glossen: rezensionen
  Die deutsche Vereinigung im Spiegel der Literatur -- Zu Thomas Brussig: Helden wie wir; Ingo Schulze Simple Storys: Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz; Friedrich Christian Delius: Die Birnen von Ribbeck; Freya Klier: Penetrante Verwandte: Kommentare, Aufsätze und Essays in Zeiten deutscher Einheit; Daniela Dahn: Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten: Vom Kampf um Häuser und Wohnungen in den neuen Bundesländern; Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit; Vertreibung ins Paradies: Unzeitgemäße Texte zur Zeit .

Ja, es ist wahr. Ich war's. Ich habe die Berliner Mauer umgeschmissen.
Ich werde ihnen erzählen, wie es dazu kam. Die Welt hat ein Recht auf
meine Geschichte, zumal sie einen Sinn ergibt.
(Thomas Brussig, Helden wie wir)


Der Fall der Berliner Mauer, fast 10 Jahre danach, immer noch ein Thema? Ja, ja, ja. Wenn es auch weniger die Ereignisse des November 1989 selber sind, die umstritten sind -- Klaus Uhltzscht nichts desto trotz -- so ist es doch der darauf folgende Vereinigungsprozeß. Die Trennungslinien verlaufen scharf und unnachgiebig, nicht nur zwischen Ost und West, was vielleicht noch zu erwarten wäre, sondern auch zwischen Ost und Ost. Hauptstreitpunkte sind die Art des Umgangs mit der DDR-Vergangenheit, einschließlich und ganz besonders die Stasi-Bespitzelung, und die nicht zufällig damit zusammenhängende Frage, ob und wie weit die Vereinigung ein Ausverkauf der DDR war.

Auffällig ist, daß viele der Bücher, die sich mit der DDR-Vergangenheit oder den sich aus der Vereinigung ergebenden Problemen beschäftigen, auf den Bestsellerlisten landen. Dies gilt sowohl für literarische Werke wie auch für Essay-Bände. Thomas Brussigs Helden wie wir ist Anfang September 1995 erschienen, im Oktober war bereits die zweite Auflage fällig, und drei Jahre später verkauft sich das Buch immer noch ausgesprochen gut. Der Erfolg des Buchs zeigt sich auch in seinen anderen Ausprägungen: Als Theaterstück umgearbeitet wurde es als Ein-Mann-Stück am Bremer Theater sowie am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt; es gibt eine englische Übersetzung, was für deutsche Literatur leider eher die Ausnahme als die Regel ist; Brussig kann sich vor Einladungen, aus seinem Roman zu lesen, kaum wehren -- was wohl auch mit seiner expressiven und unterhaltsamen Vortragsweise zu tun hat; und, wie kann es anders sein im späten 20. Jahrhundert, Brussig arbeitet zur Zeit das Buch in ein Drehbuch um, für einen Film, der im November 1999, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, erscheinen soll.

Ist Helden wie wir also eine Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit? Nein, und ja. Der ausgesprochen witzige Roman basiert auf den Erlebnissen der Hauptfigur, einem jungen Mann mit dem unaussprechlichen Namen Klaus Uhltzscht, der davon überzeugt ist, daß er mit seinem erigierten Penis (!) die Mauer zum Einsturz gebracht hat. In Bezug auf diesen Handlungsstrang ist das Buch eine köstliche Parodie männlicher Sexualität und -- damit zusammenhängend? -- männlichen Größenwahns. Dies ist jedoch nur ein Aspekt des Romans. Er ist auch eine ironische Darstellung des DDR-Alltags inklusive Stasi, FDJ, Pionierferienlager etc. Die Machtstrukturen in der DDR werden verlacht und parodiert -- was angesichts des unbestreitbar großen Unheils, das durch die Stasi angerichtet wurde, einige Diskussionen ausgelöst hat. Ist es angebracht zu lachen, wenn so vielen Menschen Leid zugefügt wurde? Darf man das, kann man das? Ist das Verlachen ein Ersatz für das Aufarbeiten der Vergangenheit?

