen, und den muß er montieren."

"Zu Pfingsten?"

"Natürlich zu Pfingsten. Dienstag muß die Anlage wieder laufen. Heinz arbeitet fast jeden Sonntag. Ohne Arbeit kommst du auch bei uns zu nichts."

"Was denkst du denn?" sagt der Vater, "arbeiten müssen die auch. Arbeiten muß man überall."

Die Schwester nimmt eine Packung PEER aus der Handtasche, zündet sich eine Zigarette an, hält dann die Schachtel dem Jungen hin und fragt: "Darf er schon?"

"Nein", sagt die Mutter.

"Aber warum denn nicht?" sagt der Vater.

Der Junge wird rot und schüttelt den Kopf.

Der Vater sagt: "Aber ich würde ganz gerne eine rauchen."

"Seit wann rauchst du denn Zigaretten?"

"Laß mich doch."

Er zieht eine aus der Packung, läßt sich Feuer geben, pafft ein paar Züge vor sich hin und schaut genüßlich auf die Glut.

"Nirgendwo ein Restaurant", sagt die Schwester. "Wir fahren und fahren, und überall nur diese öden Häuser. Was habt ihr überhaupt für heute geplant?"

Die Mutter beugt sich nach vorn. "Der Werner hat doch Tiere so gern. Vielleicht fahren wir in den Tierpark."

"Ach, wieso denn, ich mache mir überhaupt nichts aus Tieren."

"Aber du kannst das doch ruhig zugeben, da ist doch nichts Schlimmes bei, auch bei uns gibt es Tierparks. Hagenbeck ist, glaube ich, der größte auf der Welt. Jedenfalls hat er die meisten Löwen. Ich finde die Idee mit dem Tierpark gut."


3

Die Parkplätze vor dem Tierpark sind überfüllt. Die Menschen strömen in Massen auf den Haupteingang zu, an den Schaltern bilden sich Riesenschlangen, eine Vielzahl kleinerer vor den Sperren. Der Besucherstrom vereinigt sich wieder auf der Hauptallee. Links und rechts sitzen Papageien auf Stangen und krächzen.

"Guck mal, Papageien", sagt die Mutter zu dem Jungen, "willst du nicht fotografieren?"

"Laß doch", sagt die Schwester; sie biegen auf einen Nebenweg ein. "Ich muß unbedingt etwas zu mir nehmen, sonst sterbe ich. Seit heute früh habe ich nichts als einen Toast gegessen."

"Da vorn war doch ein Kiosk. Bockwürste gibt es da bestimmt", sagt der Vater,

Die Schwester lacht, und die Mutter atmet auf, denn es ist das breite, das ganze Gesicht in Falten werfende Lachen des Vaters.

"Bockwurstl Das ist typisch. Papa und die Bockwurst, das gäbe ein ganzes Buch. Nichts mit Bockwurst! Heute wird richtig gegessen. Ich lade euch ein." Dabei legt sie die Arme auf die Schultern des Vaters und der Mutter und lacht wieder. Der Junge läuft einige Schritte hinterher, den Fotoapparat in der Hand.

"Wie geht es überhaupt deinen Beinen, Mama, noch immer Wasser?"

"Es geht. Wenn es nur nicht so heiß wäre. Im August kann ich dann wieder Löcher reindrücken."

"Und hast du noch Tabletten?"

Ja, die hab ich noch, meine Gute." Sie streichelt der Tochter den Arm. "Nur, sie gehen mir so aufs Herz, da kann ich sie nicht oft nehmen."

Die Hand auf dem Schild zeigt auf ein Restaurant, ein flaches gläsernes Gebäude inmitten grauer Steingärten. Der Vater hat sich eine neue Zigarre angesteckt und ist vornweg gestürmt. Als sie den Gastraum betreten, steht er mit dem Kellner an einem leeren Tisch und winkt.

Nach dem Essen stößt es dem Vater mehrmals auf. Er öffnet den Hosenbund; sein Gesicht wird grau.

"Geht es wieder mit dem Magen los?" fragt die Mutter. Sie flüstert: "Weil du zu schnell gegessen hast."

"Hast du etwas mit dem Magen?" fragt die Tochter.

"Ach was", sagt der Vater, "mir fehlt nur frische Luft."

Er schließt den Hosenbund, schiebt geräuschvoll den Stuhl zurück und geht vor die Tür.

Die Mutter nimmt die Hände der Tochter und streichelt sie. Sie ist dern Weinen nahe.

