glossen: rezensionen
  Gerlind Reinshagen, Am großen Stern, Frankfurt: Suhrkamp, 1996

In ihrem neuen Roman, Am großen Stern, schmiedet Gerlind Reinshagen das heiße Eisen der Vater-Tochter-Beziehung in ihrem heikelsten Ausmaß. Die starke szenische Konstruktion des Romans beschwört eine Unmittelbarkeit, die der erzählten Geschichte sprühende Lebendigkeit verleiht. Dieses theatralische Element verwundert nicht, denn die Autorin wurde durch ihre Theaterstücke berühmt, die schon in den 70er, 80er und 90er Jahren von wichtigen Regisseuren wie z.B. Peymann inszeniert wurden (auch gibt es Verfilmungen - z.B. Sonntagskinder); ein neues Theaterstück wird im Februar 1999 in Dresden uraufgeführt. Bei ihren Romanen kommt noch eine vielschichtige und elegante Prosa hinzu.

Die anonyme Erzählerfigur steht immer knapp hinter dem Protagonisten, dem Fotografen Falk, der Künstler sein will und doch meist sein Brot durch kommerzielle Aufträge verdient. Die Geschichte trägt sich nach dem Mauerfall in Berlin zu. Die Autorin läßt Falk Orte in ’unbekannten’ Stadtteilen als postmodernes Potpourri von Geschichte und Gegenwart erleben, beobachtet ihn in seinem ungewöhnlichen Zuhause, in dem er ’kreatives Leben’ übt, und gibt dabei sein Denken, seine Gefühle direkt, ohne Kommentar und Wertung wieder. Sie malt das Bild eines deutschen Alternativen, der das mittlere Alter erreicht hat. Wohl als Widerstand gegen das Konsumverhalten im Westen ist er in ein ein heruntergekommenes Wohnhaus im früheren Ostberlin gezogen und weiß eigentlich nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll. Über seine unabhängige Geliebte, Caroline, verliert er kaum einen Gedanken, nur daß sie ihm manchmal ein bißchen fehlt, wenn z.B. etwas zu besorgen oder aufzuräumen ist. Ihre Anspruchslosigkeit und Unaufdringlichkeit schätzt er am meisten. Nur seine frühere Ehefrau Matti läßt durch Körpersprache erkennen, daß sie ihn als "versteckten Chauvi" durchschaut.

Er entpuppt sich tatsächlich als Heuchler, wobei er seine Heuchelei selbst kaum erkennt. Dies zeigt sich darin, daß er sich in allem Überdruß, in aller Weltverdrossenheit hemmungslos einer neuen Leidenschaft hingibt, an deren unheilbeschwörende Ausmaße er keine Gedanken verschwendet. Hier verwirklicht sich eine Fantasie des verunsicherten europäischen Mannes der neunziger Jahre, die von Reinshagen in ihren Tiefen, Nostalgien, Frustrationen und Wunschgedanken aufgefächert wird.

Diese Leidenschaft zielt auf das zehn- oder zwölfjährige Mädchen, Bronja, eine Waise irgendwo aus dem Russischen, die er als Ziehtochter von der Ex-Gattin Matti und ihrem Ehemann abgetreten bekommt. Seine Leidenschaft wird gereizt von dem, was seit J. J. Rousseau Männer schon immer angezogen hat: das Kindliche, Unverbildete und besonders, wie er es sieht, das Naturverbundene, das Wilde dieses weiblichen Kindes. Für ihn, den Ästheten, kommt noch ihre Schönheit dazu, die er von Anfang bis Ende gewissermaßen mystisch evoziert, und die wohl mit seiner eigenen ungelösten Mutterbindung zu tun hat. Da seine früher ähnlich schöne Mutter numehr für ihn als Ausbund der Häßlichkeit gilt und die artifizielle Erinnerung an ihre Jugend durch ein Foto keineswegs ausreicht, scheint er die verlorene Schönheit und die damit assoziierten erfüllten Bedürfnisse durch das Kind wieder leibhaftig machen zu wollen. Dabei hält er aber die weiblichen Aspekte seiner eigenen Psyche von sich ab. Er objektifiziert seine Anima, indem er sie auf Bronja projiziert. Der Animus, das männliche Prinzip herrscht.

Falk usurpiert das Mütterliche durch die virtuelle Übernahme der Geburt durch den Mann, wie sie schon ab Ende des achtzehnten Jahrhunderts in der Literatur versucht wird (z.B. wird Homunculus in Goethes Faust von Männern geschaffen). Das Leben des Mädchens fängt für ihn erst mit seinem Eingriff in ihre Existenz an. Nicht wie Pygmalion im griechischen Mythos oder Professor Higgins in My Fair Lady will Falk die Frau künstlich formen, sondern sie soll sich wild, ’natürlich’ entwickeln. Daß dieses ’Natürliche’, wie er es sieht, aber auch ein Konstrukt der Gesellschaft sein könnte, kommt ihm nicht in den Sinn.

Dadurch entsteht das Paradox, daß Falk diese schöne Wildheit erhalten aber auch besitzen und schließlich doch formen will. Das drückt sich dadurch aus, daß er Bronja im zunehmenden Maße von der Umwelt abtrennt, daß er ’normale’ Erziehungsmethoden ablehnt, sie oft nicht mehr zur Schule schickt, sondern ihr ’anderes’, von ihm selektiertes Lernen aufdringt und ihr z.B. Regale voller hauptsächlich patriarchalischer Wälzer (einschließlich einer uralten, vielbändigen, verstaubten Ausgabe von Meyers Conversations-Lexicon) zum Studium zumutet. Das abendländische Erbe soll sie ohne Einfluß in sich aufnehmen. Er schließt sie sogar ein, und die Erzählerin macht es klar, daß das Mädchen durch die Behandlung oft krank wird, wobei ihr Ausgeliefertsein wiederum des ’Vaters’ Leidenschaft, seine Besitzerfreude anstachelt.