Wolf Biermanns Urteil über diesen "geistreichen Schelmenroman" ist erstaunlich positiv: "wenig Wahrheiten, viel Wahrhaftigkeit und noch mehr Witz." Er gibt zu, daß ihn die starke Verharmlosung der Staatssicherheit "eigentlich ärgern" sollte -- und trotzdem empfiehlt er das Brussigs eigenen Aussagen zufolge "schwer schwanzlastige" Buch uneingeschränkt. Der Grund hierfür ist meiner Meinung nach die befreiende Wirkung des Lachens und Verlachens. Brussigs übermütiger Schelmenroman trifft den Nerv der Zeit derer, die genug haben von der Darstellung der DDR-Bürger als Opfer: erst als Opfer der Staatssicherheit und dann als Opfer des Westens. Das Buch ist eine, wenn auch komisch-satirische, Aufarbeitung des realsozialistischen Alltags -- und Brussig zufolge dient eine Dämonisierung der Stasi oft als Entschuldigung fürs Nichtstun, für Feigheit.

Drei Jahre nach Erscheinen der Helden ist es ein weiteres Ost-Buch, das hochgelobt viele Monate auf den Bestsellerlisten verbringt -- eines der wenigen deutschen Produkte inmitten der internationalen Bestseller von John Grisham, Ken Follett et altri: Ingo Schulzes Simple Storys: Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. 29 auf den ersten Blick miteinander unverbundene, unzusammenhängende, in sich abgeschlossene Geschichten ergeben ein Stimmungsbild des Ostens nach dem Fall der Mauer. Scheinbar alltägliche, scheinbar einfache Geschichten werden hier erzählt -- vom arbeiten und reisen, von der Liebe und kaltgewordenen Beziehungen, von erlittenen und anderen zugefügten Verletzungen. Erst im Laufe des Buches werden die Beziehungen zwischen den Protagonisten der verschiedenen Geschichten offensichtlich, eine Geschichte erhellt das Verständnis einer anderen, ohne direkt auf das Geschehen Einfluß zu nehmen. Diese Collage der Beziehungen und Ereignisse ist meiner Ansicht nach aussagekräftiger und näher an der Realität als es ein großer Roman sein könnte; vielleicht ist es kein Wunder daß der große Wenderoman, auf den alle gewartet haben, noch nicht erschienen ist.

Eine frühe, aber noch immer aufschlußreiche Erzählung, die sich mit den Ereignissen direkt nach dem Fall der Mauer befaßt, ist Friedrich Christian Delius' Die Birnen von Ribbeck. Theodor Fontane hat das Dorf Ribbeck bekannt gemacht, durch sein Gedicht über die Birnen des "Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland." Im März 1990, kurz nach dem Fall der Mauer, kommen die Westler und planen eine Feier, eine Feier zu Ehren Fontanes, eine Feier die gleichzeitig eine Zelebration der Wiederannäherung von Ost und West ist. Die Westler organisieren alles, das Bier fließt, ein Birnbaum wird gepflanzt, obwohl es schon einen von den Ostlern gepflanzten Birnbaum gibt, es gibt einen Streit über die historisch genaue Stelle des Birnbaums und, ironisch-symbolisch übertragbar auf den gesamten Vereinigungsprozeß, zumindest aus Sicht vieler Ostler: Der West-Baum sieht zwar ästhetisch gut aus, aber die Birnen schmecken nichts, beim Ost-Baum ist es genau umgekehrt.

Delius' Erzählung basiert auf den Erinnerungen eines Bauern im besonderen und anderer Dorfbewohner im allgemeinen; er ist der Geschichte eigenen Aussagen zufolge durch Zufall auf die Spur gekommen, bei einem Sonntagsausflug in die Umgebung Berlins hat er diesen Bauern getroffen, der "gar nicht mehr aufgehört hat zu erzählen." Diesem Entstehungshintergrund entspricht die Erzählform des Buchs: Die Birnen von Ribbeck ist ein Sprachvulkan ohne Punkt und Komma; dies entspricht einerseits der Art, wie Leute erzählen, andererseits ist es sinnbildlich für die Zeit direkt nach dem Fall der Mauer, eine Zeit in der es täglich neue Entdeckungen gab, eine Zeit ohne Stillstand. Der Erzähler ist teils ein Individuum, der Bauer Manfred Klawinter, und teils das kollektive Ich des Dorfes -- wobei es des öfteren nicht ganz klar ist wer spricht. Auch zeitlich ist es manchmal nicht klar, ob etwas vor drei Tagen oder vor 30 Jahren passiert ist -- diese Anti-Chronologie, die so typisch fürs mündliche Erzählen, für Erinnerungen ist, wird von Delius geschickt übernommen und wiedergegeben.