Jetzt, wo er ruhig und vernünftig wird, fängt es mit dem Magen an. Der Doktor sagt, es wäre nichts Schlimmes, aber mir gefällt seine Hautfarbe nicht." Sie hält die Hand vor den Mund, damit es der Junge nicht hört: "Manchmal habe ich Angst, es könnte Krebs sein."

"Trinkt er denn immer noch soviel?"

"Ach, überhaupt nicht mehr, seit er es mit dem Magen hat." Die Mutter weint jetzt ungehemmt. "Und wie geht es dir, meine Gute, du siehst so dünn aus. - Wollt ihr euch immer noch kein Kind anschaffen?"

"Da haben wir gar keine Zeit für", lacht die Tochter, zieht die Hand unter der der Mutter hervor und winkt nach dem Kellner.

Draußen, in der Sonne, wartet der Vater, wieder bei bester Laune. "Ich für mein Teil würde ganz gern sehen, was sie hier für Pferde haben."

"Du immer rnit deinen Pferden", sagt die Mutter, nachsichtig, mit Stolz in der Stimme. Sie tauchen in den Schatten eines Seitenweges. Der Vater nimmt die Hände auf den Rücken. Die Mutter hängt sich bei der Tochter ein.

"Du weißt doch, Pferde und Tauben. Erinnerst du dich, wie er sich immer die Körner von den jungen Tauben aus dem Mund picken ließ. Was habe ich da geschimpft. Aber er ließ sich nichts sagen. Das brauchen die. Die brauchen den Speichel zum Verdauen. Die Tauben hat er ja Gott sei Dank aufgegeben. Aber mit den Pferden ist es das alte."

"Beschlägt er denn immer noch Pferde?"

"Na, was denkst du denn. Wie oft habe ich gesagt, laß doch die Pferde, du machst dich nur kaputt damit. Alle anderen beschlagen nicht mehr, die bauen Anhänger oder schweißen für die Betriebe. Aber er läßt sich ja nicht abbringen. Und mit seinem Magen, das kommt auch davon. Er atmet das alles doch ein, den Qualm, wenn das Horn verbrennt, er muß sich ja direkt darüber beugen."

"Da sind ja die Pferde", ruft der Vater.

Er geht zum Zaun und lockt sie durch Schnalzen heran. Es sind schwarze Ponys. Die Erde, über die sie langsam herantraben, ist staubig und braun.

Die Mutter, die Tochter und der Junge haben sich auf eine Bank gesetzt.

"Hat einer von euch Würfelzucker?" fragt der Vater.

"Das ist doch verboten", sagt die Mutter.

"Na, ich geh mal ein Stück", sagt der Vater.

Die Mutter stößt den Jungen an: "Willst du nicht mitgehen?"

"Keine Lust“, murmelt er.

"Wozu hast du denn Lust? Das ist furchtbar mit ihm. Zu nichts hat er Lust. Nun haben wir ihm einen Fotoapparat gekauft, weil er den unbedingt haben wollte, und was ist das Ergebnis: Du siehst ja. An nichts hat er Interesse."

"Weißt du denn schon, was du werden willst?" fragt die Tochter.

"Ach woher denn", antwortet die Mutter.

"Doch, ich weiß es", sagt der Junge. "Tierarzt. Ich will Tierarzt werden."

"Tierarzt! Du und Tierarzt! Wo du nicht mal zusehen kannst, wenn ein Kaninchen geschlachtet wird. - Papa hofft ja immer noch, er übernimmt einmal die Schmiede", flüstert die Mutter, "aber das hat keinen Zweck. Irgendwann wird es ja doch PGH. Und dann so ein schwerer Beruf. Außerdem hat er gar kein Interesse. Den schönen Stabilbaukasten, den du ihm geschenkt hast, denkst du, da guckt er einmal rein?"

Es ist jetzt fast still. Man hört nur das trockene Klopfen der Pferdehufe und die Vögel im Gezweig über der Bank.

Die Mutter seufzt. Sie hebt die Füße etwas von der Erde auf, streckt sie von sich und betrachtet sie. Sie sind dick, fleckig und rot. Unter dem Perlonstrumpf läuft aus einem Riß am Schienbein ein dünner Faden Wasser.

"Mußt du wirklich schon um sieben fahren?" fragt die Mutter.

"Es geht nicht anders. Ich fahr nicht gern im Dunklen."

"Dann erzähl doch noch ein bißchen von dir. Hast du nicht manchmal Sehnsucht nach zu Hause?"