Dieses Bronja-Mädchen wird in Situationen versetzt, in denen Falk den großen Helden und Retter spielen kann. So rettet er sie einmal in einer Sturmflut am Meer knapp vor dem Ertrinken. Unaufhörlich spricht er von ’seinem Kind,’ doch sein Tun weist immer wieder auf sein Hingezogensein zu ihr als einer ihn faszinierenden Frau hin. Sie selbst kommt kaum zu Wort. Die Zeiten des Schweigens sind ihm die liebsten, und er will absolut nicht wissen, wer dieses Kind Bronja eigentlich ist und woher sie kommt. Sie soll Folie seiner Vorstellung bleiben. Erfreut stellt er fest, daß seine künstlerischen Säfte durch die kleine Muse wieder zu fließen beginnen.

Es erstaunt nicht, daß Bronja rebelliert. Als sie das Türschloß ihrer Kammer aufbricht und schließlich weggeht, nimmt sie von all den Bücherbergen jedoch nur ein Buch mit, Sturmhöhe von Emily Brontë. Dieses Buch drückt nicht unbedingt Widerstand gegen Falks Bildungsmethode aus, da es auch ein von ihm unterschwellig gewünschtes, romantisches und bedrohliches Bild von ewig-dauernder Liebe zeichnet. Sie verläßt ihn für seinen gleichaltrigen Freund Percy, den er als konventionellen Künstler verachtet. Falk rastet aus, stürzt sich auf das Kind, schlägt zu. Die Vokabeln ’Kinderschänder’ und ’Päderast’ kommen ihm ins Bewußtsein. Doch sogar der Gedanke an Inzest schreckt ihn nicht ab, als er das vermeintliche Recht des Vaters auf seine Tochter aus sich herausschreit.
Die junge, nunmehr fünfzehn- oder siebzehnjährige Kind-Frau wurde von diesem modernen Softi dahin ’gebildet’ daß auch sie in unendlicher Liebe zu ihm, die den Tod nicht fürchtet, schwelgt. Gerade so, wie es sich ein Held nur erträumen kann. Solch eine prekäre Situation kann nach Reinshagen besonders in unseren heutigen, aufgeklärten Zeiten nicht gut gehen, obgleich wir es als Happy-end z.B. im Medienspektakel um Woody Allen und seine asiatische Ziehtocher erlebt haben. Es besteht sehr viel Ähnlichkeit mit Falk und Woody. Auch er ist Künstler und wird von einem exotischen Mädchen erregt. Das Exotische eines Bronja(=Brontë)-Mädchens entspringt alten Männerfantasien von Europäern, die schon immer -- wie z.B. bei Thomas Mann im Zauberberg oder Tod in Venedig-- nach dem asiatischen Rußland schielten, wenn es um Sexualität ging. Der heutige Sex-Tourismus in Thailand ist trauriger Auswuchs dieser Orientierung. Unter diesen Umständen kann sich die Autorin kein Happy-end vorstellen, und das Mädchen muß wohl nach dem patriarchalischen Muster der Falk-Imagination am Ende sterben, damit in der Gesellschaft inzestuöse Unmoral vermieden wird. Reinshagen zeigt, daß alte Muster im neuen Gewande weiterhin Bestand haben.

Recherchen in dem neuen Forschungsgebiet ‘Men’s Studies’ haben gefunden, daß die männliche Psyche durch die Frauenemanzipation stark angegriffen ist. Die Sozialisierung des Mannes zur Machtstellung ist geschwächt. Der amerikanische Autor Robert Bly schlägt in seinen Büchern (z.B. Iron John, A Book About Men, 1990) dringend vor, daß die Erniedrigten zu ihrem eigenen, wilden männlichen Wesen zurückfinden sollten. In den USA wird dieser Gedanke schon in Gruppen in die Tat umgesetzt; man versucht mit Trommeln im Wälderdickicht das ’ureigene Wesen’ neu zu entdecken. Die Fiktion vom ’Ursprung’ blüht.

Die in Statistiken wiedergegebene Realität sieht so aus, daß es mehr Vergewaltigungen und mehr sexuellen Mißbrauch von Kindern, besonders in der eigenen Familie gibt als je zuvor. Gerlind Reinshagen enthüllt das verwirrte Bewußtsein und die verborgenen Wünsche europäischer Männern der Mittelklasse und die Sozialisierung von Mädchen, deren Emanzipation wieder zurückgenommen wird. In ihrem außerordentlich wichtigen Roman wird der "backlash" gegen das feministische Anliegen in seinen erschreckenden Ausmaßen sichtbar.

Mit ihrer rhythmisch kontrollierten, aber unaffektierten Sprache ist Reinshagen in der Lage, vorher noch unartikulierten Grenzgebieten menschlicher Erfahrung subtile Kontouren zu geben. Sie verwirklicht in ihren Romanen, was sie als die Grundlage ihrer literarischen Schaffens sieht, dass nämlich Geschichten lebendig bleiben müssen, wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll: Naramus fabulas, ergo sumus.

Helga Kraft
University of Illinois
at Chicago


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