Erzählt werden drei Geschichten: die der Feier und der Ereignisse in der Gegenwart, geprägt durch den Einmarsch des Kapitalismus westdeutscher Prägung, die der Situation zu Zeiten der DDR, als der ehemals feudale Bauernhof in eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft umgewandelt wurde, und letztlich die Situation zu Zeiten Fontanes, geprägt durch eine totale Abhängigkeit der Bauern von den Launen des feudalistischen Großgrundbesitzers. Diese Gegenüberstellung der drei Zeitebenen ist sehr interessant und aufschlußreich. Es gibt keine klare Wertung, die Vor- und Nachteile aller Zeiten werden erinnert und dargestellt. Dies spiegelt die Einstellung vieler Dorfbewohner, deren Stimmungslage zwischen Erleichterung und Skepsis schwankt: Erleichterung über das Ende der zu DDR-Zeiten üblichen Repressionen und Einschränkungen, aber auch Skepsis in Hinblick auf die Zukunft und Angst, vom Westen überrannt und vereinnahmt zu werden. Die ungeschönte Darstellung dieser Widersprüche und der ironische Blick auf Ost und West sind meiner Ansicht nach die Stärken des Buchs. Ein Problem sehe ich darin, daß Delius als Westler sich "anmaßt" eine Ost-Geschichte zu erzählen. Delius' Antwort auf diese Kritik war ein einfaches, aber überzeugendes "einer mußte das schreiben." Und trotz meiner Vorbehalte in Bezug auf das Sprechen für jemand anderen stimme ich ihm zu: diese Erzählung ist so interessant und aufschlußreich, und auch so gut geschrieben, daß ich sie uneingeschränkt empfehlen kann.

Die interessantesten und meistdiskutierten Essayisten der deutschen (Sch)Einheit sind Freya Klier und Daniela Dahn. Beide sind nicht nur Chronistinnen des politischen Geschehens, sondern auch aktive Partizipantinnen. Freya Klier, 1950 in Dresden geboren, ist von Beruf her ursprünglich Schauspielerin. 1984 erhielt sie den DDR-Regiepreis für die Uraufführung von Plenzdorfs Legende vom Glück ohne Ende. Ein Jahr später, in einer für die DDR typischen 180 Grad-Wendung, folgte das Berufsverbot und die Überwachung durch die Stasi. Die zunehmende Verfolgung durch staatliche Stellen eskalierte in ihrer Verhaftung 1988, der Beschlagnahme ihrer Manuskripte -- sie hatte sich nach ihrem Berufsverbot ersten Prosaarbeiten zugewandt, unter anderem über das Erziehungswesen in der DDR, und ihrer unfreiwilligen Ausbürgerung nach West-Berlin. Klier, von manchen eher abwertend als "Moraltante der Nation" bezeichnet, plädiert für eine schonungslose Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Ihre persönliche Geschichte, ihre Verfolgung und Drangsalierung durch das DDR-Regime, spielen dabei sicherlich eine große Rolle. Ich denke jedoch, daß dies nicht der einzige motivierende Faktor ist. Dies zeigt sich unter anderem darin, daß Klier sich nicht nur der unmittelbaren Vergangenheit zuwendet. Sie hat auch großes Interesse an einer Aufarbeitung des Faschismus. Ihr 1994 erschienenes Buch Die Kaninchen von Ravensbrück: Medizinische Versuche an Frauen in der NS-Zeit gibt Biographien der Opfer und Täter. In Verschleppt ans Ende der Welt: Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern wendet sie sich einem Thema zu, daß in der DDR tabu war. Daß deutsche Zivilisten die Kriegsschuld in Sibirien abarbeiten mußten, unter solch harten Bedingungen, daß ein Drittel von ihnen starb, das wurde von den Sowjets bis 1989 geleugnet. Verschleppt ans Ende der Welt erschien 1993 als Dokumentarfilm und 1996 als Buch bei Ullstein. Weitere Filme von Klier beschäftigen sich mit jüdischen Frauen: Johanna, eine Dresdner Ballade (1996) ist ein Dokumentarfilm über eine Dresdner Jüdin, der dann unter dem reißerischen Titel "Liebe, Leid und Lügen" -- eine Umbenennung, über die sich Klier sehr geärgert hat -- im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Ihr neuster Film, für den Hessischen Rundfunk, ist Die Odyssee der Anja Lundholm (1998). Dieser Dokumentarfilm über die bekannte Schriftstellerin, eine Halbjüdin, die die Nazi-Zeit im italienischen Widerstand verbracht hat, erzählt die schockierende Geschichte einer Frau, deren arischer Vater ihre jüdische Mutter (seine Frau) umgebracht hat, und der dann später seine eigene Tochter verraten hat -- was ihre Internierung in Ravensbrück und spätere, durch die Lagerhaft verursachte, Multiple Sklerose zur Folge hatte. Auch dieser Film wurde vom Hessischen Rundfunk umbenannt und unter dem Titel Vom Vater verraten ausgestrahlt.