"Ach, weißt du, Mama, ich weiß gar nicht mehr, wie es bei euch aussieht ... Aber deswegen brauchst du doch nicht zu weinen. Wenn ihr Rentner seid, kommt ihr nach Lübeck und bleibt bei uns. Wir werden viel reisen, wir zeigen euch alles."

Die Mutter schüttelt den Kopf. "Erst mal muß der Junge fertig werden.. Wer weiß, wenn er noch studiert. . ."

"Pferde haben die, alles, was recht ist." Der Vater läßt den Jungen aufstehen und setzt sich neben die Mutter.

"Ah, tut das gut ... Die herrliche Luft! Und die Ruhe."

Die Atemzüge des Vaters beginnen gleichmäßig zu werden. Die Tochter zündet sich eine Zigarette an. Der Kopf des Vaters sinkt auf die Schulter der Mutter.

"Wir können eigentlich jetzt Kaffee trinken", sagt die Schwester.

Sie gehen zusammen den Nebenweg vor, bis er in die Hauptallee mündet, schlendern am Raubtierfreigehege, der Affeninsel und dem Vogelhaus vorbei, ohne ein Café zu finden. Dann kommen sie wieder in freieres Gelände, zu den Hirschen, Pferden, Lamas, Zebras.

"Wie wär es denn mit der Gaststätte von vorhin?" sagt der Vater. "Da standen doch auch Stühle draußen."

"Ich geh aber nicht mit", sagt da der Junge und bleibt stehen. Er bleibt einfach stehen, dreht sich langsam um und läuft davon. Er ruft zurück: "Ich warte am Vogelhaus."


4

Er hört das Schreien der Mutter. Aber es kann ihm nichts anhaben. Er beschleunigt sein Tempo, rennt über die Grünanlagen, überspringt Einfassungen, verfällt erst in Schritt, als er bei den Eisbären ankommt.

Der Junge drängt sich, noch heftig atmend, durch die Menschenmenge bis vor zu der Mauer. Er findet nichts Besonderes dabei, so als ob es das Alltägliche wäre und nicht eines der zehn Verbote.

Also hier war es, denkt er. Genau wie in Leipzig, das gleiche Schutzgitter, die gleichen spitzen Eisenstangen, die gleichen Betonfelsen, das Wasser genauso trüb und an seiner Oberfläche treibend ein paar auseinandergeklappte Butterbrote, Reste von Fischen und die Eisbären genauso verspielt, so lächelnd harmlos.

Hier hat also der Mann seiner Nichte gestattet, sich auf die Mauer zu stellen. Hier hat er sie beim Rocksaum gefaßt. Hier ist der Stoff aus seiner Hand geglitten, vielleicht war er zu glatt, Seide, vielleicht hatte er nicht richtig zugefaßt. Hier fiel das Kind ins Wasser, und die Eisbären sprangen von ihren Betonfelsen und zerfleischten das Kind vor den Augen des Mannes.

Der Mann soll sich dann das Leben genommen haben, man kann sich das gut vorstellen.

Das war vor dem Kriege, und das war der Grund, warum der Junge nie bis an die Mauer eines Eisbärenbassins durfte.

Jetzt steht er dort, den Bauch an die Mauer gepreßt, den Oberkörper vorgebeugt. Er öffnet die schwarze Kunstledertasche des Fotoapparates, dreht an dem Knopf, bis in dem Auge auf der Rückseite des Apparates die rote Farbe verschwindet, bis die Hände mit den ausgestreckten Zeigefingern vorüberziehen, bis auch die Doppelpunkte verschwinden und zögernd die erste Zahl auftaucht: 1.

Er sieht in den Sucher, der alles verkleinert und zu einem Quadrat zusammenpreßt.

Er tritt ein paar Schritte zurück, um den Bären, der sich hoch aufrichtet, ins Bild zu bekommen.

Der Junge muß lächeln, so klein und ungefährlich sieht der Eisbär aus.

Er fotografiert die Eisbären in allen Stellungen: am Rande eines Felsens auf allen vieren sich hin und her wiegend, sitzend auf den Hinterpfoten und mit den Vorderpfoten um Futter bettelnd, fischfressend, schwimmend im Wasser. Er schiebt sich an der Mauer entlang, geht in die Knie, beugt sich zur Seite, reckt sich auf die Zehenspitzen.

Als sein Blick auf die Rückseite des Apparates fällt, sieht er, daß ihm nur noch zwei Bilder bleiben. Gleichzeitig erinnert er sich an seine Mutter. Er sieht ihr Bild vor sich, klein, kleiner noch als die Eisbären im Quadrat des Bildsuchers.

Ohne zu zögern, dreht er weiter, richtet seinen Apparat auf einen Eisbären, hat ihn im Bildausschnitt, drückt auf den Knopf, dreht weiter, drückt wieder drauf. Einfach nur so. Dann drängt er sich durch die Menschenmenge, tritt in den Schatten eines Eisstandes, dreht den Film bis zum Ende, nimmt ihn heraus und steckt ihn in die Jackentasche. Heute wird es kein Familienfoto geben. Heute nicht.

Dann geht er in das VogeIhaus. Er hat die feuchte heiße Luft gern; das Gekreisch, Gezeter und Gepfeif der Vögel, das überwältigende Grün. Er schließt für einen Moment die Augen; das Grün flutet weiter. Er ist am Amazonas.

Er geht weiter. Zu den Krokodilen, Echsen, Riesenschlangen. Jedes Schild an den Käfigen und Terrarien studiert er: die deutschen Namen der Tiere, die lateinischen, die Landkarten und Abbildungen. Alles andere verschwindet; nur er selbst ist noch da, deutlich und allein, und diese schwere, fremde Luft, die sich um ihn legt, und die Gerüche und Geräusche der Tiere und ihre bizarren Formen.

Dann spürt er, wie die Hand seiner Mutter sich um seinen linken Oberarm schließt. Sehr viel Zeit muß vergangen sein.

Langsam dreht sich der Junge um und sieht ihr ins Gesicht. Das ist rot, sie atrnet schwer. An ihren Augen sieht er, daß sie geweint hat. Aber merkwürdig, ihn berührt das nicht.


5

Draußen sitzt der Vater kreidebleich auf einer Bank. Die Sonne ist hinter den Bäumen verschwunden, es hat sich abgekühlt.

"Wollen wir nun noch ein Foto machen oder nicht?" fragt die Schwester mit deutlicher Ungeduld.

Der Vater richtet sich auf. "Natürlich machen wir ein Foto."

"Am besten vorn beim Ausgang, wo das Denkmal mit den Löwen steht", sagt die Schwester und läuft los.

Die Mutter folgt mit schmerzhaft verzogenem Gesicht, auf schweren Beinen, dann kommt der Vater, bleich, mit geöffnetem Mund, dann der Junge.

Die fünf Bronzelöwen stehen auf ihren Bronzefelsen und sehen in die Ferne. Es sind noch deutlich Raubtiere, aber ihr Wild lebt hinter den Bäumen, hinter den Gittern am Ausgang, auch hinter den Mietshäusern, hinter der Stadt.

"Zuerst knipst du", sagt die Mutter zu dem Jungen, "und Inge kommt mit auf das Foto, und dann knipst Inge mal uns drei."

Die Schwester drückt die Zigarette aus und stellt sich unter den obersten Bronzelöwen; an ihrer linken Seite, etwas dahinter, die Mutter, rechts der Vater.

Der Junge sieht durch den Sucher, geht so weit rückwärts, bis alle fünf Löwen im Bildausschnitt erscheinen, immer kleiner wird die Familie, aber immer deutlicher ihre Gesichter, so deutlich, wie er sie noch nie gesehen hat: plötzlich sieht die Schwester alt aus, entblößt schlechte Zähne, daneben das Gesicht der Mutter ist rot, verweint, mit einer steilen Falte zwischen den Augen, in denen jetzt nichts mehr steht als unsägliche Traurigkeit, der Vater lehnt an dem Felsen, bleich, lächelnd. Sein Kopf ist so groß wie die Tatze des Löwen über ihm. Der Junge kann sich nicht von diesem Gesicht lösen. So deutlich steht die Krankheit darin und so deutlich eine Güte, von der er bisher nichts wußte. Ihn überkommt Furcht, der Vater könne sterben, ganz schnell, ohne daß irgend jemand etwas dagegen tun kann. Der Junge schämt sich. Er wird verhindern, daß es dieses letzte Foto gibt, mit diesem Lächeln des Vaters.

"Was ist denn?" ruft die Mutter. Sie kann kaum noch stehen. Er drückt auf den Knopf.

"So, jetzt Inge", sagt die Mutter.

"Du brauchst nur drauf zu drücken", sagt der Junge.