Der Essayband, in dem sie sich am direktesten der DDR-Vergangenheit und den Zuständen nach der Vereinigung zuwendet, ist das 1996 bei Ullstein erschienene Buch Penetrante Verwandte: Kommentare, Aufsätze und Essays in Zeiten deutscher Einheit. In diesem Buch beschäftigt sie sich unter anderem mit dem schockierenden Phänomen des nach dem Fall der Mauer so sehr erstarkten Rechtsradikalismus. Sie analysiert, warum das "Verständnis" für rechtsradikale Tendenzen stärker bei den unter 30jährigen ist, und sie stellt die Frage, warum, statistisch gesehen, die Zahl der rechtsradikalen und/oder rassistisch bedingten Überfälle in den neuen Bundesländern doppelt so hoch ist wie in den alten. Das Bild ihrer Landsleute, das dabei entsteht, ist nicht sehr schmeichelhaft. Klier diagnostiziert eine Blockwartmentalität, deren Grund ihrer Ansicht nach in dem relativ nahtlosen Übergang vom Faschismus in den Stalinismus liegt. Sie macht die fehlende Aufarbeitung des Faschismus in der DDR -- die DDR war offiziell ein antifaschistisches Land, also gab es keinen Grund für eine persönliche Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung -- für die rechtsradikalen Probleme heute mitverantwortlich. Obwohl es, wie gesagt, zum größten Teil nicht ein Problem der alten Nazis, sondern eines der Jugend ist, hat dies eine Atmosphäre geschaffen, in der rechtsradikales Gedankengut gedeihen kann. Diese Art des (Nicht-)Umgangs mit der Vergangenheit wiederholt sich ihrer Meinung nach heute: Bei ihren zahlreichen Lesungen in Schulen stellt sie wiederholt fest, daß viele Schüler nur ein sehr geringes Wissen über die DDR haben und/oder die Vergangenheit verklären. Gegen dieses Unwissen anzukämpfen sieht Klier, eine äußerst engagierte, beeindruckende und auch emotionale Frau, als ihren politischen Auftrag. Ihre persönliche Losung, die sich auch ganz groß auf ihrer Web-Seite findet, lautet nicht umsonst "Vergangenheit erinnern statt abhaken!"

Daniela Dahn, die im Herbst 1989 zu den Gründern des Demokratischen Aufbruchs gehörte, beschäftigt sich weniger mit den Zuständen zu DDR-Zeiten und mehr mit der Situation nach der Vereinigung. Ihre These, kurz und prägnant, ist die folgende: Die Einheit ist vorerst gescheitert. Vor allem im wirtschaftlichen, aber auch im kulturellen und sozialen Bereich gibt es riesige Differenzen zwischen Ost und West. Ein Grund hierfür ist ihrer Ansicht nach der zu schnelle Vereinigungsprozeß. Sie kritisiert, daß es bei den Staatsverträgen nur möglich war, ja oder nein zu stimmen. Keine Veränderungen waren erlaubt. Der Grund für diese künstliche Beschleunigung des Vereinigungsprozesses war die Angleichung der Vermögensverhältnisse. Die Diskrepanz zwischen den hochgeschraubten Erwartungen, den versprochenen "blühenden Landschaften" und der eingetretenen Wirklichkeit, kann natürlich nur Frustration zur Folge habe. Eine Frustration, die Dahn, deren Hoffnung der sogenannte dritte Weg war (bürgerlich-freiheitliche Menschenrechte plus ein egalitärer Sozialstaat, inklusive Recht auf Arbeit, Wohnung und Bildung -- eine schöne Utopie, deren konkrete Umsetzungsmöglichkeiten ich allerdings bezweifle), sich erst mal "ausschreiben" will.
Dahn ist im Moment die Wortführerin für die "Rechte des Ostens." Sie ist sehr produktiv, und schon ihre Buchtitel zeigen ihr Programm: Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten: Vom Kampf um Häuser und Wohnungen in den neuen Bundesländern (1994) beschäftigt sich mit der Entstehung der Vermögensregelungen und ihren katastrophalen Folgen. Wie auch ihr nächstes Buch Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit (1996) stand es monatelang auf den Bestsellerlisten ganz oben. Beide Bücher waren Auftragsarbeiten für den Rowohlt Verlag -- was sich Dahn zufolge eher zufällig ergeben hat, als sie 1993 anläßlich eines Treffens ost- und westdeutscher Autoren beim Essen neben dem Leiter des Rowohlt Verlags zu sitzen kam. Da ihre ersten beiden Bücher so erfolgreich waren, ist es kein Wunder, daß sich auch ihr neustes Buch, wie seine Vorgänger bei Rowohlt erschienen, wieder ausgesprochen gut verkauft: Vertreibung ins Paradies: Unzeitgemäße Texte zur Zeit (1998).