Zum ersten Mal versucht er, ihr in die Augen zu schauen, aber sie ist schon längst nicht mehr da, irgendwo auf der Landstraße zwischen Lauenburg und Lübeck.

"Du kannst dich ja auf den Löwen ganz oben setzen", sagt die Mutter.

Er gehorcht. Auf allen vieren klettert er über die von der Sonne erhitzten, teils mit Grünspan überzogenen, teils blankgewetzten Felsen, Tatzen, Köpfe, schwingt sich auf den Rücken des obersten Löwen, hält die Hände auf die Mähne, sieht unten die Köpfe der eingehakt bitter sich anlächelnden Eltern, sieht das Gesicht der Schwester, die in die Kamera starrt; er lächelt.

6

"Hier ist es doch?" fragt die Schwester.

"Ich weiß nicht", sagt die Mutter.

"Da steht es doch", sagt der Junge, "Ostbahnhof."

Die Schwester hält auf dem Bahnhofsvorplatz. Sie fragt: "Soll ich mal nachsehen, wann ein Zug fährt?"

"Nein, nein", sagt die Mutter. Sie quält sich aus dem Auto, richtet sich auf, die Hüften mit den Händen stützend.

Der Platz ist größer als der an der Friedrichstraße; er ist leer, die Sonne rasiert weit hinten die Dächer.

"Es wird sicher bald ein Zug fahren", sagt die Schwester.

Ja, natürlich."

"Ich hab euch die Geschenke noch nicht gegeben."

Die Schwester holt von der Ablage hinter dem Rücksitz die Geschenke hervor: für den Jungen ein Paar Niethosen, für die Mutter Kleiderstoff, Zigarren für den Vater.

Die Mutter gibt ihr das Kaffeeservice und den Schinken.

Alle bedanken sich.

"Aber das nehmt ihr auch noch mit", sagt die Schwester und öffnet den Kofferraum.

Der Junge und die Mutter schleppen die Plastetüten mit Bananen, Apfelsinen, Schokolade, Kaffee, Kakao, Waschpulver zu einer Bank und stellen sie ab. Der Vater setzt sich daneben.

"Das war doch nicht nötig", sagt die Mutter, als sie fertig sind und keiner weiß, was noch zu sagen ist.

Ja, beim nädisten Mal wird Heinz mitkommen, und dann wird es auch etwas länger", sagt die Schwester.

Ja, das wär schön", sagt die Mutter. "Also noch einmal vielen Dank."

"Aber da gibt es doch nichts zu danken."

"Also. . ."

Der Vater steht von der Bank auf. Sie umarmen sich. Die Mutter weint. Die Schwester geht zum Auto zurück.

"Grüß Heinz. Und warte nicht so lange mit dem Schreiben", sagt die Mutter.

"Kommt gut nach Hause", sagt die Schwester. Sie winkt aus dem offenen Autofenster und fährt ab.

"Sieh doch einmal nach, wann ein Zug fährt", sagt die Mutter zu dem Jungen.

Ihr Gesicht ist leer.

"Du kannst dich ruhig ein bißchen lang legen“, sagt sie zu ihrem Mann.

Sie stellt die Taschen und Plastetüten neben die Bank, bis auf eine, die schiebt sie an den Rand und legt ihren rechten Arm darauf. Der Vater nimmt die Beine nach oben, legt seinen kahlen, fast bis zum Scheitel geschorenen Kopf auf ihren Schoß. Er dreht den Kopf etwas zur Seite und sieht verwundert, daß die Sonne noch immer untergeht, rot, über Dächern, Schornsteinen und Antennen.

Er will etwas über seine Tochter sagen, aber er sagt es nicht.

"So war es in Poltawa", sagt er. "Genauso ein kahler Platz. Die alten zerschossenen Häuser, ein Bahnhof, pfeifende Lokomotiven. Ich lag verwundet auf der Bahre, und die Sonne ging auch unter."

Die Mutter hat aufgehört zu weinen. Ihre Finger tun etwas, was sie lange nicht getan haben: sie streichen über die dünnen kurzen Löckchen auf dem Kopf des Mannes.

"Da kommt der Junge", sagt sie.

Er sieht von weitem dieses seltsame Paar, das seine Eltern sind. Er empfindet keine Scham. Sie tun ihm leid.

"21.56 Uhr", sagt der Junge.

Die Mutter nickt.

Die Sonne verschwindet, es wird kühler.

"Ich geh solange ein Stück", sagt der Junge.

1974


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