Dahn trifft das Lebensgefühl vieler Ostdeutscher: die Frustration darüber, bei der Vereinigung zu kurz gekommen zu sein. Sie kritisiert die von vielen als Ungerechtigkeiten empfundenen Diskrepanzen in Personalentscheidungen, Straf- und Rentenrecht: zum Beispiel die Tatsache, daß sogenannte mittlere Delikte im Osten erst nach zehn Jahren verjähren, im Westen schon nach fünf Jahren. Als Folge dieser Regelung, die durch die Einstufung der Endphase der DDR als "historische Ausnahmesituation" entstanden ist, sind zum Beispiel Treuhandverbrechen schon verjährt, aber nicht die kurz vor der Vereinigung begangenen Verbrechen. Andere von Dahn angeführte Ungerechtigkeiten sind die Tatsache, daß zweifelhafte Leistungen in der Nazi-Zeit anerkannt werden für Rentenberechnungen, aber nicht so die von zum Beispiel Stasi-Mitarbeitern in der DDR-Zeit. Auf der Personalebene wurden viele Polizeichefs und sonstige Eliten nach 1945 im Westen übernommen; heute werden den Eliten der DDR gegenüber völlig andere Maßstäbe angelegt. Die Frage, die sich mir natürlich sofort aufdrängt (aber vielleicht zeigt das auch nur meine Voreingenommenheit als Westdeutsche): Kann man ein Unrecht durch ein anderes wiedergutmachen? Oder, anders ausgedrückt: Soll man Unrecht der Fairneß halber beibehalten und weiterführen?

Trotz dieser Kritik bleibt festzuhalten: Der von Dahn geäußerte Osttrotz gegen die neue Herrschaft, ein Trotz der manchmal fast als (N)Ostalgie erscheint, trifft das Lebensgefühl vieler Ostdeutschen haargenau. Er zeigt sich in Meinungsumfragen, in denen sich viele Ostdeutsche als Bundesbürger zweiter Klasse sehen, er zeigt sich im Konsumverhalten -- viele ostdeutsche Marken haben ein erstaunliches Comeback erlebt, und er zeigt sich auch in Wahlergebnissen: Bei der Bundestagswahl 1998 hat die PDS bemerkenswert gut abgeschnitten. Auch meine persönlichen Eindrücke im Sommer 1998 bestätigen, daß die Unzufriedenheit vieler Ostdeutschen wächst und die Ressentiments eher größer als kleiner werden. Die Frage, ob 1989 das Ende einer Tyrannei oder der Beginn der Kolonialisierung des Ostens war, wird, wie man sieht, also auch fast zehn Jahre nach dem Fall der Mauer noch heiß diskutiert. Ich war erstaunt zu sehen, wie sehr das Thema Ost-West doch noch die literarische Szene beherrscht -- sowohl in der erzählenden Literatur wie auch in der Essayistik. Der Hauptspalt scheint zwischen denen zu sein, die, auch bedingt durch ihre persönliche Biographie, eine sehr negative Haltung der ehemaligen DDR gegenüber haben, die sagen, es sind viele Verbrechen begangen worden, die aufgeklärt und aufgearbeitet werden müssen, und denen, deren Hauptkritikpunkt nicht die DDR-Vergangenheit, sondern die Kolonisation des Ostens durch den Westen und die damit einhergehende Abwertung und Negation der "Osterfahrung" ist. Vielleicht wichtigste Vertreterin der ersten Position ist Freya Klier, der zweiten Daniela Dahn. In der erzählenden Literatur stellt sich die Frage nach dem Umgang mit den DDR-Erfahrungen bedingt durch das Genre weniger direkt, aber doch nicht minder pointiert. Brussig, Delius und Schulze beleuchten verschiedene Aspekte der Osterfahrung: das Leben in der DDR bis zum Fall der Mauer (Brussig), die Ereignisse kurz nach der Maueröffnung, inklusive der oft problembeladenen, von Mißverständnissen geplagten Interaktion Ost-West (Delius) und das alltägliche Leben in einer ostthüringischen Kleinstadt nach dem Fall der Mauer (Schulze). Brussig benutzt Humor, um die von Klier kritisierten Gesellschafts- und Machtstrukturen der DDR bloßzustellen und zu verlachen -- ein zugegebenermaßen gewagtes, aber meiner Meinung nach gelungenes Verfahren. Delius zeigt den Beginn der von Dahn kritisierten Kolonialisierung des Ostens durch den Westen, ist aber etwas ausgewogener in seiner Darstellung, indem er seine Kritik nicht nur auf die Ereignisse nach dem Fall der Mauer beschränkt. Schulze schließlich zeigt die Auswirkungen der gesellschaftlichen Strukturen vor und nach der Maueröffnung auf das Leben ganz normaler Leute heute. Festzuhalten bleibt: Die Diskussionen um die deutsch-deutsche Vereinigung sind noch nicht abgeschlossen, und alle hier besprochenen Werke leisten einen ausgezeichneten Beitrag zum besseren Verständnis der momentanen Situation.


Verzeichnis der verwendeten Literatur

Biermann, Brigitte. "Einmischung aus Prinzip: Die Berliner Autorin Daniela Dahn auf Lesereise." Die Zeit 23 (6. Juni 1997).

Biermann, Wolf. "Wenig Wahrheiten und viel Witz." Der Spiegel 5 (29. Januar 1996) 186-187.

Broder, Henryk M. "Wir lieben die Heimat." Der Spiegel 27 (3. Juli 1995) 54-64.

Brussig, Thomas. Helden wie wir. Berlin: Volk und Welt, 1995.

Dahn, Daniela. Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten: Vom Kampf um Häuser und Wohnungen in den neuen Bundesländern. Reinbek: Rowohlt, 1994.
---. Westwärts und nicht vergessen: Vom Unbehagen in der Einheit. Berlin: Rowohlt, 1996.
---. Vertreibung ins Paradies: Unzeitgemäße Texte zur Zeit. Reinbek: Rowohlt, 1998.

Delius, Friedrich Christian. Die Birnen von Ribbeck. Reinbek: Rowohlt, 1991.

Klier, Freya. Lüg Vaterland: Erziehung in der DDR. München: Kindler, 1990.
---. Verschleppt ans Ende der Welt: Schicksale deutscher Frauen in sowjetischen Arbeitslagern. Dokumentarfilm, 1993. Berlin: Ullstein, 1996.
---. Die Kaninchen von Ravensbrück: Medizinische Versuche an Frauen in der NS-Zeit. München: Knaur, 1994.
---. Penetrante Verwandte: Kommentare, Aufsätze und Essays in Zeiten deutscher Einheit. Frankfurt am Main: Ullstein, 1996.
---. Johanna, eine Dresdner Ballade. Dokumentarfilm, 1996.
---. Die Odyssee der Anja Lundholm. Dokumentarfilm, 1998.

Ledanff, Susanne. "Die Suche nach dem 'Wenderoman' - zu einigen Aspekten der literarischen Reaktionen auf Mauerfall und deutsche Einheit in den Jahren 1995 und 1996." glossen 2 (1997).

Schulze, Ingo. Simple Storys: Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz. Berlin: Berlin Verlag, 1998.

"Stolz aufs eigene Leben." Der Spiegel 27 (3. Juli 1995) 40-52.


Heike Henderson:
Boise State University


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